«Bitte retten Sie uns!»
Die Polin Milena Nowak lebt in einem Vorort von Zürich und hat eine ukrainische Flüchtlingsfamilie bei sich aufgenommen. Der Kontakt entstand über eine Facebook-Nachricht, welche der 16-jährige Eldar verschickt hat.
«Mit offenem Herzen bitten wir Sie, uns vor der russischen Aggression zu retten.» Am 4. März fand die polnische Staatsangehörige Milena Nowak diese Nachricht in ihrem Facebook-Messenger-Account. Die Finanzmanagerin lebt in der Agglomeration von Zürich.
Der Name des Absenders war Eldar, ein Gymnasiast aus der Nähe von Zhytomyr in der Westukraine. Die Nachricht war auf Englisch verfasst. Der Name seiner Mutter sei Helena und er habe eine zweijährige Schwester namens Liubava. In der Nachricht heisst es weiter, dass sein Vater wegen des Krieges in der Ukraine bleiben müsse, dass aber die restliche Familie an einem sicheren Ort in Europa Zuflucht suchen wolle.
Zudem teilte Eldar mit, dass seine Mutter Dozentin an der örtlichen Universität und er selbst der Gründer eines Start-ups sei. Er studiere Deutsch und liebe die Schweiz.
In der Region Zhytomyr waren die Bewohner massivem russischem Beschuss ausgesetzt. «Meine Schule wurde bei einem Angriff zerstört. Raketen können uns jeden Moment töten. Bitte retten Sie uns. Ich will, dass meine Familie am Leben bleibt. Bitte geben Sie uns eine Chance, ein glückliches Leben zu führen.»
Seit Ausbruch des Krieges postete Milena auf Facebook häufig Informationen zur Unterstützung von Flüchtlingen durch die Schweizer Behörden. Sie hatte Eldar jedoch noch nie getroffen und war überrascht, eine solche Nachricht zu erhalten. Sie vermutet, dass die grosse Anzahl von Flüchtlingen in Polen den Teenager dazu veranlasst hatte, sich weiter westlich in Ländern mit mehr Aufnahmekapazitäten umzusehen.
2000 Kilometer in drei Tagen
Milena lebt allein in ihrer Wohnung. Sie hatte nur drei Tage Zeit, alles für die Aufnahme der Familie vorzubereiten. Über die sozialen Medien bat sie um Kleider- und Schuhspenden. Kurz darauf trafen drei Kartons mit Hilfsgütern ein, darunter ein Kinderwagen für Liubava und ein Schlafsofa für Eldar.
Milena kaufte einige Möbel, eine Kiste für Kleidung und einen Kindertisch für Liubava, aber der Rest wurde durch Spenden finanziert. «Ich war beeindruckt, dass viele Menschen so schnell geholfen haben», sagt sie gegenüber SWI swissinfo.ch.
Eldars Familie kam erschöpft in Zürich an, nachdem sie in drei Tagen 2000 Kilometer von der Ukraine bis in die Schweiz zurückgelegt hatten. Direkt nach ihrer Ankunft duschten sie und gingen schlafen. Milena hatte für ihre neuen Gäste eine Hühnersuppe gekocht, die sie am nächsten Tag assen.
«Meine neue Familie»
Obwohl die Familie einen sicheren Ort gefunden hat, ist sie weiterhin in grosser Sorge. Helenas Mann hält sich in der Ukraine auf und transportiert medizinische Hilfsgüter. Sie stehen täglich in Kontakt. Manchmal kommen Helena die Tränen, wenn sie die Nachrichten über den Krieg sieht.
Milena hat Eldar einen alten Laptop geschenkt, damit er mit seinen Freunden, die aus der Ukraine geflohen sind, in Kontakt bleiben kann.
Sie leben jetzt alle zusammen in Milenas 40-Quadratmeter-Wohnung. Helena und Liubava nutzen ein Gästezimmer und Milena schläft in ihrem eigenen Schlafzimmer. Für Eldar steht im Wohnzimmer ein Schlafsofa zur Verfügung. Milena und Helena wechseln sich bei der Zubereitung der Mahlzeiten ab. An einem Tag bereitet Milena vegetarisches Essen zu, am nächsten Tag macht Helena Fleischgerichte.
Wenn die Familie spazieren geht, bringt Helena, die Pflanzen liebt, Milena die Namen der Blumen bei. Sie sprechen über das Leben in der Ukraine, ihre Familie und das Essen. «Wir reden über so viele Dinge, mal auf Englisch, mal auf Polnisch, mal auf Ukrainisch», sagt Milena gegenüber swissinfo.ch. Milena nennt die ukrainische Familie ihre neue «moja rodzinka», was auf Polnisch «meine Familie» bedeutet.
Die Gemeinde Pfäffikon, in der Milena wohnt, war sehr hilfsbereit bei der Bearbeitung des Asylantrags der Familie und bei der Vermittlung einer Schule für Eldar. Er kann bereits eine örtliche Schule besuchen. Die Familie wird voraussichtlich in Milenas Wohnung bleiben, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hat.
Milena Nowak meint: «Jeder von uns kann vielleicht nur eine Kleinigkeit tun. Wer kein Zimmer zur Verfügung stellen kann, kann vielleicht Geld oder Kleidung spenden. Die vielen kleinen Schritte werden sich summieren und zu einer grossen Unterstützung werden.»
(Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob)
Gerhard Lob
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