Schweizer China-Philosoph im Elend: China hat sein Lebenswerk kopiert
Philosophie ist die Liebe zur Weisheit. Der chinesischen Philosophie widmete der Schweizer Professor Iso Kern sein Leben. Dann macht sein chinesischer Lieblings-Schüler etwas sehr Unweises. Er gibt Kerns Werk heraus. Als Raubkopie.
Fernab vom Trubel der Stadt steht ein kleines Holzhaus, umgebaut aus einem einstigen Bauernhaus. Bis unter das Dach ist es gefüllt mit Büchern.
Hier lebt Iso Kern, im Dorf Krattigen am Thunersee im Berner Oberland. Der 85-Jährige schreibt noch immer, sechs bis sieben Stunden pro Tag.
Ein altes Radio, ein schnurgebundenes Telefon und seine E-Mail-Adresse, das sind seine Drähte zur Aussenwelt. Nach den Worten seiner chinesischen Frau ist er hier ganz in die Welt der Philosophie abgetaucht.
Seit er pensioniert ist, lebt er hier, seit 20 Jahren. Friedlich, ruhig, so dachte er. Doch dann geschah etwas. Das brachte sein Leben durcheinander.
Man muss wissen: Iso Kern ist in China bekannt als Geng Ning. Er ist dort eine Koryphäe der Philosophie. Er hat sein Leben dem Studium des chinesischen Philosophen Wang Yangming gewidmet.
Damit schlug er eine Brücke zwischen der östlichen und der westlichen Philosophie. Diese Brücke ist sein Lebenswerk, gross, robust und strahlend.
Es ist Juli 2022. Ein Kamerateam aus Hongkong kommt nach Krattigen. Sie drehen eine Dokumentarserie mit dem Titel «The Hanologist». Iso Kern spielt in diesem Film die Hauptrolle. «Erst so erfuhren die Leute in Krattigen, dass ein so namhafter Professor in ihrem Dorf wohnt.»
Demut und Fleiss
Das sagt die Regisseurin und Produzentin des Films, Liu Yi. Sie will Iso Kerns komplettes Leben darstellen. Darum besucht sie mit ihrem Team nicht nur sein Haus in Krattigen. Sie reist auch weiter, zur Universität Leuven in Belgien. Dort arbeitete Iso Kern als junger, frisch promovierter Philosoph.
Diese Geschichte dreht sich um eine Arbeit Kerns aus dieser Zeit. Es ist eine Geschichte von Demut und Fleiss. Von Freundschaft, Verrat und einem Riss so schmerzhaft weit, dass keine Brücke ihn mehr schliessen kann.
Im Zentrum der Geschichte steht die dreibändige deutsche Ausgabe der sogenannten Husserl-Sammlung. Edmund Husserl war ein deutscher Philosoph, er gilt als Begründer der Phänomenologie.
Grob gesagt sah Husserl die Philosophie als erste aller Wissenschaften, von der sich alles ableitet. Und in aller Wissenschaft sollte laut Husserl ein gegebenes Phänomen den Ausgangspunkt für allen Erkenntnisgewinn bilden.
Das ist keine leichte Kost. Eine immense Arbeit war das auch für Iso Kern. Als er jung war, hat er Husserls hinterlassene Stenogramme – 40’000 Blätter – erforscht und veröffentlicht. «Zur Phänomenologie der Intersubjektivität», lautete der Titel.
Es war eine Übung in Demut. «Husserls Philosophie ist sehr schwer zu verstehen, ich brauchte dafür zwei Jahre», sagt er. Doch zunächst musste Kern Husserls Texte erstmal finden und zusammenstellen, dann die krakelige Steno-Schrift in ein modernes Deutsch übertragen.
Zwei weitere Jahre allein, um die Stenografie Husserls lesen zu können. «Es brauchte zehn Jahre, bis sie 1973 erscheinen konnten», sagt Iso Kern.
Freundschaft und Verrat
In Krattigen will Dokumentarfilmerin Liu Yi wissen, ob es diese Sammlung auch in chinesischer Sprache gibt.
Nein, sagt Iso Kern.
Aber Liu Yi findet die chinesische Version im Internet.
Sie wurde 2018 herausgegeben. Name des Herausgebers: Ni Liangkang. Ni ist ein Professor für Philosophie in China.
Und Ni Liangkang ist ein Schüler von Iso Kern.
Liu Yi informiert Iso Kern. Über ihre Entdeckung. Dass seine Arbeit in China als Raubkopie im Umlauf ist. «Er reagierte wie gelähmt.»
Iso Kern setzt sich mit Ni Liangkang in Verbindung. Der alte Schweizer Professor hatte seinen chinesischen Schüler ja erst gerade zu Besuch. 2019 war es, da weilte Ni bei Kern in Krattigen, ein Jahr nachdem Ni Kerns Werk auf Chinesisch publiziert hatte.
Kern fragt Ni am Telefon. Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ni Liangkang redet von einem Missverständnis.
«Danach konnte ich keinen Kontakt mehr zu ihm aufnehmen», sagt Iso Kern.
Dokumentarfilmerin Liu Yi sagt zu swissinfo.ch: «Ni Liangkang leitete in China die Übersetzung von Iso Kerns Werk. Angesichts seiner Freundschaft mit Iso Kern ist dies auf jeden Fall ein aussergewöhnliches Ereignis. Normal wäre, er hätte ihm dies als Erster mitgeteilt.»
Schuld und Sühne
Kern nimmt sich einen Anwalt. Dieser findet schnell heraus: Es wurden Rechte verletzt, nicht nur europäische, auch chinesische.
Die Übersetzung eines fremdsprachigen Werks erfordere eine Genehmigung, bevor es übersetzt werden kann, sagt He Lei, ein Urheberrechts-Experte aus Peking zu swissinfo.ch.
«Wenn ein Buch Urheberrechte verletzt, sind AutorInnen, der Verlag und sogar die Druckerei gemeinsam für den Schaden verantwortlich und haften gesamtschuldnerisch.»
Kerns Anwalt verlangt, die unrechtmässig publizierten Bücher zu vernichten. Und von Plagiator Ni Liangkang fordert er eine öffentliche Entschuldigung. Aber so einfach ist das nicht.
Nicht für Ni Liangkang. Es droht ein Gesichtsverlust. Sein Plagiat ist Teil eines Grossprojekts der Nationalen Stiftung für Sozialwissenschaften von China. Diese Stiftung wird direkt von der Zentralregierung finanziert. Die wissenschaftlichen Ansprüche sind dort hoch.
Wie steht die chinesische Staatsstiftung zum Vorwurf, Plagiate fabriziert zu haben? swissinfo.ch hat die Institution mit einem Fragenkatalog kontaktiert. Eine Antwort blieb aus.
Im Oktober 2022 trifft ein Brief des chinesischen Verlags in der Schweiz ein. Das Publikationshaus spricht von einem «grossen Fehler, der darauf zurückzuführen ist, dass die Redaktionsabteilung irrtümlich davon ausging, dass die Urheberrechte bereits erloschen seien.»
«Wir entschuldigen uns aufrichtig bei Herrn Iso Kern», steht im Brief.
Ausserdem: Iso Kerns Buch sei inzwischen zurückgezogen worden. Zudem erklärt sich der Verlag bereit, Kerns Anwaltskosten zu übernehmen und ihn zu entschädigen. Dazu bietet der Verlag an, Iso Kern in jeder neuen Ausgabe als Herausgeber zu nennen.
swissinfo ruft Ni Liangkang, den Plagiator, an. «Das ist eine Angelegenheit zwischen den Verlagen, sie hat nichts mit mir zu tun.» Ni Liangkang sagt auch: «Ich glaube nicht, dass ich mich bei Iso Kern entschuldigen werde. Ich denke, Iso Kern sollte sich bei mir entschuldigen.»
Ni Liangkang hatte mehr als 40 Jahre lang eine Lehrer-Schüler-Beziehung zu Iso Kern unterhalten. Die beiden pflegten über die Jahre sowohl akademisch als auch persönlich engen Kontakt.
Ni Liangkang war einer von Iso Kerns Lieblingsschülern. «Ich möchte jetzt Ni Liangkang bitten, sich zu entschuldigen. Und zwar öffentlich zu entschuldigen», sagt Iso Kern.
Doch das geschieht nicht.
Philosophie und Propaganda
Und hier kommt Xi Jinping ins Spiel. Der chinesische Staatspräsident ist ein grosser Bewunderer der Philosophie von Wang Yangming – und Iso Kern ist der Mann, der den Chines:innen den grossen Wang Yangming erst richtig zugänglich machte.
Xi Jinping tut seine Liebe zu Wang Yangming auch öffentlich kund. Darum herrscht in China nun ein Wang-Yangming-Fieber, wie China Economy Online schreibt: «Noch vor zehn Jahren war Wang Yangming nicht vielen bekannt.» Nun aber sei er zu einem sehr populären kulturellen Symbol in der zeitgenössischen chinesischen Kultur geworden.
Die Renaissance des Wang Yangming (1472-1529), dieses Universal-Denkers der mittleren Ming-Dynastie: Seine Ideen hatten tiefgreifenden Einfluss auf die ganze chinesische Philosophie. Am bekanntesten ist seine Doktrin der Einheit von Denken und Handeln.
Aber sein Werk kann auch als Versuch verstanden werden, die persönliche Moral eines Individuums als Hauptweg zu gesellschaftlichem Wohlstand vorzuschlagen. Das passt in Xis autoritäres System.
Rund um Wang Yangming sind alle möglichen Veranstaltungen wie Kulturreisen und Vorträge entstanden; Bücher über Wang Yangming stehen an den prominentesten Stellen im Buchhandel.
In der Vermittlung dieses Wang Yangming leistete Iso Kern Pionierarbeit. Es ist Kerns Buch «Das Wichtigste im Leben», das die Phänomenologie der westlichen Philosophie nutzt, um die Teleologie – also die Idee der Zweckbestimmtheit – dieses chinesischen Denkers zu interpretieren. Iso Kern untersucht dieses Denken aus einer neuen Perspektive, analysiert es in einer neuen Dimension.
Das ist die Brücke, die er baute.
Liebe und Trauer
Iso Kern schreibt einen Brief an Xi Jinping.
«Ich liebe China, wie ich mein eigenes Vaterland, die Schweiz, liebe. Dass diese gesetzeswidrigen Handlungen durch einen meiner chinesischen Schüler getan wurden, macht mich sehr traurig.»
Xi Jinpings Antwort steht noch aus.
Iso Kern promoviert 1961 er an der Uni Leuven in Belgien. Von 1962 bis 1971 arbeitet er im Husserl-Archiv in Leuven, wo er Texte zur Phänomenologie der Inter-Subjektivität aus den von Husserl hinterlassenen Stenogrammen ediert und zusammenstellt. Während dieser Zeit studiert er dort auch gesprochenes Chinesisch.
1979 gibt er eine ordentliche Professur auf, um sich ganz der chinesischen Philosophie zu widmen und geht nach China. Bis 1984 arbeitet er in Taiwan, New York, Nanjing und Peking. Ab 1985 lehrt er Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus an der Uni Bern, wo er 1995 emeritiert wird.
Editiert von Balz Rigendinger.
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