Schweiz bei Transgender-Chirurgie im Hintertreffen
Viele Transmenschen leiden nach geschlechtsangleichenden Operationen, die in der Schweiz durchgeführt wurden, unter schweren Komplikationen. Deshalb zieht es ein Grossteil der Transmenschen vor, sich im Ausland operieren zu lassen. Vereinigungen und Fachleute sagen: Schweizer Chirurginnen und Chirurgen fehlt es an der Praxis.
Emma*, eine junge Transfrau aus der französischsprachigen Schweiz, hat sich in weniger als einem Jahr sieben Operationen unterzogen und erwartet nun eine achte. So hatte sie sich ihre Umwandlung nicht vorgestellt.
Ursprünglich war nur eine einzige Operation geplant – eine Vaginoplastik, eine so genannte geschlechtsangleichende Operation, bei der einer Transfrau eine Vagina gebaut wird.
«Ich hatte bereits bei der ersten Operation ein Problem. Deshalb musste eine zweite geplant werden, bei der ich eine Verletzung im Bereich des Rektums erlitten habe. Die Ärztinnen und Ärzte haben mir daraufhin einen Magenbeutel eingesetzt, den ich neun Monate lang behalten musste», sagt sie.
Die Erfahrung war für die junge Frau traumatisch. «Ich habe mich gut gehalten, aber ich musste eine schwere Zeit durchmachen. Ich hatte Panikattacken. Zum Glück hat mich mein Umfeld gut unterstützt», erzählt Emma. Im Mai nächsten Jahres muss sie sich noch einer Operation für ästhetische Korrekturen unterziehen, hofft aber nun, dass das Ende des Tunnels in Sicht ist.
Mehrfache Operationen
Geschichten wie die von Emma kennt Lynn Bertholet viele. Sie ist Präsidentin des Vereins ÉpicèneExterner Link, der sich für die Rechte von Transmenschen einsetzt. «Die Situation ist dramatisch», sagt sie.
Um die verschiedenen postoperativen Probleme zu beheben, müssen sich die Betroffenen manchmal mehrmals operieren lassen. «Der schlimmste Fall, den ich kenne, ist der eines Transmanns, der sich innerhalb von fünf Jahren 22 Operationen unterziehen musste», sagt die Aktivistin und ehemalige Genfer Bankangestellte.
«Im Moment lebe ich mit einem Harnkatheter und habe starke Schmerzen.»
Lucas*
Manchmal führt dies auch zu langen Spitalaufenthalten und längeren Arbeitsunterbrüchen. In einer solchen Situation befindet sich Lucas*.
Der 34-jährige Transmann entschied sich 2018 für geschlechtsangleichende Operationen, darunter eine Phalloplastik.
Das ist eine Operation, bei der mithilfe von Haut, die aus einem anderen Körperbereich entnommen wurde, ein Penis geschaffen wird. Aufgrund zahlreicher postoperativer Probleme musste sich Lucas acht statt vier Operationen unterziehen.
«Im Moment lebe ich mit einem Harnkatheter und habe starke Schmerzen», erzählt Lucas, der mit swissinfo.ch aus seinem Spitalzimmer telefoniert. Das Spital konnte er seit mehreren Monaten nicht mehr verlassen.
«Mein Dossier ist hyperkomplex geworden. Die Ärztinnen und Ärzte haben Mühe, die Informationen zu zentralisieren und das Problem zu verstehen. Mein grösster Traum ist, meine Arbeit, die ich sehr liebe, wieder aufnehmen zu können», sagt der junge Mann.
Schweizer Spitäler mit zu wenig Praxis
Die postoperativen Probleme von Transgender-Personen in der Schweiz werden nirgends erfasst. Zwar sind geschlechtsangleichende Operationen komplex und mit Risiken verbunden, doch für Bertholets Empfinden treten dabei trotzdem zu oft Komplikationen auf.
«Die Erfahrung in unserem Verein bringt mich zur Einschätzung, dass jede zweite Person, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen hat, an postoperativen Problemen leidet», sagt sie.
Bertholet weist auf die mangelnde Praxis der Ärztinnen und Ärzte hin, die diese Operationen in der Schweiz durchführen und auf das Fehlen einer spezifischen Ausbildungspflicht. Weiter mangelt es auch an Pflegepersonal, das für die postoperative Nachsorge ausgebildet ist.
In der Schweiz gibt es drei Spitäler, die geschlechtsangleichende Operationen durchführen: Basel, Zürich und Lausanne. «Die Anzahl der Eingriffe ist nicht hoch genug, damit die Chirurginnen und Chirurgen genügend Erfahrung sammeln können», sagt Bertholet, die Präsidentin von Épicène.
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Bereits 2015 wies der belgische Chirurg Stan Monstrey, ein Spezialist für Transgender-Medizin, in einem Gutachten für das Kantonsgericht Lausanne auf das Problem hin.
Im Bericht zeigte er auf, dass die Ärztinnen und Ärzte, die in der Schweiz geschlechtsangleichende Eingriffe vornehmen, nicht ausreichend praktizieren, um mit der Qualität der in spezialisierten Zentren im Ausland durchgeführten Operationen mithalten zu können. «Trotz dieser Schlussfolgerungen hat sich nichts geändert», bedauert Bertholet.
Der Studie zufolge muss eine Chirurgin, ein Chirurg pro Jahr nämlich mindestens 24 Operationen pro Operationstechnik durchführen, um auf dem neusten Stand bleiben. Obwohl die Zahl der Eingriffe in den letzten Jahren zugenommen hat, sind diese Bedingungen in der Schweiz nicht erfüllt.
Laut den neusten Daten des Bundesamts für Statistik unterzogen sich im Jahr 2020 in den drei Spitälern, die diese Operationen in der Schweiz durchführen, nur 35 Transmänner und 52 Transfrauen einer genitalen geschlechtsangleichenden Operation.
Ein nationales Kompetenzzentrum
Um die Behandlung zu verbessern, setzt sich der Verein Épicène für die Einrichtung eines einzigen nationalen Kompetenzzentrums für die Behandlung von Transgender-Personen ein.
«Dies würde es ermöglichen, die Patientinnen und Patienten zusammenzufassen und so erfahrenere Chirurginnen und Chirurgen zu haben. Diese könnten ausschliesslich Transgenderchirurgie durchführen, während sie dies heute neben einer anderen Spezialisierung machen müssen», sagt Bertholet.
Diese Lösung hätte zudem den Vorteil, dass auch die Informationen zentralisiert würden und speziell ausgebildetes Pflegepersonal zur Verfügung stehen würde.
Dies ist auch die Lösung, die der belgische Chirurg Monstrey in seinem Gutachten vorschlägt. Er kommt zum Schluss, dass «die einzige Möglichkeit, die Kompetenz- und Qualitätsanforderungen in einem kleinen Land wie der Schweiz erfüllen zu können, darin bestünde, Transgender-Patientinnen und -Patienten in einem oder zwei Zentren zusammenzuführen».
Die Studie erwähnt auch die Notwendigkeit eines «multidisziplinären Ansatzes, der aus der Zusammenarbeit mehrerer Ärztinnen und Chirurgen, aber auch aus ausreichender Erfahrung auf der Ebene von Gesundheitspersonal und paramedizinischen Fachkräften besteht».
Lösung oder Utopie?
Auch auf Seiten der Ärztinnen und Ärzte findet die Idee Anklang. Richard Fakin, früher Leiter der Klinik für plastische Chirurgie am Universitätsspital Zürich, führt seine geschlechtsangleichenden Operationen nun in Madrid durch.
«Entscheidend sind die Anzahl der pro Jahr durchgeführten Operationen und deren Ergebnisse. In der Schweiz gibt es noch fast keine guten Publikationen zu diesem Thema», bedauert er.
Da die Schweiz ein kleines Land ist, sollte auch seiner Meinung nach die Betreuung von Transpersonen zentralisiert werden. «Es ist nicht notwendig, dass das Zentrum physisch an einem Ort angesiedelt ist, aber es braucht ein gemeinsames Behandlungskonzept», sagt er.
In der Westschweiz werden Operationen zur Geschlechtsumwandlung am Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) in Lausanne durchgeführt. Doer befürworter Olivier Bauquis, Chirurg am CHUV, ebenfalls die Einrichtung eines nationalen Zentrums. Allerdings hält er dessen Realisierung in naher Zukunft für unwahrscheinlich.
Für die unmittelbare Zukunft betont er «die Notwendigkeit einer Behandlung in einem universitären Umfeld durch ein multidisziplinäres Team, das aus Chirurginnen, Psychotherapeuten und spezialisierten Endokrinologinnen besteht».
Viele lassen sich lieber im Ausland operieren
Die Vereinigungen haben festgestellt, dass sich Transpersonen, die über die finanziellen Mittel verfügen, angesichts der aktuellen Situation dafür entscheiden, sich in Kompetenzzentren im Ausland operieren zu lassen. Auf ihrer Website nennt die Stiftung Agnodice Thailand, Belgien, die USA, Deutschland, Serbien oder Kanada.
«Mehrfache Operationen zur Behebung von Komplikationen und lange Arbeitsausfälle verursachen nicht nur Leid, sondern auch hohe Kosten.»
Lynn Bertholet, Präsidentin Épicène
Auch Lucas und Emma hätten sich lieber im Ausland operieren lassen, wenn sie es sich hätten leisten können.
«Ich habe bei meiner Krankenversicherung mehrmals beantragt, dass sie die Kosten für eine Vaginoplastik im Ausland übernimmt. Aber sie hat sich geweigert», bedauert Emma.
Sie glaubt, dass die Komplikationen, mit denen sie nun zu kämpfen hat, dadurch hätten vermieden werden können.
Die Krankenkassen erstatten grundsätzlich nur Operationen, die in einem öffentlichen Spital in der Schweiz durchgeführt wurden. Aber es gibt Ausnahmen.
Beispielsweise hatte eine Transfrau im Jahr 2015 erreicht, dass ihre Krankenversicherung die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation erstattete, die sie auf Grundlage des Gutachtens von Professor Monstrey in Thailand durchgeführt hatte.
Das Kantonsgericht des Kantons Waadt hatte der Versicherten Recht gegeben. Die Richterinnen und Richter waren der Meinung, dass eine in der Schweiz durchgeführte Operation für sie riskanter gewesen wäre.
«Operationen im Ausland zurückzahlen»
Solange es in der Schweiz kein nationales Kompetenzzentrum gibt, sollten die Krankenkassen laut Bertholet die Kostenübernahme für im Ausland durchgeführte Operationen akzeptieren.
«Mehrfache Operationen zur Behebung von Komplikationen und lange Arbeitsausfälle verursachen nicht nur Leid, sondern auch hohe Kosten. Tragen müssen diese die Kantone und die Krankenkassen», sagt sie.
Ihr Verein unterstützt derzeit einen Fall vor dem Bundesgericht, in dem versucht wird, die Anerkennung zu erwirken, dass diese Operationen in der Schweiz zu riskant sind.
Der Vorschlag scheint Santésuisse, den Dachverband der Schweizer Krankenversicherungen, bisher nicht zu überzeugen. «Die Krankenversicherer haben heute nicht das Recht, Operationen ausserhalb der Schweiz zu vergüten, unabhängig von der Art der Operation», sagt Santésuisse-Sprecher Christophe Kaempf auf Anfrage.
Bertholet ist es wichtig zu betonen, dass es keine generelle Lösung sei, sich in einem anderen Land operieren zu lassen. «Diese Eingriffe erfordern eine langfristige Nachbetreuung, die vor Ort nur schwer zu leisten ist», sagt sie.
*Namen der Redaktion bekannt
Transmenschen in der Schweiz
Ein Transmensch ist eine Person, die sich nicht mit dem Geschlecht identifiziert, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde.
Diese Menschen werden mit einem eindeutig männlichen oder eindeutig weiblichen Körper geboren, identifizieren sich aber mit dem anderen Geschlecht, mit einem Geschlecht zwischen den beiden (nonbinär) oder sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen (genderfluid).
Es ist schwierig, genau zu wissen, wie viele Transmenschen in der Schweiz leben, weil sie nicht erfasst werden. Studien kommen auf sehr unterschiedliche Zahlen.
Gemäss manchen Studien identifiziert sich eine von 200 Personen als Transgender, was etwa 40’000 Menschen in der Schweiz wären.
Andere Untersuchungen berücksichtigen nur Personen, die sich einer Genitaloperation unterzogen haben. Davon soll es im Land bloss einige Hundert geben.
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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