«Roma werden mit Fahrenden und Dieben gleichgesetzt»
Mit der Abschiebung von rund 1000 Roma durch die konservative Regierung ist Frankreich von vielen Seiten heftig kritisiert worden. Wie aber ist eigentlich die Lage dieser ethnischen Minderheit in der Schweiz? swissinfo.ch ist dieser Frage nachgegangen.
Während die Regierung keine umfassenden Zahlenangaben zu dieser Volksgruppe hat, schätzt die Roma-Stiftung in Zürich, dass die Zahl der Roma in der Schweiz zwischen 50’000 und 60’000 liegt.
Die Roma litten in der Schweiz wie in Frankreich unter einem schlechten Ruf, erklärt Cristina Kruck von der Roma-Stiftung im Gespräch mit swissinfo.ch.
«Schweizer setzen Roma meist mit Fahrenden und Dieben gleich», erklärt Kruck, die ursprünglich aus Estland kommt und in der Schweiz aufgewachsen ist. Sie arbeitete unter anderem für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK.
Entgegen dem weit verbreiteten Klischee seien die meisten Roma in der Schweiz sesshaft und gut integriert. Zum grössten Teil seien sie keine Fahrenden, hebt Kruck hervor.
Scharfe Kritik
Die Gemeinschaft der Roma in Europa zählt etwa 12 Millionen Menschen. Sie sind aber nicht die einzige solche Gemeinschaft. Neben den Roma gibt es Gitanos, Sinti, Jenische und andere mehr.
Im Verlauf der letzten Wochen hat Frankreich etwa 1000 Roma nach Rumänien und Bulgarien ausgeschafft. Offiziellen Angaben zufolge wurden im vergangenen Jahr rund 11’000 Roma abgeschoben.
Die Vereinten Nationen und Teile der internationalen Gemeinschaft haben Frankreich für dessen Politik gegenüber den Roma kritisiert.
Am Donnerstag verabschiedete das Europaparlament eine von den Sozialisten, den Liberalen, den Grünen und den Kommunisten vorgebrachte Resolution, welche Frankreich und andere EU-Staaten auffordert, die Abschiebung von Roma «unverzüglich zu stoppen».
Auch im Kabinett von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy wurde teilweise Widerspruch laut.
Verfolgung
Laut dem Schweizer Historiker Thomas Huonker, Spezialist für die Geschichte der fahrenden Gemeinschaften, sind die Roma die ärmsten unter den diversen Gemeinschaften – und als letzte nach Frankreich gekommen.
Sie stammten aus Ländern wie der Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien und zögen heute ein Leben in den Vororten von Städten wie Paris, Mailand oder Rom den Ghettos dieser osteuropäischen Länder vor.
«Denn dort sind diese Menschen, die oft in extremer Armut leben, Zielscheibe der Gewalt von Mobs, die unter dem Einfluss von Organisationen mit rassistischem, antisemitischem und gegen Fahrende gerichtetem Gedankengut stehen», sagt Huonker.
Frankreich wird wegen den Abschiebungen von verschiedenen Fraktionen im Europäischen Parlament ein ähnliches Verhalten vorgeworfen.
Der Belgier Guy Verhofstadt, der Vorsitzende der liberalen Fraktion, warnte am Dienstag vor «einer populistischen oder gar rassistischen Falle», und der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion, der Deutsche Martin Schultz, bezeichnete das Vorgehen Frankreichs als «Hexenjagd».
Auch in der Schweiz unerwünscht
Könnten Roma nach den jüngsten Abschiebungs-Aktionen aus Frankreich in der Schweiz Unterschlupf suchen? Das sei eher unwahrscheinlich, meint Huonker.
«Die Schweizer Politik gegenüber den armen Mitgliedern dieser europäischen Volksgruppen ist jener Frankreichs ziemlich ähnlich, wenn auch etwas diskreter», sagt der Historiker.
«Die Schweiz weist Bettler, Rosenverkäufer und virtuose Strassenmusiker auch aus. Am besten bekannt geworden ist ein Fall von 2009 in Genf, weil sich die betroffenen Roma damals zur Wehr setzten.»
Und Marie Avet vom Bundesamt für Migration erklärt gegenüber swissinfo.ch: «Bisher gab es keinen Anstieg von Roma, die in die Schweiz kommen. Uns sind auch keine Probleme bekannt.»
Es sei unwahrscheinlich, sagt Avet, dass die Zahl der Roma steigen werde, weil die «Zahl der Staatsangehörigen aus Rumänien und Bulgarien, die in die Schweiz kommen können, durch Quoten geregelt» sei. Die Zahl der Leute, die in der Schweiz Arbeit suchen könnten, sei also begrenzt.
«Und diese Quoten beziehen sich auf alle Bürger, unabhängig vom ethnischem Hintergrund. Und wenn sie als Touristen in die Schweiz einreisen, dürfen sie nicht arbeiten und müssen das Land nach drei Monaten wieder verlassen.»
Gut integriert
In grösserem Umfang in die Schweiz gekommen waren Roma nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten sind gut integriert, sprechen eine der Landessprachen und haben Arbeit.
Nach den ethnischen Verfolgungen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo in den 1990er-Jahren hatte eine neue Migration eingesetzt. Rund 300’000 Roma hatten vor dem Ausbruch des Kriegs im Kosovo gelebt. Heute seien es noch etwa 20’000, erklärt die Roma-Stiftung in Zürich.
Die Roma-Gemeinschaft sei sehr heterogen, erklärt Kruck. Unter den Roma gebe es beispielsweise Ärzte und Restaurantbesitzer, viele Roma seien so gut integriert, dass die Schweizer in deren Umgebung nicht einmal wüssten, dass sie hier seien.
«Die ‹Sichtbaren› sind die ärmeren, die ‹Unsichtbaren› sind jene, die sich integriert haben, es aber oft vorziehen, nicht zu sagen, dass sie Roma sind», sagt Kruck.
«In der Schweiz ist es heute besser ein ‹Jugo› zu sein als ein Roma, denn letztere haben einen schlechten Ruf.»
Die meisten Roma in der Schweiz hätten jedoch einen Schweizer Pass. Und nur ein kleiner Teil habe einen fahrenden Lebensstil, sei nicht sesshaft.
Zudem, sagt Kruck, müsse man sie von den Roma-Flüchtlingen aus dem Kosovo unterscheiden, jenen, welche die Grenze aus Frankreich überschritten und denen die Jenischen vorwürfen, dass sie auf ihr Territorium vorstiessen, sie unterschieden sich auch von den Roma aus Rumänien, die «für einen Tag oder zwei nach Genf kommen, um zu betteln und dann wieder gehen.»
Roma, Sinti, Kale, Lovara, Machvaya sind nur einige der Hunderten von Romani/Romanes sprechenden Gemeinschaften, (die Sprache hat viele Dialekte), die zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert aus dem Nordwesten Indiens kamen.
In verschiedenen Zügen kamen sie über Kleinasien nach Nordafrika und Griechenland und danach in weitere Teile Europas.
Obschon sie insgesamt als Fahrende oder abschätzig als Zigeuner bezeichnet werden, unterscheiden sich diese Gemeinschaften in Wirklichkeit nicht nur aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, sondern auch durch Sprache, Kultur und Religion jener Länder, in denen sie leben.
Fahrende wurden während Hunderten von Jahren verfolgt und diskriminiert und leben heute oft am Rande der Gesellschaft – nicht aus freiem Willen, sondern weil Vorurteile gegen sie noch immer weit verbreitet sind.
Die Fahrenden sind die grösste ethnische Minderheit in Europa, doch ist es nicht einfach, einen Überblick zu gewinnen, genaue Statistiken gibt es keine. Gewissen Schätzungen zufolge liegt ihre Zahl zwischen 15 bis 20 Millionen Menschen. Die meisten leben heute in Ost- und Zentraleuropa, rund 2 Mio. davon in Rumänien.
In der Schweiz wurden Fahrende wie im Rest Europas als Gruppe betrachtet, die sich nicht an Werte und Gesetze des Landes hielten.
1906 beschloss die Schweizer Regierung, die Grenze für Fahrende aus dem Ausland zu schliessen.
1926 startete die Organisation Pro Juventute das Programm «Kinder der Landstrasse», unterstützt von lokalen und nationalen Behörden.
Im Rahmen dieses Programms wurden Kinder von Jenischen ihren Eltern weggenommen und in Heimen oder bei Pflegeeltern untergebracht, um sie sesshaft zu machen und die fahrende Lebensweise zu zerstören.
Rund 600 Kinder waren im Zeitraum zwischen 1926 und 1972 von dieser Politik betroffen.
Die Schweizer Regierung hat sich 1986 für die Duldung und finanzielle Unterstützung dieser Politik bei den Jenischen entschuldigt.
Ungeachtet dessen, ob sie ein nomadisches Leben führten oder nicht, sind Fahrende in der Schweiz erst seit den 1970er-Jahren gesetzlich als Minderheit geschützt. Dennoch sind sie bis heute nicht ganz vor Diskriminierung gefeit.
(Quelle: Nadia Bizzini, kulturelle Mediatorin, Kanton Tessin)
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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