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Rudolf Steiner: Universalgenie? – Universal-Dilettant?

Rudolf Steiner (1861 bis 1925) hat ein immenses Werk hinterlassen, über das sich Anhänger und Gegner heute noch streiten. AFP

Der charismatische Anthroposoph Rudolf Steiner wäre dieses Jahr 150 Jahre alt geworden. Es heisst oft, dass man ihn entweder verehren müsse oder nichts mit ihm anfangen könne. Der Theologe Helmut Zander sieht das im Interview mit swissinfo.ch differenzierter.

swissinfo.ch: Sie haben sich intensiv mit Rudolf Steiners umfangreichem Werk auseinandergesetzt und haben Ihr Wissen in einer Steiner-Biografie publiziert. Trotzdem sind Sie nicht zum Anthroposophen geworden. Weshalb?

Helmut Zander: Wenn man sich intensiver mit der Anthroposophie und dem Christentum beschäftigt – ich bin ja auch Theologe – sieht man, dass es an einigen Punkten ganz fundamentale Unterschiede gibt.

Ein wesentlicher Punkt: Rudolf Steiner hatte die Hoffnung, man könne objektives, absolutes Wissen gewinnen, also im Grunde die Geheimnisse der Welt auflösen.

Aber ich bleibe der Meinung, dass wir gewisse Dinge nie wissen werden. Es gehört dazu, dass wir mit begrenztem, regionalem, mit sehr persönlichem Wissen umgehen müssen.

swissinfo.ch: Womit haben Sie mehr Mühe? Mit Steiners geistiger Welt oder mit den praktischen Dingen, die er daraus hervorgebracht hat?

H.Z.: Die Mehrzahl der Praxisbereiche kann man schätzen, man kann sie anwenden. So haben die meisten Menschen, die ihre Kinder auf eine Waldorfschule schicken oder eine Weleda-Heilsalbe nehmen oder biologisch-dynamisch gewachsene Demeter-Tomaten essen, von Anthroposophie keine Ahnung.

Beschäftigt man sich dagegen intensiver mit den Grundlagen dieser Praxisbereiche und der weltanschaulichen Grundlage der Anthroposophie, braucht es eine intensive Auseinandersetzung mit Steiners Vorstellungen, etwa seinem Menschenbild, in dem auch Reinkarnation eine Rolle spielt.

swissinfo.ch: Ist Steiners Lehre denn heute noch zeitgemäss?

H.Z.: Für viele Nicht-Anthroposophen ist sie eigentlich nur noch eigentümlich. Aber für den überzeugten orthodoxen Kern der Anthroposophen ist Steiner weiterhin die zentrale Referenz.

Auch für die Schulmedizin ist es zeitgemäss, nicht nur auf einzelne Dimensionen, einzelne Krankheitsbilder des Menschen zu schauen, sondern den ganzen Menschen ins Auge zu fassen, wie Steiner das in der anthroposophischen Medizin aufzeigt.

In der Wissenschaftstheorie unterscheiden wir zwischen Begründung und Erklärung. Anthroposophen begründen all das mit der geistigen Welt, mit geistigen Einflüssen von Engeln bis zu kosmischen Kräften.

Ausserhalb des anthroposophischen Milieus kann anders begründet werden. Zum Beispiel: «Anthroposophische Ärzte sind deshalb so gut, weil sie sich einfach mehr Zeit nehmen.»

swissinfo.ch: Steiner integrierte eine unglaublich breite Themenpalette in sein Werk. War er eines der letzten Universalgenies?

H. Z.: Für die Anthroposophen war er ein Universalgenie. Kritiker sagen, er war ein Universal-Dilettant. In vielen Bereichen ist er an der Oberfläche geblieben. Aber, und das macht die Faszination der Anthroposophie aus, er hat über viele Einzelthemen einen Überbau errichtet. Sozusagen eine grosse anthroposophische Schüssel, in die Vieles aus unterschiedlichen Bereichen hineinpasst.

Steiner hatte immer den Anspruch, mit einer anthroposophischen Theorie unterschiedliche Einzelteile an sich zu ziehen und ihnen einen Ort im anthroposophischen Kosmos zuzuweisen. Das ist gut zu sehen beim Ausdruckstanz (anthroposophische Eurhythmie), bei der Architektur, der Medizin, der Pädagogik oder der Landwirtschaft.

swissinfo.ch: Also war Steiner ein Kopierer?

H. Z.: Steiner hat kopiert und transformiert. Er hat, was er übernommen hat, manchmal verändert.

Die homöopathische Medizin hat er grosso modo kopiert. Aber er hat sie in das Gesamtprogramm der anthroposophischen Medizin integriert. Und dadurch veränderte sich natürlich auch die Homöopathie ein wenig.

swissinfo.ch: Oft heisst es: Entweder man verehrt Steiner oder man wendet sich gegen ihn. Müsste man die «Hardcore-Steiner-Anhänger» eher als Sekte bezeichnen?

H. Z.: Da tue ich mich schwer, weil Sekte ein negativ besetzter Begriff ist. Für mich ist das erst mal eine Weltanschauungs-Gemeinschaft, eine Religionsgemeinschaft, wie alle anderen auch.

Aber wenn man genau hinschaut, wie sie funktioniert, würde ich sagen, sind die autoritären Strukturen relativ stark ausgeprägt, zumindest in der orthodoxen Anthroposophie.

Das kann auch zu Problemen führen: Ich denke da an die zum Teil ganz schwierigen Debatten über rassistische Äusserungen Steiners in den letzten Jahren. Bei den Anthroposophen ahnt man, dass man mit Steiner selektiv umgehen sollte, dass man sich entscheiden muss, ob man wirklich alles übernehmen soll, was der Doktor gesagt hat.

swissinfo.ch: Muss man gewisse Äusserungen Steiners als Rassismus bezeichnen?

H. Z.: Ja, das sind rassistische Äusserungen. Was man da jedoch liest, kann man nicht einfach so in die Gegenwart transportieren, als habe es Auschwitz und Judenverfolgung und den europäischen Imperialismus nie gegeben.

Die Anthroposophie hat bis jetzt den historisch-kritischen Umgang mit den eigenen Wurzeln versäumt.

Steiner gehört der europäischen Tradition des 19. Jahrhunderts an, die Nationalismus, Nationen, Völker, Rassen als eigene Grössen kreiert hatte. In Hegels Werken finden Sie übrigens ganz ähnliche Dinge.

Wenn wir heute Steiner-Ausdrücke hören wie «degenerierte Indianer», «passive Asiaten», oder «triebgesteuerte Schwarze», ist das ein Stück Normalität des späten 19. Jahrhunderts.

Das Problem liegt darin, dass Anthroposophen dieses Gedankengut als übersinnliche Dogmatik transportiert haben, die ungebrochen bis heute durchdringt. So auch das Thema Atlantis: Steiner war der Meinung, man sollte es an den Schulen lehren. Aber heute ist das einfach nicht mehr Stand der wissenschaftlichen Debatte.

Das Wissenschaftsverständnis hat sich seit den Jahren, in denen Steiner lebte, dramatisch verändert. In den Kulturwissenschaften arbeiten wir heute mit Plausibilitäten, mit argumentativ gestützten Ansprüchen auf zutreffende Deutung. Wir wissen, das hat eine geringe Halbwertszeit. Nach uns kommen Menschen, die das anders lesen.

Steiners Wissenschaftsverständnis ist in diesem Sinne einer untergegangenen Tradition verpflichtet.

swissinfo.ch: Wer wird weiter bestehen? Die kritischen oder die orthodoxen Anthroposophen?

H. Z.: Sie werden vermutlich beide überleben. Die orthodoxe Fraktion wird wahrscheinlich ein sehr kleiner Teil bleiben. Dagegen wird die offenere Fraktion wachsen, gerade wegen der Praxisbereiche.

Die Anthroposophen sind mir immer ein wenig böse, wenn ich ihnen sage, sie betrieben nicht an erster Stelle Wissenschaft sondern Sinnstiftung. Die Menschen, die sich da rein begeben, suchen am Ende nicht Wissen, sondern eine sinnvolle Ordnung ihrer Welt. Und das macht, glaube ich, auch die Attraktivität dieses Milieus aus.

27. Februar 1861: Rudolf Josef Steiner wird im damals österreichischen (heute kroatischen) Kraljevek geboren.
1878-83: Studium an der Technischen Hochschule Wien. Hauptfächer: Physik, Botanik, Zoologie, Chemie, Nebenfächer Literatur, Geschichte, Philosophie.

1882: Herausgeber von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften.

1884-90: Hauslehrer.

1890-97: Mitarbeiter am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar.

1891: Promotion zum Dr. phil.

1893: Steiners philosophisches Hauptwerk: «Die Philosophie der Freiheit».

1895: Monografie «Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit».

1897: «Goethes Weltanschauung» – Zusammenfassende Darstellung Steiners Goethe-Studien.

1898-1905: Vorträge, Begegnungen mit Else Lasker-Schüler, Stefan Zweig, Käthe Kollwitz, Frank Wedekind.

1899-1904: Heirat mit Anna Eunike. Lehrtätigkeit an der Arbeiterbildungsschule Berlin.

1900-1904: 1. & 2. Band «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert», «Theosophie» – zentrales Werk für die Anthroposophie.

1902-12: Aufbau diverser theosophischer Logen, Vortragsreihen, Freundschaft mit Christian Morgenstern.

1910-13: Entwicklung einer neuen Bewegungskunst (Eurythmie), Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft.

1913-19: Errichtung des Goetheanums in Dornach bei Basel, diverse künstlerische Arbeiten,

1917: «Von Seelenrätseln»: Steiners Forschungsergebnisse über die Dreigliederung des menschlichen Organismus.

1919: Erste Freie Waldorfschule in Stuttgart.

1920-25: Vorträge in Europa, Entstehung anthroposophischer Forschungsinstitute, Kliniken und Schulen.

Silvesternacht 1992/23: Goetheanum durch Feuer zerstört. Steiner plant neues aus Beton (Fertigstellung 1928).

1924-25: Krankheit Rudolf Steiners, Autobiografie «Mein Lebensgang», in Zusammenarbeit mit der Ärztin Ita Wegmann «Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst».

30. März 1925: Rudolf Steiner stirbt in Dornach.

Geboren 1957, ist deutscher Historiker und katholischer Theologe.
Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Theologie.


Forschungsschwerpunkte: Geschichte gesellschaftlicher Pluralisierung, Kultur- und Sozialgeschichte der Religion.
Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin.
Fellow am Internationalen Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung an der Ruhr-Universität Bochum.


Veröffentlichungen:
– Die Christen und die Friedensbewegungen in beiden deutschen Staaten.

– Reinkarnation und Christentum. Rudolf Steiners Theorie der Wiederverkörperung im Dialog mit der Theologie

– Geschichte der Seelenwanderung in Europa.

– Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute

– Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945

– Rudolf Steiner. Die Biographie.

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