80% oder warum in der Schweiz so viele junge Männer ertrinken
Emmeril Kahn Mumtadz, der Sohn des indonesischen Präsidentschaftskandidaten Ridwan Kamil, ist Ende Mai beim Baden in der Berner Aare ertrunken. Sein Tod hat international Betroffenheit und Kritik ausgelöst. Die Schweiz ist im Umgang mit ihren Gewässern liberal. Präventionsexperte Reto Abächerli erklärt, warum.
swissinfo.ch: 46 Personen sind in der Schweiz in den letzten zehn Jahren pro Jahr ertrunken. Auffällig: Über 80% sind Männer. Weltweit ist das Risiko für Männer, im Wasser zu sterben, dreimal so hoch wie für Frauen. Was sind die Gründe?
Reto Abächerli: Die hängt wohl mit Unterschieden in der Gefahrenexposition zusammen. Es scheint wahrscheinlich, dass sich weltweit Männer häufiger und wohl auch intensiver der Gefahr des Ertrinkens aussetzen. Sei dies beruflich (z.B. als Fischer oder Seeleute) oder in der Freizeit (z.B. mit waghalsigen Sprüngen ins Wasser oder durch den Aufenthalt in alkoholisiertem Zustand im, am und auf dem Wasser).
14% der Ertrunkenen in der Schweiz sind Ausländer:innen, während diese über ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Gibt es, wenn man die Statistik genauer aufschlüsselt, dennoch Tourist:innen, Ausländer:innen oder Menschen mit Migrationshintergrund, die überproportional gefährdet sind?
Sie sagen es richtig: 14% der Ertrinkungsopfer haben keinen Schweizer Pass. Wobei wir nicht genau sagen können, ob es sich um Menschen mit ausländischer Staatszugehörigkeit handelt, die in der Schweiz wohnen, oder um Tourist:innen.
Aber es stimmt, ihr Anteil ist nicht erhöht. Es ertrinken mehrheitlich Schweizerinnen und Schweizer, die hier aufgewachsen sind und die die Gewässer seit ihrer Kindheit kennen.
Dennoch gibt es bei Nicht-Einheimischen in einigen Fällen spezifische Gründe für Ertrinken: Etwa, dass sie die lokalen Gewässer nicht kennen oder dass ihre Schwimm-Fähigkeiten nicht so gut sind, wie in der Schweiz, wo der Schwimm- und Wassersicherheitsunterricht weitgehend institutionalisiert ist.
Auf jeden Fall wären viele Todesfälle vermeidbar. Und es gibt Verhaltensregeln, die vor dem Ertrinken schützen.
Und was sind die Verhaltensregeln?
Wer noch nie in einem Fluss geschwommen ist, sollte sich eine Begleitung suchen, die das regelmässig macht und die einem mit Rat und Tat zur Seite stehen kann.
Man sollte generell nie allein in einem Fluss schwimmen, sondern immer in Begleitung und ein Auftriebmittel, also etwa eine Schwimmboje, mitnehmen, die man auch vom Körper lösen kann. Die Schweizerische Lebensrettungs-Gesellschaft SLRG hat insgesamt sechs Baderegeln sowie sechs Flussregeln definiert.
Was offensichtlich viele auch nicht wissen: Man soll nicht an jeder beliebigen Stelle in den Fluss gehen.
Ganz genau, es ist sehr wichtig, dass man sich vorher erkundigt und am besten vom Ufer aus abklärt, wo sich die Einstiegsstellen und, noch wichtiger, die Ausstiegsstellen befinden. Die sind oft markiert.
In der Schweiz gibt es auch online verfügbare Schwimmkarten, auf denen diese Stellen eingetragen sind. Wichtig ist dabei auch, nicht die letzte Ausstiegstelle anzupeilen, sondern die erste. Die folgenden Ausstiegsstellen sind als Sicherheitsreserve zu betrachten: Wenn es mir nicht gelingt, bei der ersten Stelle rauszukommen, dann gäbe es noch die zweite und dritte.
Diese Dinge muss man in Erfahrung bringen, bevor man in das Wasser geht. Und wie erwähnt: Man erlangt diese Erfahrungen, in dem man mit routinierten Schwimmer:innen mitgeht. Schwimmen zu können allein reicht nicht.
Es ist ein No-Go, sich als Tourist:in ohne ausgiebige Erfahrungen und Ortskenntnisse in den Fluss zu wagen oder einfach mit Kolleg:innen, die ebenso wenig Erfahrung haben.
Kann man in jeder Jahreszeit in einen Fluss wie der Aare schwimmen?
Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt: Die Wassermenge und damit die Fliessgeschwindigkeit und der Wasserdruck. Wenn die Strömung zu stark und der Wasserdruck zu gross ist, wird es gefährlich. Auch hier zählt die Erfahrung. Man kann sich zwar auf den Online-Portalen der Messstationen informieren, und es gibt dort auch Tipps und Tricks.
Diese Abklärungen muss man vor dem Schwimmen machen. Aber wenn man noch nie zuvor in einen Fluss gegangen ist, dann helfen diese Abklärungen nicht viel. Man muss dann sich begleiten lassen.
Dazu kommt die Gefahr der Strömungen. Wo kann man lernen, mit Strömungen umzugehen?
Es gibt in einzelnen Städten Angebote, wo man das lernen kann. Aber auch hier braucht es ein behutsames, sorgfältiges und sicheres Herantasten. Und das geschieht nicht von heute auf morgen. Da muss man ein bisschen Zeit investieren.
Anfänger:innen sollen generell strömungsreiche Abschnitte meiden. Lieber ein langsames Herantasten und sich mit den Eigenschaften eines Fliessgewässers vertraut machen. Mit genug Übung und Routine können sodann auch stärkere Strömungsabschnitte mit kalkulierbarem Risiko bewältigt werden.
Nachdem der Sohn des indonesischen Gouverneurs und Präsidentschaftskandidaten Ridwan Kamil während des Schwimmens in die Aare ertrunken ist, erhielt der Fluss auf Google Hunderte negative Rezensionen.
Doch in der Schweiz wird immer wieder davor gewarnt, ohne die entsprechenden Erfahrungen in Flüssen zu schwimmen. Dazu gibt es verschiedene Online-PortaleExterner Link und das Schweizerische Rote Kreuz bietet ausführliche InformationenExterner Link über Bade-/Flussregeln und verschiedene Präventions-Kampagnen in 12 verschiedenen Sprachen an.
Auch auf der Tourismus-Website Bern.chExterner Link wird davor gewarnt, dass nur fortgeschrittene Schwimmer:innen in der Aare schwimmen sollen. Zusammen mit verschiedenen Partnerorganisationen lancierte die Stadt Bern zudem die Kampagne «Are you safe?»,Externer Link um die Bevölkerung u. a. mit Tafeln am Ufer auf die Gefahren in und an der Aare aufmerksam zu machen. Ein besonderes Augenmerk wird auf nicht-einheimische Aareschwimmer:innen und Schlauchbootfahrer:innen gelegt wie Tourist:innen und Neuankömmlinge in der Region.
Sie haben sicherlich die Kritik an der Aare nach dem Ertrinken des Sohnes des hochrangigen indonesischen Politikers mitverfolgt. Sind Schweizer Flüsse per se gefährlich?
Ich kann diese Reaktion aus einer ausländischen Perspektive verstehen, weil in den wenigsten Ländern dieser Welt so in Flüssen geschwommen wird wie in der Schweiz. Das Schwimmen in den Flüssen ist eine Kultur-Kompetenz, die sich hier entwickelt hat und die weltweit wenig verbreitet ist. In anderen Ländern würde man in Flüssen nie schwimmen, sondern man nutzt die Flüsse einfach als Transportwege.
Deswegen kam auch die Aufforderung von einigen Indonesierinnen, den Fluss zu sperren?
Aus externer Perspektive kann man sich die Frage stellen, wieso es überhaupt erlaubt ist, in Flüssen zu schwimmen. Aber die Philosophie der Schweizerischen Lebensrettungs-Gesellschaft ist Prävention.
Verbote sind schön und gut, dennoch ertrinken Menschen, und es passieren Unfälle. Unser Ansatz ist: Wir müssen die Kompetenzen der Menschen im Umgang mit diesen Gewässern stärken
Das klingt nach einem typisch schweizerischen Ansatz: Eigenverantwortung wird betont, die Freiheit aller höher gewichtet als die Risiken einzelner.
Genau. Ich merke immer wieder im Austausch mit Kolleg:innen aus dem Ausland, dass wir ganz andere Prioritäten setzen. In anderen Ländern wird die Verantwortung häufig an eine dritte Person oder den Staat delegiert, indem man mehr Aufsicht installiert oder Verbote erlässt.
In der Schweiz legen wir den Fokus auf die Verhaltensprävention. Für die Schweiz scheint dieser Weg passend zu sein. Die Ertrinkungsrate ist im internationalen Vergleich tief.
Bei über 80% der Ertrinkungsunfälle mit Todesfolge in der Schweiz sind Personen männlichen Geschlechts betroffen. Weltweit sind es rund 75%. Männer haben also ein dreimal höheres Ertrinkungsrisiko als Frauen. Junge männliche Erwachsene weisen sogar ein neunmal höheres Risiko auf. Mögliche Erklärungen sind soziokulturelle Bedingungen wie zum Beispiel eine höhere Wasserexposition, oder aber eine erhöhte Risikobereitschaft oder Alkohol- und DrogenkonsumExterner Link.
Im Jahr 2019 sind weltweitExterner Link schätzungsweise 236’000 Menschen ertrunken, was das Ertrinken global zu einem der grössten Probleme der öffentlichen Gesundheit macht. Ertrinken ist in allen Weltregionen eine der zehn häufigsten Todesursachen für Menschen im Alter von 1 bis 24 Jahren.
Editiert von Marc Leutenegger.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch