Schweizer Ärztin: in Kenia eine Heilige, Zuhause schwer belastet
In einer Propellermaschine fliegt eine Schweizer Ärztin jahrzehntelang durch Kenia, um die Ärmsten zu behandeln. Erst nach ihrem Tod wird bekannt, was sie während des Zweiten Weltkriegs tat. War ihr halbes Leben der Versuch, Busse zu tun?
Als Anne Spoerry stirbt, ist sie achtzig Jahre alt und eine Heldin. Im Februar 1999 erliegt die Schweizerin einem Schlaganfall. Seit beinahe fünfzig Jahren hat sie zu diesem Zeitpunkt als Ärztin in Kenia gearbeitet, unermüdlich, bis kurz vor ihrem Tod.
«Mama Daktari» nennen die Menschen sie hier respektvoll, «Doktor Mama». Viele sehen in ihr eine Heilige. Zu den Gedenkanlässen in Nairobi strömen Tausende, unter ihnen zahlreiche Minister und Diplomaten.
Auch in Europa ist Spoerry bekannt. Bereits in den 1970er Jahren erscheinen Filme, Medienberichte und Porträts. Ihre Geschichte fasziniert: Erst mit 46 Jahren erwirbt sie den Flugschein. Sie kauft sich eine kleine Piper-Propellermaschine und fliegt fast täglich zu Patienten in die entferntesten Ecken Kenias, meist allein, nicht selten mit erheblichem Risiko.
Spoerry rettet viele Leben. «Sie macht die Arbeit eines ganzen Spitals», steht einmal in einem Artikel. Sie habe ein «Herz aus Gold», in einem anderen. «Verehrt und geachtet als legendäre fliegende Ärztin», schreibt man nach ihrem Tod auf ihren Grabstein in Kenia.
Erst Jahre später kommt heraus, dass das nicht die ganze Geschichte war.
Die unermüdliche «Mama Daktari»
Es ist der Herbst 1948, als Anne Spoerry ihren Wohnort Männedorf am Zürichsee verlässt. Im Hafen von Marseille steigt sie auf einen Frachter. Das Schiff gehört einem Freund ihres Vaters, er hat ihr einen Posten als Schiffsärztin verschafft. Zwei Jahre später, mit Anfang dreissig, trifft Spoerry nach Zwischenstopps in Jemen und Äthiopien in Kenia ein – und beschliesst zu bleiben.
Wieso sie ihre Heimat drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verlässt, ist unklar. «Es war die Zeit, als alle jungen Leute die Hoffnung hatten, eine andere Welt zu finden, wohin man vor den blutigen Auseinandersetzungen und den bösen Erinnerungen an den Krieg fliehen konnte», schreibt sie später in ihrer Autobiografie, die 1994 erscheint.
Darüber, wie Spoerry die Kriegsjahre selbst erlebt hat, erfährt man auf den knapp 300 Seiten kaum etwas. Fast beiläufig schreibt sie, dass sie während des Kriegs rund zwei Jahre in Haft verbrachte, weil sie sich als Medizinstudentin in Paris in der französischen Résistance engagierte.
Über ein Jahr war sie in Ravensbrück interniert. Das Frauenkonzentrationslager nördlich von Berlin war das grösste seiner Art – und ein Ort des Schreckens. Die Häftlinge mussten Zwangsarbeit leisten, wurden erniedrigt und gefoltert, Zehntausende starben.
Floh Spoerry vor den Erinnerungen an den Krieg? Begann sie in Ostafrika ein neues Leben, weil sie die Erlebnisse in Ravensbrück verfolgten?
Die ersten Jahre in Kenia verbringt die Schweizerin, die auch den französischen Pass besitzt, auf einer Farm nördlich von Nairobi. Mit ihrem Peugeot 203 besucht sie jeden Tag ihre kenianischen und europäischen Patientinnen und Patienten. Mit Mitte vierzig schliesst sie sich einer Hilfsorganisation an, die Ärztinnen und Ärzte mit Kleinflugzeugen in abgelegene Gegenden des Landes bringt. Spoerry erwirbt den Flugschein, kauft eine Propellermaschine und fliegt fortan, sooft sie kann, in kleine Dörfer, meist im Norden Kenias.
Wo Spoerry landet, warten oft Dutzende von Patientinnen und Patienten. Manchmal ist monatelang kein Arzt in den entlegenen Orten gewesen. Auf Filmaufnahmen trägt sie oft eine Baseballmütze und ein blaues Hemd.
«Mama Daktari» stellt ihren kleinen Behandlungstisch direkt neben das Flugzeug oder unter einen Baum. Sie nimmt die Medikamente aus ihrer schwarzen Ärztetasche, dann beginnt die Konsultation. Zuerst kommen die Kinder und die Mütter an die Reihe, dann alle anderen. Spoerry verabreicht Impfungen, reisst Zähne heraus, richtet Knochenbrüche.
Weggefährten beschreiben sie als abenteuerlustig und anpassungsfähig, bisweilen soll sie ruppig und aufbrausend sein, aber stets bemüht, Gutes zu tun. Besonders oft wird Spoerry als unermüdlich beschrieben. 20’000 Patienten versorge sie jährlich, heisst es. Manche sagen später, niemand habe zu jener Zeit in Afrika so viele Leben gerettet wie sie.
Die unbeantwortete Frage
Es dauert nicht lange, bis Journalisten auf Spoerry aufmerksam werden. Einen zieht die fliegende Ärztin besonders in ihren Bann, den Amerikaner John Heminway. «Ich war neugierig, fasziniert. Ich wollte herausfinden, was sie antrieb», sagt er heute am Telefon.
Zum ersten Mal begegnet er der Schweizerin 1980, in ihrem Büro, einem kleinen Bungalow beim Wilson Airport in Nairobi. Spoerry nimmt ihn im Flugzeug mit in den Norden Kenias, sie lässt ihn für einige Tage bei ihrer Arbeit zuschauen. Als Heminway sie eines Abends nach ihren Erlebnissen während des Krieges fragt, wird Spoerry wütend. «Sie sagte, das habe nichts mit ihrer Arbeit hier zu tun. Ich sei schliesslich da, um über ihr Leben in Afrika zu berichten. Nur das zähle», erinnert sich der Journalist.
In den Folgejahren berichtet Heminway immer wieder über Spoerry. Die beiden werden Freunde. Heminway spricht den Krieg noch einige Male an, doch Spoerry blockt stets ab. Anderen Journalisten ergeht es gleich. In einem Interview in den 1980er Jahren sagt Spoerry über ihre Haft in Ravensbrück: «Es ist vorbei. Es hat keinen Sinn, darüber zu reden.»
«Ich dachte, sie wollte nicht über die Zeit sprechen, weil es so schmerzhaft für sie war», erinnert sich Heminway. «Ich dachte, dass sie von den Deutschen gefoltert wurde, vielleicht verstümmelt. Und dass mich das nichts angeht.»
Heminway irrte sich.
Ein Jahr nach Spoerrys Tod übergibt ihm der Neffe der Ärztin, Bernard Spoerry, einen Papierstapel. Er habe ihn nach dem Tod seiner Tante in ihrem Safe gefunden. «Eines der Dokumente raubte mir den Atem», sagt Heminway. Es ist eine Liste mit Namen, erstellt von den Westalliierten. Darauf finden sich flüchtige Personen, die unter dem Verdacht stehen, bis 1945 Kriegsverbrechen begangen zu haben. Acht Schweizer und eine Schweizerin sind aufgeführt.
Die Schweizerin ist Anne Spoerry, «gesucht wegen Folter».
Schwere Vorwürfe
Was tat Spoerry während des Kriegs? Was ist die Geschichte, die sie nie erzählen wollte? Die Geschichte, die sie in Europa zurückliess, als sie nach Afrika ging.
Wer heute, rund 75 Jahre später, nach Antworten sucht, findet sie in einem kühlen Betonbau im Irchelpark am Fusse des Zürichbergs. In weissen Mappen, nach Datum geordnet und sauber durchnummeriert, sind die Gerichtsakten zum Fall Spoerry im Staatsarchiv des Kantons Zürich abgelegt. Dank dieser akribischen Archivierung lässt sich Spoerrys Geschichte ziemlich genau rekonstruieren.
An einem milden Januarsonntag im Jahr 1947 trifft im Bezirksgefängnis von Meilen um 18 Uhr ein Gefangenentransport ein. Im Wagen: Anne Spoerry. Die 29-Jährige ist einige Stunden zuvor in einem Ferienhaus in Lenzerheide verhaftet worden. Einen Tag später durchsucht die Polizei das Wohnhaus der Inhaftierten im Nachbarort Männedorf, ein stattliches Patriziergebäude an der Seestrasse. Am selben Tag wird Spoerry drei Mal einvernommen.
Die Vorwürfe wiegen schwer: «Wegen Mord in Untersuchungshaft versetzt», steht im Protokoll der Bezirksanwaltschaft. Hinzu kommen Gehilfenschaft bei Mord, Körperverletzung und Tätlichkeit. Heute spräche man von Kriegsverbrechen; dieser Tatbestand findet aber erst zwanzig Jahre nach Spoerrys Verhaftung Eingang ins schweizerische Strafrecht.
Spoerry soll die Straftaten während ihrer Zeit in Ravensbrück begangen haben. Dort war sie als Häftlingsärztin bald nach ihrer Ankunft für die medizinische Versorgung in ihrem Block zuständig. Doch laut der Anklage tat Spoerry in mehreren Fällen das Gegenteil von dem, was Ärzte normalerweise tun: Sie misshandelte andere Frauen, schickte sie in den Tod und tötete selbst.
Die Protokolle der ersten Verhöre vermitteln den Eindruck einer Frau ohne Reue und Selbstkritik. «Das macht mich lachen. Ach nein, das stimmt nicht», antwortet sie auf die Frage, ob sie tödliche Injektionen an Häftlingen vorgenommen habe. Auch den Vorwurf, Insassinnen für die Vergasung selektioniert zu haben, bestreitet sie. Spoerry gibt aber zu, Häftlinge geschlagen und im Winter im Waschraum mit kaltem Wasser übergossen zu haben. «Ob sich die Frauen dadurch erkälteten, weiss ich nicht», sagt sie.
«Grauenhaftes Verhalten»
Zehn Tage nach Spoerrys Verhaftung wird in Meilen die erste Belastungszeugin einvernommen. Die ehemalige Mitinsassin beschreibt Spoerrys Verhalten als «grauenhaft». Sie beschuldigt die Ärztin, für den Tod zahlreicher Frauen verantwortlich zu sein.
Die von Spoerry durchgeführte Zwangsmassnahme im Waschraum beschreibt sie so: «Die Hände wurden den Frauen mit einem Lederriemen auf den Rücken gebunden. Im Waschraum drückte man sie in einen grossen Trog mit Wasser und liess eiskaltes Wasser vom Hahnen über die Kranken laufen.»
Insgesamt kommen die Ermittlungen am Zürichsee im Frühjahr 1947 nur schleppend voran. Ein Grund dafür ist der schwierige Zugang zu weiteren Zeuginnen. Ein anderer ist die Staatsanwaltschaft selbst: Ihr Wille zu weitergehenden Ermittlungen hält sich in Grenzen.
Bereits sechs Wochen nach Spoerrys Inhaftierung scheint die Meinung des zuständigen Bezirksstaatsanwalts gemacht. «Ich glaube kaum, dass der Fall zu einer Anklage kommen wird», schreibt er in einer Notiz. Die bis dato einzige Belastungszeugin hält er für unglaubwürdig. Schliesslich habe es gegen sie selbst schon gerichtliche Ermittlungen gegeben, ausserdem sei sie «zum 4. Mal verheiratet».
Am 7. März 1947 wird Anne Spoerry gegen eine Kaution von 30 000 Franken aus der Haft entlassen. Die Ermittlungen laufen bis Dezember weiter. Dann, einen Tag vor Weihnachten, schliesst die Staatsanwaltschaft ihren Ermittlungsbericht ab. Wenig später wird das Verfahren «mangels schlüssigen Schuldbeweises» definitiv eingestellt.
Knapp ein Jahr später wandert Spoerry nach Afrika aus. Ihre Vergangenheit lässt sie zurück – bis zu ihrem Tod spricht sie nie mehr öffentlich über ihre Erlebnisse in Ravensbrück.
Schweigt sie, weil sie doch nicht unschuldig war?
Der «schwarze Engel»
Als John Heminway im Jahr 2000 die Akten aus Spoerrys Safe erhält, macht er sich auf die Suche nach einer Antwort. Er besucht Archive in Frankreich, Grossbritannien und in der Schweiz. Der Journalist versucht zu rekonstruieren, was in den sechzehn Monaten geschah, die Spoerry in Ravensbrück verbrachte.
Bei seiner Recherche fällt ihm der Name einer weiteren Schweizerin auf: Carmen Mory. Die Frau aus Adelboden ist in Ravensbrück inhaftiert, weil sie als deutsch-französische Doppelagentin gearbeitet haben soll. Als Spoerry in dem Konzentrationslager der Gefangenenbaracke 10 zugewiesen wird, ist Mory dort Blockälteste, also Gefangene mit Aufsichtsfunktion.
Die beiden Schweizerinnen freunden sich an, bald teilen sie ein Zimmer. Mitinsassinnen reden später gar von einer Liebesbeziehung. Spoerry übernimmt unter Mory die medizinische Versorgung der Mithäftlinge in Block 10 – und steht dabei offenbar in deren Bann. Mory gilt als skrupellos, manipulativ und gewaltbereit.
Ihre Mitinsassinnen nennen sie den «schwarzen Engel». Was das heisst, erfährt die Welt zwei Jahre nach Kriegsende: Vor einem britischen Militärgericht in Hamburg wird Mory wegen mehrfacher Tötung und Misshandlung in Block 10 zum Tod verurteilt. Kurz darauf begeht sie Suizid.
Alle Verbrechen, die Spoerry später in der Schweiz angelastet werden, soll sie während der knapp fünf Monate in Block 10 begangen haben – unter Morys Leitung, teilweise in Zusammenarbeit mit ihr. Ein «Teufel» sei sie, der sie «verwünscht» habe, soll Spoerry laut einer Mitinsassin über Mory gesagt haben, nachdem sie Block 10 verlassen hatte.
Heminways Recherchen scheinen das zu bestätigen. Er trifft drei Französinnen, die mit Spoerry in Block 10 inhaftiert waren. Eine der Frauen erzählt ihm, wie Spoerry einem polnischen Mädchen eine tödliche Injektion verabreicht habe. «Sie zögerte nicht», sagt sie, «ich war sprachlos.» Eine andere beschreibt, wie eine Insassin gestorben sei, nachdem Spoerry sie geschlagen und mit kaltem Wasser überschüttet habe.
Heminway ist geschockt. Ist tatsächlich die Frau gemeint, die er in Kenia so bewundert hatte?
Fast zehn Jahre lang befasst sich der Journalist mit dem Fall. 2018 veröffentlicht er seine Recherche als BuchExterner Link. Darin vermag er zwar nicht alle Fragen zu Spoerrys Zeit in Block 10 zu beantworten. Für ihn gibt es aber wenig Zweifel an ihrer Schuld: «Ob Spoerry all das tat, was ihr vorgeworfen wurde, kann ich nicht sagen. Klar aber ist: Sie tat schlimme Dinge.»
Profitierte Spoerry vom Nachkriegs-Zeitgeist in der Schweiz?
Dass man bei den Ermittlungen am Zürichsee 1947 zu einem anderen Schluss kommt, hat verschiedene Gründe: das Fehlen handfester Beweise, der schwierige Zugang zu Zeuginnen, Spoerrys umtriebiger Anwalt, der gar ein graphologisches Gutachten zur Diskreditierung einer Belastungszeugin anfertigen lässt.
Vor allem aber lässt der 51-seitige Schlussbericht der Behörden in Meilen vermuten, dass Spoerry entscheidend von der damaligen geistigen Haltung in der Schweiz profitiert. Eine kritische Reflexion zur eigenen Rolle im Krieg gibt es hierzulande 1947 noch kaum. Weder die Bevölkerung noch die Justiz zeigt ein Interesse daran, das Wirken der Schweiz in Nazideutschland gebührend aufzuarbeiten.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Spoerry von den Ermittlern als Opfer, nicht als Täterin gesehen wird – und dass Grautöne offenbar ausgeblendet werden. Sie zeichne sich durch «bemerkenswerten Mut und unerschütterliche Tapferkeit» aus, steht im Schlussbericht. Auch «Intelligenz, Gewissenhaftigkeit und Rechtschaffenheit» werden ihr zugeschrieben.
Ganz anders schätzen die Zürcher Ermittler die vier weiteren Belastungszeuginnen ein, deren Aussagen ihnen nur schriftlich vorliegen. Diese – in der Mehrheit Kommunistinnen, wie ohne Beleg behauptet wird – hätten «aus einer gewissen Animosität heraus Tatbestände und Sachbestände aggraviert». Zudem spiele das «Pathos die überwiegende Rolle in ihren Aussagen und beeinträchtigt daher die Sachlichkeit».
Zwei der Zeuginnen, die im Schlussbericht aus Meilen erwähnt werden, hat John Heminway rund sechzig Jahre später getroffen. Seine Einschätzung ist eine andere: «Sie waren sehr überzeugend.»
Getrieben von dem Wunsch, Busse zu tun?
Was genau sich Anne Spoerry in Ravensbrück zuschulden kommen liess, ist nicht mehr zu eruieren. Ihre Wandlung von der mutmasslichen Kriegsverbrecherin im deutschen KZ zur Wohltäterin in Kenia wirft vor allem Fragen auf: Waren die Taten, die sie in Ravensbrück begangen haben soll, angesichts der schrecklichen Zustände im Lager entschuldbar – vielleicht sogar überlebensnotwendig? War ihre Reise nach Kenia eine Flucht vor der Justiz, aber auch vor alten Weggefährten, die über ihre Zeit in Block 10 Bescheid wussten? Wollte Spoerry in Afrika Busse tun? War ihr zweites Leben der unermüdliche Versuch, ihr erstes vergessen zu machen?
«Anne hätte sicher nicht überlebt, wenn sie nicht getan hätte, was Carmen Mory ihr sagte», sagt Bernard Spoerry, der Neffe. Der heute 72-Jährige verbringt seit langem einen Teil seines Lebens in Kenia. Dort sah er seiner Tante zu, wie sie Gutes tat. Die beiden hatten eine enge Beziehung.
Von den Geschehnissen in Ravensbrück habe Bernard erst kurz vor Anne Spoerrys Tod erfahren. Einmal habe ein Onkel erwähnt, dass Anne sich für ihre Taten vor Gericht habe verantworten müssen. Später habe ihm eine Mitinsassin erzählt, was seiner Tante zur Last gelegt wurde. «Da hat vieles Sinn ergeben», sagt Bernard Spoerry. Das Schweigen seiner Tante über jene Zeit, auch die Stille der Familie. Doch Wut oder Bestürzung hätten die Anschuldigungen bei ihm nicht ausgelöst. «Wenn ich in einer solchen Situation gewesen wäre, hätte ich alles getan, um meine Haut zu retten.»
Für den Journalisten John Heminway sind die Dinge komplizierter. «Ihr Verhalten in Ravensbrück war entsetzlich. Es war diabolisch, extrem bösartig», sagt er. Er glaubt, dass Spoerry nach Kenia ging, um ihrer Vergangenheit zu entkommen. Gefragt, ob er ihr verzeihen könne, erzählt Heminway von einer der Frauen, die er für sein Buch interviewt hat. Als Mitinsassin im Block 10 hatte sie Spoerrys Taten aus der Nähe erlebt.
«Wenn ich sie nach dem Krieg auf der Strasse gesehen hätte, hätte ich ihr den Rücken gekehrt und mich geweigert, ihre Existenz zur Kenntnis zu nehmen», sagte sie dem Journalisten. «Aber heute, mit dem, was ich nun über ihr Leben in Afrika weiss, würde ich sie umarmen.» So ähnlich gehe es auch ihm, sagt Heminway. «Ihr Leben in Afrika kam dem einer Heiligen nahe.»
«Es gibt keine Abkürzung»
Und Spoerry selbst? Hat sie sich am Ende mit ihrer Vergangenheit versöhnt? Klar scheint, dass sie bis zuletzt glaubte, dass ihre Arbeit in Kenia noch nicht zu Ende war. «Sie war getrieben», sagt Heminway. Als «zwanghaft» bezeichnet ihr Neffe Bernard ihren Eifer. «Sie fühlte sich nur gut, wenn sie arbeitete.»
«Es gibt keine Abkürzung. Man setzt sich erst zur Ruhe, wenn man seinen Job nicht mehr machen kann», sagte Spoerry wenige Jahre vor ihrem Tod in einem Interview. «Wenn man aufhört zu arbeiten, ist das wie eine Niederlage.»
Kann ein Mensch Untaten abgelten, indem er später Gutes tut? Vielleicht hat auch Anne Spoerry sich diese Frage immer wieder gestellt. Vielleicht hat sie bis zuletzt keine Antwort gefunden. Und deshalb einfach immer weitergemacht.
Dieser Artikel Externer Linkerschien am 17.2.2021 in der Neuen Zürcher Zeitung. Die Wiedergabe an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Verlags.
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