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«Schon der Begriff Zigarettenmafia ist irreführend»

Der Zigarettenschmuggel blühte in den 1990er-Jahren in Südeuropa. Die Gelder aus dem Verkauf liefen teilweise über die Schweiz. Keystone

Das Bundesstrafgericht in Bellinzona bestätigte am Mittwoch sieben Freisprüche und zwei Schuldsprüche in der Neuauflage des Prozesses gegen ehemalige Zigarettenschmuggler. Die Bundesanwaltschaft will das Urteil erneut nicht schlucken.

Erleichterung und teils sogar Freudentränen bei den Beschuldigten, herbe Enttäuschung bei der Bundesanwaltschaft: So lässt sich die Gemütslage der Parteien beschreiben, nachdem das Bundesstrafgericht das Urteil im so genannten Verfahren Montecristo gesprochen hatte.

Dabei geht es um die strafrechtlichen Verantwortlichkeiten im Zusammenhang mit dem Schmuggel von 215 Millionen Stangen Zigaretten zwischen 1996 und 2000 aus Zollfreilagern in Antwerpen und Rotterdam via Montenegro nach Italien und entsprechende Gewinne in Millionenhöhe.

Die Bundesanwaltschaft (BA) hatte 2008 Anklage gegen neun Personen wegen Mitgliedschaft zu einer kriminellen Vereinigung und wegen Geldwäscherei erhoben. Ihrer Meinung nach hatten die Beschuldigten von der Schweiz aus den italienischen Mafiaorganisationen Camorra und Sacra Corona Unita wissentlich zugedient, welche ihrerseits den Verkauf der geschmuggelten Zigaretten auf dem Schwarzmarkt organisierten.

Freisprüche im ersten Prozess

Mit dieser These war die Anklage bereits beim ersten Hauptverfahren im Jahr 2009 überwiegend auf Grund gelaufen. Grund: Der Schmuggel konnte auf Grund der damaligen Schweizer Gesetzgebung nicht als Verbrechen gewertet werden. Und bei den Beschuldigten sei der subjektive Tatbestand nicht erfüllt gewesen, das heisst kein Vorsatz oder Eventualvorsatz für eine Tat. Es kam zu sieben Freisprüchen und nur zwei Verurteilungen wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation.

Nachdem das Bundesgericht dieses Urteil wegen angeblich ungenügender Beweiswürdigung überraschend aufgehoben hatte, wurde die Hauptverhandlung in diesem Januar nochmals durchgeführt. Die Bundesanwaltschaft forderte dabei erneut Gefängnisstrafen von bis zu viereinhalb Jahren.

Die Verhandlung brachte aber in der Sache wenig neue Erkenntnisse, abgesehen von Aussagen, wonach der Verkauf von Zigaretten lange kein Kerngeschäft der Mafia war. So überraschte es nicht, dass das Bundesstrafgericht heute sein Urteil von 2009 im Grundsatz bestätigte, aber wesentlich ausführlicher begründete und die Beweise ausführlicher würdigte.

Konkret: Sieben Beschuldigte wurden erneut vollumfänglich freigesprochen. Nur zwei beschuldigte  Italiener, die im Tessin domiziliert sind, erhielten Gefängnisstrafen, nämlich 28 Monaten Gefängnis teilbedingt und 21 Monate bedingt, jeweils wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung. Alle Beschuldigten wurden vom Vorwurf der Geldwäscherei freigesprochen.

«Zigarettenmafia als irreführender Begriff»

In seiner Begründung erläuterte Gerichtspräsident Walter Wüthrich, dass die Beschuldigten effektiv mit zweifelhaften Geschäften Millionen von Franken verdient hätten. Die rechtliche Würdigung sei aber eine andere Sache. Und vor allem gelte: «Ohne Gesetz keine Strafe.»

Wüthrich kritisierte auch die Thesen der Bundesanwaltschaft: «Die Anklage arbeitete mit erheblichen Unschärfen.» Zum Teil seien Anklagegrundsätze verletzt worden. Sogar die von der BA aufgebrachte Rede von «Zigarettenmafia» sei eigentlich irreführend, weil diese Bezeichnung das Bestehen einer kriminellen Organisation voraussetze, wo dies eigentlich bewiesen werden müsse.

Bundesanwaltschaft will rekurrieren

Die Beschuldigten und ihre Anwälte freuten sich über das erneute Urteil des Bundesstrafgerichts. «Unsere Argumentationen haben überzeugt», hielt Anwalt Renzo Galfetti fest. Selbst der Verurteilte, der als einziger eine unbedingte Haftstrafe erhielt, muss nur drei Monate hinter Gitter, weil er schon in Untersuchungshaft sass. Der Rest ist bedingt ausgesetzt.

Wenig erfreut über das Urteil zeigte sich hingegen der federführende Bundesstaatsanwalt Lienhard Ochsner: «Dass das Bundesstrafgericht nach der Rückweisung des ersten Urteils und der entsprechenden Kritik an der Beweiswürdigung zum selben Ergebnis gekommen ist, ist grundsätzlich enttäuschend.»

Das Gericht habe es verpasst, in die Tiefe zu gehen. Nun werde die BA die schriftliche Begründung verlangen. «Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass das Urteil erneut nach Lausanne weitergezogen wird», so Ochsner.

Die Bundesanwaltschaft (BA) holt am 31.August 2004 mit Razzien in allen Landesteilen zu einem Schlag gegen die mutmasslichen Hintermänner der Zigarettenmafia aus. Etliche Personen werden verhaftet.

Im Oktober 2008 klagt die BA zehn Personen beim Bundesstrafgericht in Bellinzona an. Ein Angeklagter ist mittlerweile verstorben. Hauptvorwurf: Geldwäscherei und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung.

Der Prozess vor Bundesstrafgericht mit neun Angeklagten findet zwischen April und Juni 2009 in Bellinzona statt. Das Urteil vom Juli 2009 endet mit sieben Freisprüchen und zwei Verurteilungen wegen Unterstützung einer kriminellen Organisation (zwei Gefängnisstrafen von etwas mehr als 2 Jahren). Wegen Geldwäscherei kommt es in keinem Fall zu einer Verurteilung.

Dieses erstinstanzliche Urteil hebt das Bundesgericht im März 2011 auf: Die Richter heissen Beschwerden seitens der BA und zweier Verurteilter gut, die unter anderem eine unvollständige Beweisführung beklagt hatten. Das Bundesgericht spricht sogar von «Willkür.»

Die Neuauflage des «Zigarettenmafia-Prozesses» findet im Januar 2012 wieder im Grossen Rat von Bellinzona statt. Hauptneuigkeit ist die Einvernahme der ehemaligen Bundesanwältin Carla del Ponte und des ehemaligen Staatsanwaltes Paolo Bernasconi als Zeugen.

Die BA fordert erneut Gefängnisstrafen von bis zu viereinhalb Jahren für die Beschuldigten. 21. März 2012: Das Urteil zur Neuauflage des Prozesses bestätigt mit minimalen Abweichungen das Urteil von 2009. Es gibt sieben Freisprüche und erneut zwei Schuldsprüche wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung: Paolo Savino erhält 28 Monate Gefängnis teilbedingt, Pietro Virgilio 21 Monate bedingt.

In den 1990er-Jahren blühte der Zigarettenschmuggel in Südeuropa. Unversteuerte Zigaretten in Zollfreilagern (Rotterdam oder Antwerpen) wurden billig gekauft und per Land- oder Luftweg nach Montenegro geschafft. Montenegro vergab sogar Import- und Transitlizenzen und kassierte kräftig mit.

Von den Küsten Montenegros wurden die Zigaretten mit Schnellbooten via Adria nach Süditalien gebracht und dann über den Schwarzmarkt, vor allem in Neapel, verkauft. Die Gewinne wurden unter den Mafia-Gangs aufgeteilt. Die Gelder wurden dann für den Einkauf neuer Zigaretten in den Zollfreilagern eingesetzt und liefen teilweise über die Schweiz.

Das Geschäft brach zusammen, als die italienischen Behörden 2000 den Schmuggel auf Schnellbooten von Montenegro nach Süditalien unterbanden.

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