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Erinnerungen an die Schwarzenbach-Initiative: «Viele ältere Italiener tragen bis heute eine Wunde in sich»

drei Arbeiter
Italienische Gastarbeiter auf der Baustelle des Kraftwerkes Göschenen im Kanton Uri im Juni 1965. Keystone / Bll

Vor 50 Jahren stimmten Schweizer Männer darüber ab, ob Hunderttausende nach Italien zurückmüssen. Das hinterliess Wunden bei vielen. Italiener und Secondos erinnern sich an die Schwarzenbach-Zeit.

«Das war eine schwarze Zeit für uns», erinnert sich die 78-jährige. Noch immer lebt Giovanna Remo im Dorf, in dem sie schon vor 50 Jahren gelebt hat: Fislisbach im Kanton Aargau. In den 1960er-Jahren hätten sich Schweizerinnen und Schweizer gegenüber den Italienern langsam geöffnet. «Und dann kam die Schwarzenbach-Initiative und hat nochmals alles auseinandergerissen.» Sogar Kinder seien von der rassistischen Stimmung erfasst worden.

«Wissen Sie, wie viele Bonbons ich anderen Kindern im Quartier schenkte, damit meine mitspielen dürfen?»

Die Kluft habe über den Abstimmungssonntag hinaus Bestand gehabt und sich nur nach und nach geschlossen.

Initiative «gegen die Überfremdung»

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Die «Schwarzenbach-Initiative» wollte den «Ausländerbestand» in allen Kantonen ausser Genf auf 10 Prozent beschränken und hätte somit 300 000 bis 400 000 Menschen ohne Schweizer Pass zur Ausreise gezwungen. Getroffen hätte es vor allem Italienerinnen und Italiener. 

Der namensgebende Initiant James Schwarzenbach war damals einziger Nationalrat einer rechtradikalen Kleinpartei. Mit der «Schwarzenbach-Initiative» gab er, der 1940 in den Medien «die jugendlichen Revolutionsarmeen von Hitler und Mussolini» pries und dann als betagter Mann seine Sympathien für faschistische Diktaturen öffentlich äusserte, vorhandenen Vorurteilen einen Rahmen.

Die Ablehnung war knapper als erwartet: Mit 46 Prozent Zustimmung und Mehrheiten in sieben Kantonen hatte die Schwarzenbach-Initiative eine grosse Minderheit hinter sich. Obwohl sich sämtliche grosse Parteien und alle Parlamentarier ausser der namensgebende Rechtspopulist Schwarzenbach gegen die Initiative positioniert hatten.

Die Initianten sprachen von der bedrohten «Schweizerischen Eigenart» – und manche Gegner der Initiative aus allen politischen Lagern anerkannten aus taktischen Gründen oder Überzeugung die sogenannte «Überfremdung» als reales Problem.

Die Kampagne verstärkte vorhandene Vorurteile

Gewalttätige Übergriffe häuften sich. Der antiitalienische Rassismus existierte schon zuvor. Doch der Abstimmungskampf verstärkte bereits vorhandene Vorurteile und brachte sie in die Öffentlichkeit.

Männer am Tisch
James Schwarzenbach und seine Mitstreiter am 6. Juni 1970, dem Abstimmungstag im Bundeshaus Bern. Photopress Archiv

In der Nähmaschinenfabrik, wo Giovanna Remo damals arbeitete, hatte der Vorarbeiter ihre Arbeit zum Beispiel immer doppelt kontrolliert. «Bis ich irgendwann sagte, dass ich genauso wie er eine Schule besucht habe.» Solchen Widerspruch hat sie sich nur selten erlaubt.

«Das Gefühl, unerwünscht zu sein»

«Das Klima ändert nicht von einem Moment auf den anderen», sagt auch der Theologe und Historiker Francesco Papagni. 1970 war Francesco Papagni ein siebenjähriger Junge im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl. Einmal kam er mit einem Button mit der Aufschrift «Schwarzenbach Ja» nach Hause. Der Vater habe ihn angeherrscht, sofort den Werbebutton abzunehmen. Der junge Papagni meinte, Schwarzenbach habe etwas mit dem grossen Shoppingzentrum Spreitenbach zu tun. «Ich habe geglaubt, dann gebe es einen zweiten Supermarkt.»

Später hat Papagni verstanden. «Schwarzenbach legte etwas offen und gab vielen das Gefühl, unerwünscht zu sein.» Papagni ist mit der Schweizer Staatsbürgerschaft zur Welt gekommen. «Viele Italiener waren mit innerem Vorbehalt hier; ich hatte das Glück, dass meine Familie ohne inneren Vorbehalt hier war.» Während andere Italiener als Saisonniers in Baracken an den gesellschaftlichen Rand gedrängt lebten, sei er als Sohn eines studierten Kleinunternehmer vergleichsweise privilegiert aufgewachsen.

Demonstranten
Gegner der Überfremdungsinitiative protestieren in Bern am 24. Mai 1970. Keystone / Joe Widmer

Sein Vater führte in zweiter Generation eine Weinhandlung; die italienische Gemeinschaft war – anders als in ländlichen Regionen – stark im Quartier. Trotzdem: Die stimmberechtigten Schweizer Männer in Aussersihl haben der Schwarzenbach-Initiative mehrheitlich zugestimmt.

«Dann kam das Thema Identität»

Vor der Abstimmung schrieb Papagnis Vater mit Leserbriefen gegen Schwarzenbach an – und brachte eben keine moralischen, sondern wirtschaftliche Argumente vor: Die Schweizer Baubranche und die Industrie wäre zusammengebrochen, wenn plötzlich hunderttausende Arbeitskräfte fehlten. Auch der Weinhandel der Familie hätte seine Angestellten verloren.

«Zu einem Zeitpunkt, als alle über Wirtschaft gesprochen haben, kam Schwarzenbach mit dem Thema Identität», sagt Francesco Papagni heute – und spricht sogleich weiter über Identität. «Nur weil Schweizer Katholiken gegen ihre katholischen Nachbarn stimmten, war es möglich, dass die Initiative so knapp abgelehnt wurde.»

Die Schwarzenbach-Initiative sei vieles gewesen und vieles sei in Bezug auf sie bereits gesagt worden: über die Zustimmung aus der Arbeiterschaft und die Linie zum europäischen Rechtspopulismus bis heute etwa. «Was aber unterbeleuchtet ist: Die Initiative war auch ein kalter katholischer Bürgerkrieg.» Papagni ist selbst gläubiger Katholik.

Während der Ölkrise Mitte 1970er-Jahre verliessen dann viele Italienerinnen und Italiener die Schweiz. «Manche gingen zurück und haben das Thema verdrängt. Viele ältere Italiener tragen bis heute eine Wunde in sich», sagt Papagni.

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«Ein paar Jahrzehnte später gab es die Behauptung, es stinke im Treppenhaus, wenn erst Tamilen oder später Kosovaren kochen. In den 70ern behaupteten sie dasselbe über Italiener.» Viele Vorurteile, die bis heute in der Schweiz auf wechselnde Migrantengruppen projiziert werden, seien einst gegenüber den Italienern erhoben worden.

«Heute ist das gar nicht mehr vorstellbar», sagt Papagni – und meint das nicht nur im Hinblick darauf, dass italienische Secondos und Terzios längst Teil der Schweiz geworden sind, sondern auch in Bezug auf die Erfolge der italienischen Rechtspopulisten, «Dass im letzten Jahrhundert Millionen Italiener ausgewandert sind, wird in der italienischen Öffentlichkeit fast komplett verdrängt.»

Überfremdung? «Ein schweizerisches Problem»

Nach der hohen Zustimmung zur «Schwarzenbach-Initiative» beschloss der Bundesrat die Einsetzung einer ausserparlamentarischen Kommission zum Thema. Der damalige Bundeskanzler Karl Huber kündete an, dass in dieser Kommission «alle Kreise der Schweiz» vertreten sein müssen. Alle ausser diejenigen ohne Schweizer Pass: Ausländerorganisationen waren explizit nicht eingeladen. «Da das Problem der Überfremdung zuerst ein schweizerisches Problem ist», so Huber im Juli 1970.

Einer, der sich daran verdient gemacht hat, dass die Italienerinnen und Italiener in der Schweiz eine Stimme bekommen, ist der heute 74-Jährige Guglielmo Grossi. Die Diskussion um die Schwarzenbach-Initiative habe Grossi damals wie viele junge Italiener in der Schweiz bewegt. «Aber wir hatten keine Möglichkeit, an der politischen Debatte teilzunehmen. Uns fehlte eine Plattform.» Dann muss Grossi lachen. «Das haben wir später wirklich geschafft. Das haben wir zur Selbstverständlichkeit gemacht.»

Der heute 74-Jährige war unter anderem Präsident der Federazione Colonie Libere Italiane, der Migrantenorganisation, die in den 70er- und 80er-Jahren zeitweise 20 000 Italiener in der Schweiz vertreten hat. In Thalwil, wo Grossi zum Zeitpunkt der «Schwarzenbach-Initiative» gelebt hatte,  habe es damals noch «mindestens ein Restaurant» gegeben, in dem Italienern der Eintritt verboten war. «Und dort, wo wir bedient worden sind, wurden wir ab und an vom Nachbartisch beschimpft.»

Lang anhaltende Verletzungen»

Später begleitete Grossi als Migrantenvertreter, Gewerkschafter und SP-Lokalpolitiker alle für die Italiener in der Schweiz entscheidenden Themen. «Mindestens 20 Jahre lang haben die Verletzungen der Schwarzenbach-Initiative angehalten. Und die Verletzungen haben sich in alle Richtungen ausgewirkt: Manche Italiener haben mich «Verräter» gerufen, als ich für die doppelte Staatsbürgerschaft eingetreten bin.»

Seit 1992 verlieren Italiener, die die Schweizer Staatsbürgerschaft erlangen, die italienische nicht mehr – und umgekehrt.

Giovanna Remo, die seit 1968 fast ohne Unterbruch im aargauischen Fislisbach lebt, beantragte den Schweizer Pass nie. Kirchenchor, Turnverein, als Freiwillige im Zivilschutz: Alles habe sie hier erlebt. «Jetzt bin ich fast am Ende meines Lebens… Warum bin ich keine Schweizerin?» Nun wechselt Giovanna Remo in ihre Muttersprache: Im Herzen sei sie eine.

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