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Schweiz sagt Nein zu radikalen Experimenten

Der Prämienanstieg ist auch Ausdruck des medizinischen Fortschritts. Keystone

Die Schweizer Presse wertet das Nein zur Einheits-Krankenkasse als Bekenntnis zum existierenden System und als Absage an Experimente. Das Ansinnen der unterlegenen Westschweizer Kantone, eigene Einheitskassen einzuführen, beurteilen die meisten Kommentatoren als illusorisch und untauglich.

Der Vorschlag gleiche eher einem «verzweifelten Versuch» von «schlechten Verlierern», schreibt die Westschweizer Zeitung Le Temps. «Da ist noch nichts gewonnen», kommentiert die Freiburger La Liberté und erinnert daran, dass ein solches Projekt den Segen des Parlaments bräuchte. Doch die Versicherungen und ihre Lobby würden diesen nie erteilen.

«Untauglich» sei die Idee, urteilt das St. Galler Tagblatt: «Der Bund würde damit die Büchse der Pandora öffnen.» Denn das würde Begehrlichkeiten zur kantonalen Umsetzung anderer Volksentscheide wecken.

«Der Röstigraben war erwartet worden, jetzt ist er da», schreibt Le Temps und führt das Ja der frankophonen Kantone auf die im Schnitt höheren Krankenkassenprämien zurück, mit denen die Bevölkerung dort konfrontiert sei.

In der Deutschschweiz gebe es hingegen «ein grosses Misstrauen» gegenüber dem «Abenteuer Einheitskasse», die als «grosse, staatliche Maschine wahrgenommen» worden sei.

Unglaubwürdige Prämiensenkung

Krankenkassen-Aufsichtsgesetz

Nur wenige Tage vor der Abstimmung über eine Einheitskrankenkasse hat das Parlament die Aufsicht über die Krankenkassen verschärft.

Die wichtigste Neuerung: Das Bundesamt für Gesundheit als Aufsichtsbehörde erhält neue Eingriffsmöglichkeiten, darunter eine griffige Handhabe gegen zu hoch oder zu tief angesetzte Prämien.

Die Genehmigung kann beispielsweise verweigert werden, wenn die Prämien die Kosten nicht decken, unangemessen darüber liegen oder zur Bildung hoher Reserven führen. Das Gesetz definiert auch das Vorgehen für den Fall, dass eine Versicherung zu viel erhobene Prämien zurückerstatten will.

Das Problem der lästigen Werbeanrufe soll die Branche nach dem Willen des Parlaments selber lösen. Dazu erhält sie die Möglichkeit, eine Branchenvereinbarung abzuschliessen.

Neu sollen die Manager einer Krankenkasse gewisse beruflichen Fähigkeiten mitbringen müssen. Die Vorschriften zur Offenlegung des Entschädigungssystems wurden im Zug der parlamentarischen Auseinandersetzung abgeschwächt: Zwar soll der Gesamtbetrag der Entschädigungen von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung bekannt gegeben werden, ebenso der höchste auf ein einzelnes Mitglied entfallende Betrag. Namen müssen aber keine genannt werden.

Die vom Bundesrat vorgeschlagene Aufsicht über Versicherungsgruppen setzte sich nicht durch. Künftig soll die Aufsichtsbehörde aber Einblick bekommen in Transaktionen zwischen Grundversicherern und anderen Unternehmen.

Die Vorlage war lange Zeit umstritten und wurde zwischen den beiden Ratskammern hin und hergereicht. In der Herbstsession wurde sie nun buchstäblich durchs Parlament gepeitscht, um sie noch vor der Abstimmung unter Dach und Fach zu bringen.

«Keine Lust auf Radikalkur», titeln der Zürcher Tages Anzeiger und der Berner Bund ihren Kommentar. «Zumindest in der Deutschschweiz  ist die Vorstellung, nur einer Kasse ausgeliefert zu sein, abschreckend genug, um am System festzuhalten. Die etatistischere Romandie sah das erwartungsgemäss etwas anders.»

Die Mehrheit jedoch sei «mit der Gesundheitsversorgung zufrieden» und wolle diese nicht «mit einer milliardenteuren Radikalkur aufs Spiel setzen». Die von den Initianten versprochene Prämiensenkung sei «unglaubwürdig» erschienen. Das Nein zeige, dass das «Misstrauen gegenüber einem fiktiven staatlichen Krankenversicherer noch grösser ist als gegenüber den real existierenden Kassen».

Dennoch, so die beiden Zeitungen, habe die Abstimmung auch «ihr Gutes gehabt», denn nur unter ihrem Druck «waren bürgerliche Gesundheitspolitiker bereit, dem Bunde mehr Kompetenzen zur Kassenaufsicht zu geben».

Die Linke habe nach 2003 und 2007 zum dritten Mal mit ihrem Anliegen Schiffbruch» erlitten, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. «Das Bekenntnis des Stimmvolks zum geltenden System ist endlich auch von ihr zu akzeptieren.»

Dennoch seien die Schweizerinnen und Schweizer nicht «rundweg zufrieden mit dem geltenden System». Vielen bereiteten die «stetig steigenden Prämienkosten, die nicht zuletzt auch Ausdruck der demographischen Entwicklung» und des medizinischen Fortschritts seien, Sorgen.

Leidensdruck nicht hoch genug

Auch ein gewisses Gebaren der Krankenversicherungen – Jagd auf gute Risiken und Telefonwerbung – verärgere viele.» Deshalb sei die Politik gefordert, «über die bereits beschlossene Verfeinerung des Risikoausgleichs und das gutgeheissene Aufsichtsgesetz hinaus kostendämpfendende Massnahmen durchzusetzen», so die NZZ.

Die Schweizer seien «ganz offensichtlich zufrieden mit dem, was ihnen das Gesundheitssystem an Service und Qualität» biete. Trotz steigender Prämien sei der Leidensdruck nicht hoch genug, um eine Mehrheit für das «Experiment einer Einheitskrankenkasse» zu gewinnen, schreibt die Berner Zeitung.

Dennoch habe die Initiative trotzdem ihre Wirkung entfaltet. Denn erst vor dem angekündigten Urnengang und unter dem Eindruck des drohenden Systemwechsels wurden zuvor blockierte Reformen im Gesundheitswesen möglich». Es sei logisch, dass «weitere kostendämpfende Massnahmen folgen müssen», denn «je grösser nämlich der Anteil jener wird, die sich die Prämien nicht mehr leisten können, desto grösser ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich irgendwann eine Mehrheit auf das Einheitskassen-Experiment einlassen wird. Die nächste Abstimmung folgt bestimmt».

Und bei einer solchen, so prophezeit der Blick, könnte es knapp werden, wenn es mit den Prämienerhöhungen weitergehe wie bisher. Der Rückhalt für die Krankenkassen schwinde nicht nur bei den einzelnen Stimmbürgern, sondern auch in den Kantonen. «Das müsste den Krankenkassen und ihren Lobbyisten im Parlament schon zu denken geben.»

Heisse Eisen anpacken

Die Abstimmungssieger müssten nun «Reformvorschläge auf den Tisch legen und auch heisse Eisen anpacken». Dazu gehörten als «Kostentreiber die Kantone und die Ärztezunft», schreibt die Basler Zeitung: «Nichtstun wäre eine Einladung für die nächste Verstaatlichungs-Initiative von links.»

«Die wahren Gewinner sind die anderen», schreibt die Aargauer Zeitung mit Blick auf das Krankenkassen-Aufsichtsgesetz, welches das Parlament zwei Tage vor der Abstimmung verabschiedet hat. Die Initianten seien trotz der Niederlage die Gewinner, denn «sie konnten unter dem Druck der bevorstehenden Abstimmung Erfolge im Parlament verbuchen, die vor zwei Jahren noch ins Reich der Träume verwiesen worden wären».

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