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Was gehörlose Kinder brauchen

Schulmädchen in hellblauem Pullover
Die Philosophie der SEK3 ist, die Schülerinnen und Schüler auf das Leben im Alltag vorzubereiten und sie innerlich zu stärken. Jonas Straumann, Sonos Schweizeriser Hörbehindertenverband

In der Schweiz besuchen viele gehörlose Kinder die reguläre Schule. Doch laut dem Schweizerischen Gehörlosenbund haben viele Schülerinnen und Schüler damit Mühe. Der Verband verlangt mehr Zweisprachigkeit, dass also Gebärdensprache und gesprochene Sprache gleiches Gewicht erhalten.

Ein bewölkter Spätsommertag an der Schule Hans AsperExterner Link in Wollishofen, einem Vorort von Zürich. Die Schüler sind vertieft in ein Fussballspiel. Eine Szene, wie sie wohl hundertfach in der Schweiz zu sehen ist – mit einer Ausnahme: Einige der Schülerinnen und Schüler sind gehörlos oder schwerhörig.

Sie besuchen die «SEK3»Externer Link, eine spezielle Sekundarschule für hörbehinderte Jugendliche aus der deutschsprachigen Schweiz. Diese ist Teil der regulären Schule.

«Die Schüler, ob sie schwerhörig sind oder gehörlos, ob sie Gebärden brauchen oder nicht, haben hier die Möglichkeit, jeden Tag mit der hörenden Gesellschaft, mit der ganzen Jugendkultur konfrontiert zu werden, einfach mit allem, was ein staatliches Schulhaus mit sich bringt», sagt Peter Bachmann, Ko-Leiter der SEK3.

Gebärdensprache

Je nach Stufe der Gehörlosigkeit werden die Schülerinnen und Schüler an dieser Schule zum Teil in die regulären Klassen integriert oder können eine zweisprachige Sekundarstufe mit Gebärdensprache und gesprochener Sprache besuchen.

Gegenwärtig sind 37 Gehörlose und Schwerhörige zwischen 13 und 15 Jahren an der Schule. Im Gegenzug werden die Schülerinnen und Schüler der regulären Klassen an der Hans Asper Schule ermutigt, GebärdenspracheExterner Link zu lernen.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Zusammen mit einer anderen Lehrperson unterrichtet Isabelle Cicala gehörlose Kinder, damit diese gleichzeitig die Gebärdensprache wie auch die mündlichen und schriftlichen Formen der gesprochenen Sprache erlernen. Laut dem Schweizerischen Gehörlosenbund ist diese Art des Unterrichts sehr erfolgreich, jedoch noch nicht stark im schweizerischen Bildungssystem verankert. Der Verband verlangt nun ein nationales Bildungsprogramm, damit gehörlose Kinder…

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Die SEK3 bietet zudem ein Internat für Schülerinnen und Schüler von ausserhalb der Region Zürich an. Dieses Konzept mache die SEK3 fast einmalig, betont Bachmann. In der Deutschschweiz bieten nur noch zwei weitere Schulen eine zweisprachige Schulbildung an.

Anrecht auf zweisprachigen Unterricht

«Normalerweise werden Kinder mit Hörbehinderung in eine Regelklasse integriert und ausschliesslich in gesprochener Sprache unterrichtet», schreibt Martina Raschle vom Schweizerischen GehörlosenbundExterner Link in einer Antwort per E-Mail.

Dies stehe im Widerspruch zur von der Schweiz ratifizierten UNO-BehindertenrechtskonventionExterner Link, wo klar stehe, «dass Kinder mit Hörbehinderung in der am besten für sie geeigneten Kommunikationsform unterrichtet werden müssen. Das heisst, Kinder haben das Recht auf bilingualen Unterricht mit Gebärdensprache, wenn sie so am besten lernen. Dieses Recht wird aber selten umgesetzt», so Raschle.

Lehrer, stehend, mit zwei Schülern, sitzend
Peter Bachmann mit älteren Schülern. Jonas Straumann, Sonos

Gehörlose Kinder haben oft Mühe in regulären Klassen. Zudem fehlen genügend ausgebildete Gebärdensprache-Lehrer. Oft fühlen sich Kinder isoliert, weil sie das einzige gehörlose oder hörbehinderte Kind in einer Klasse sind.

Der Gehörlosenbund teilt die Ansicht der Wissenschaft, dass das gleichzeitige Erlernen von Gebärden- und gesprochener Sprache die sprachliche Entwicklung von gehörlosen Kindern fördert und ihre Bildungschancen verbessert.

Gebärden- und gesprochene Sprache

Der Verband fordert deshalb ein biliguales KonzeptExterner Link für die Schweiz. Das könnte etwa bedeuten, dass in jedem Kanton eine Schule wie die SEK3 eingerichtet wird. Das wäre im Sinn des gegenwärtigen integrativen Ansatzes für die Sonderschulbildung, gehörlose Schülerinnen und Schüler würden aber auch die Chance erhalten, sich mit anderen Gehörlosen zu treffen, was für ihre Identität wichtig sei, betont Raschle.

«Im Vergleich zu unseren Nachbarländern in Westeuropa stehen wir ähnlich (schlecht) da», schreibt Raschle weiter. Eine Ausnahme in Europa sei Skandinavien: «Dort wird die bilinguale Bildung umgesetzt.» Die USA stünden im Vergleich am besten da: «Hier wird der ADA (Americans with Disabilities ActExterner Link) seit Jahren konsequent umgesetzt: Gehörlose Kinder werden integriert und mit Gebärdensprache unterrichtet, sie haben Zugang zu Gebärdensprach-Dolmetschern, und es gibt die weltweit einzige Universität für gehörlose und schwerhörige Studierende, die Gallaudet UniversityExterner Link

Hürde Universität

Für viele Gehörlose bleibt der Besuch einer Universität eine grosse Hürde. Dr. Tatjana BinggeliExterner Link, die Präsidentin des Gehörlosenbundes, ist eine von nur zwei gehörlosen Personen in der Schweiz, die einen Doktortitel haben. Ein Studium bedinge die Hilfe eines Gebärdensprach-Dolmetschers während der Vorlesungen und viel Papierkram. «Dieser Weg braucht einen unglaublichen Willen – und eine weit überdurchschnittliche akademische Leistung», so Raschle.

Statistik

In der Schweiz mit einer Bevölkerung von 8 Millionen Menschen gibt es keine offiziellen Statistiken, doch der Schweizerische Gehörlosenbund schätzt, dass etwa 10’000 Gehörlose im Land leben und rund 600’000 unter einer Hörschwäche leiden.

Weltweit sind rund 9% der Gehörlosen Kinder. Rund 90% der gehörlosen Kinder haben Eltern ohne Hörbeeinträchtigung.

Das ist auch Bachmanns Erfahrung. Nur wenige aus seiner Schule gehen weiter ans Gymnasium, wo Schülerinnen und Schüler auf ein Universitätsstudium vorbereitet werden. Die meisten von ihnen wählen eine Berufslehre. Das Ziel der Schule sei, die Schülerinnen und Schüler auf das Leben ausserhalb der Schule vorzubereiten, so Bachmann. Beispielsweise wird das Mittagessen zusammen mit einem gehörlosen Schüler vorbereitet, der später einmal Koch werden möchte.

Doch warum gibt es nicht mehr zweisprachige Schulen? Das sei zum Teil wegen des integrativen Ansatzes, sagt Bachmann. Auch wenn sich die Haltung der Menschen langsam verändere, «sitzt das Grundgefühl, dass Gebärden der Lautsprache schaden, oftmals noch tief in den Köpfen», bedauert er.

Weniger Sonderschulbildung

Romain Lanners ist Leiter des Schweizer Zentrums für Heil- und SonderpädagogikExterner Link (SZH). Dieses arbeitet im Namen der Kantone, die in der Schweiz für die Bildung verantwortlich sind.

Jeder Kanton habe in den letzten zehn Jahren sein eigenes Konzept und seine eigene Gesetzgebung im Bereich der sonderpädagogischen Massnahmen erarbeitet, schreibt er in einer E-Mail. «Bei der Entscheidung der sonderpädagogischen Massnahmen steht das Wohl des Kindes im Vordergrund», so Lanners.

Es gibt keine spezifische Bildungsstatistik über Kinder mit Hörbehinderungen. Doch die Zahl der Schülerinnen und Schüler in Sonderschulen fiel von 50’000 im Jahr 2004 auf 31’000 im Jahr 2016 und bestätigte damit den Trend weg von der speziellen hin zur integrativen Bildung.

Potenzial

Auf die Frage, warum es so wenig zweisprachige Bildung für gehörlose und hörbehinderte Kinder gebe, schreibt Lanners, dies sei schwierig zu beantworten, da statistisches Zahlenmaterial fehle. Erschwerend komme hinzu, dass die Kantone die Frage der Bilingualität unterschiedlich umsetzen würden. «Innovative inklusive Unterrichtskonzepte existieren, aber werden noch nicht flächendeckend angeboten», so Lanners.

Sicher gebe es Verbesserungspotenzial im Bereich der interinstitutionellen Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, so Lanners: «Ich denke hier an die Sensibilisierung der Entscheidungsträger, die Aus- und Weiterbildung des Bildungspersonals in Bereichen wie Bilingualität, Schriftendolmetschen oder technischen Hilfsmitteln.»

Die vielen neuen Entwicklungen in den Bereichen der digitalen Dienste und Hilfsmittel würden ein riesiges Potenzial für die Integration von Lernenden mit besonderem Bildungsbedarf bergen. «Potenziale, die es jetzt zu nutzen gilt», so Lanners.

(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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