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Schweizer entdecken Albaniens Gestern und Heute

Neben Autos kommen in Albanien für Transporte häufig immer noch Fahrräder, Karren oder Esel zum Einsatz. swissinfo.ch

Im Mai hat sich eine Gruppe Schweizer Touristen auf eine archäologische Rundreise durch das unbekannte Albanien begeben. Sie besichtigten antike Ausgrabungsstätten, erhielten aber auch Einblick in ein Land im Umbruch, das sich rasant in Richtung Moderne bewegt.

«Vor 24 Jahren war ich schon einmal in Albanien, im Juli 1989, unter dem alten kommunistischen Regime. Enver Hoxha war seit vier Jahren tot, Ramiz Alia war an der Macht. Ich machte zusammen mit meinem 18-jährigen Sohn Badeferien in der Nähe von Durrës», erinnert sich Erika Nostitz. «Wir reisten gerne an Orte, wo nicht jedermann hinging.»

Und so ist das heute noch: Die 78-jährige Baslerin nahm im Mai zusammen mit ihrem Mann Franz Otto Nostitz an einer «archäologischen Rundreise ins unbekannte Albanien» teil, unter Leitung des Archäologen Christian Zindel, der das Land seit 1988 kennt. Von 1999 bis 2003 leitete er die Aussenstelle der Kulturstiftung Pro Helvetia in Tirana.

Albanien ist kein bedeutendes Ferienland für Schweizer. Es werden zwar einige Spezialreisen angeboten, aber die grossen Reiseveranstalter Kuoni und Hotelplan führen das kleine Balkanland infolge geringer Nachfrage zur Zeit nicht im Programm. Auch für die nähere Zukunft sind keine Reisen geplant.

Dennoch ist die Zahl der Besucher aus der Schweiz gestiegen: Waren es 2005 noch 6150, so wurden 2012 bereits 42’546 Ankünfte aus der Schweiz registriert. Das sind fast 7 Mal mehr. Allerdings ist nicht klar, wie viele davon Touristen und wie viele Geschäftsleute waren.

Ein anderes Land

Erika Nostitz hat Albanien bei ihrem zweiten Besuch nicht wieder erkannt. «Es ist eine andere Welt, die Leute sind offen, freundlich und liebenswert. Früher waren sie zurückhaltend und verschlossen.» Sie erinnert sich an eine Begegnung 1989 in Durrës, als sie auf einem Floss im Meer auf eine Gruppe junger Männer traf. «Sie machten mir ein Zeichen, hinauszuschwimmen. Erst dort redeten sie mit mir – über Schweizer Politik.» Ob es stimmt, dass damals überall Abhörwanzen installiert waren, wie der albanische Schriftsteller Ismail Kadare schrieb, wisse sie nicht.

Christian Zindel führt seine 20-köpfige Gruppe, meist kulturinteressierte Leute im Pensionsalter, an griechische, illyrische, römische sowie spätantike Ausgrabungsstätten. Besucht wurden zudem die Kleinstädte Gjirokaster und Berat, die wegen ihres gut erhaltenen osmanischen Ortsbildes seit ein paar Jahren zum UNESCO-Welterbe gehören. Auch die albano-schweizerische Ausgrabung von Orikos in der Bucht von Vlora wird besichtigt, an welcher der Schweizer Archäologe mitarbeitet.

Franz Otto Nostitz ist zum ersten Mal in Albanien. «Ich lerne viel über die Geschichte des Landes.» Seine Frau und sein Sohn hätten ihm auch vom guten Essen erzählt. «Bisher habe ich aber noch keine Innereien gegessen. Damals vor 24 Jahren haben sie noch Schafshirn, Schafsleber und solche Delikatessen auf den Teller bekommen.»

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Tourismus in Albanien: eine Baustelle mit Potential

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht «Albanien ist noch nicht auf dem Radar, hat mit seiner sehr schönen Küste, seiner Geschichte, den jahrtausendalten Ruinen, seinen Bergen und der unberührten Natur aber grosses Potential», sagt Alexander Wittwer, seit Januar 2013 Schweizer Botschafter in Tirana. Albanien hat Potential, aber auch einen schlechten Ruf, man bringt es in Zusammenhang mit Korruption, Kriminalität oder Blutrache.…

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«Positiv überrascht»

Die Gruppe fährt per Bus durchs Land, chauffiert von einem ortskundigen, einheimischen Fahrer, der die Tücken und die Beschaffenheit der albanischen Strassen kennt. Mit dabei ist auch der 33-jährige Albaner Sokol Lahi, der Deutsch und Englisch spricht. Er organisiert die Mahlzeiten, kümmert sich um Museumseintritte und vermittelt, wenn etwas mit den Hotelübernachtungen nicht klappt.

Der junge Mann aus der nordalbanischen Stadt Shkodra tourt seit sechs Jahren mit ausländischen Gästen durchs Land. Noch vor ein paar Jahren habe kaum jemand sein Land gekannt. «Das hat sich geändert. Es kommen immer mehr Touristen aus aller Welt.»

Albanien leide aber nach wie vor an seinem schlechten Image. Schuld daran seien die Medien, die nur die eine Seite der Medaille aufzeigten. «Klar gibt es Korruption und Vetternwirtschaft, und das Land kommt seit der Wende nur schleppend voran. Aber wie überall leben auch hier unterschiedliche Kulturen und normale Menschen – gute und schlechte.»

Dass gegenüber Albanien viele Klischees und Vorbehalte existieren, bestätigt auch Beatrice Holzwarth aus Therwil, Baselland. Sie kam mit ihrem Mann zum ersten Mal nach Albanien, weil diese Region sie interessiere. Auch sie habe gewisse Vorstellungen gehabt.

«Jetzt bin ich sehr positiv überrascht. Das Land ist für Touristen nicht gefährlich, und von Korruption bekommt man als Reisende nichts zu spüren.» Für die Personalleiterin einer Basler Pharmafirma ist Albanien unvergleichbar mit anderen europäischen Ländern. «Es hat etwas Ursprüngliches. Die Menschen, denen ich begegnet bin, sind natürlich, neugierig und nicht verstellt. Und sie sind stolz auf ihr Land.»

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Zeugen des Kalten Krieges

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Aus Angst vor Invasoren aus dem Ausland liess das stalinistische Regime in den 1970er- und 80er-Jahren im Land hunderttausende Bunker aus Stahl und Beton bauen. Heute werden sie nicht mehr militärisch genutzt. Ein Teil wurde zerstört und entfernt, andere rotten vor sich hin, sind von Pflanzen überwuchert oder werden als Lagerräume, als Ställe für Tiere…

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Albanien – eine Baustelle

Aufgefallen ist Beatrice Holzwarth die tolle Landschaft. «Etwas unendlich Kostbares.» Auch dass die Albaner technologisch sehr entwickelt seien und überall Internet vorhanden sei. Und dann diese enorme Bautätigkeit, die auch von anderen Teilnehmern der Gruppe erwähnt wird.

«Diese Bauerei, die überall stattfindet, gefällt mir gar nicht», sagt Erika Nostitz. «Aber es ist nicht an mir, ihnen vorzuschreiben, wie und was sie bauen sollen.»

Den Bauboom und die Architektur, wie sie etwa in der südalbanischen Stadt Saranda zu sehen ist, bezeichnet Reiseleiter Christian Zindel als «traurige Entwicklung nach dem Wechsel zum Kapitalismus».

Bis 1990 war das kommunistische Albanien vier Jahrzehnte lang politisch isoliert. Heute ist es eine Parlamentarische Republik.

Das Land mit der Hauptstadt Tirana hat knapp 3 Mio. Einwohner.

Durchschnittsalter: 30 Jahre

70% sind Muslime, 20% Orthodoxe, 10% Katholiken

45% der ethnischen Albaner leben im Ausland.

2011 betrug das BIP pro Kopf 4560 Dollar.

Albanien möchte EU-Mitglied werden, hat aber noch nicht einmal den Kandidatenstatus erlangt.

Am 23. Juni 2013 finden Parlamentswahlen statt.

Nischen- statt Massentourismus

Er, der ab 1989, also noch zu Kommunistenzeiten, erste Reisen organisierte, betrachtet diese Entwicklung mit Skepsis. «Albanien ist sehr westlich geworden. Aber es ist keine Alternative für schöne griechische oder italienische Strände, wie viele Schweizer vermuten. Das kann Albanien nicht bieten, es spielt in einer anderen Liga als Griechenland.» Massentourismus werde hier keinen Erfolg haben, es sei aber ein Geheimtipp für Nischenprodukte wie Wandern, Bergsteigen oder Kulturreisen.

Unglücklich ist Zindel darüber nicht, denn Massentourismus sei für jedes Land eine sehr zwiespältige Sache, mal abgesehen von ökonomischen Vorteilen. «Er macht vieles kaputt, auch viel von der nationalen Identität.»

Auf seinen Reisen will der Schweizer Archäologe Informationen vermitteln, die Grundlage für ein eigenes Urteil werden könnten – um Unkenntnis und Missverständnisse zu kompensieren. Und Albanien liegt ihm, der auch Reisen in andere Länder organisiert, ganz besonders am Herzen. Hier hat er über seine berufliche Tätigkeit viele Bekannte und Freunde gefunden.

Schwierige Vergangenheit

Mühe machen ihm die Politik, die Korruption und Vetternwirtschaft im Land. «Extrem gestört hat mich immer auch das Unvermögen aller Balkanleute, miteinander zu diskutieren, auf sachlicher Ebene ein Problem zu lösen und dann zum Resultat zu stehen.»

Zu schaffen macht ihm auch der breite Konsens darüber, die kommunistische Vergangenheit einfach zuzudecken. «Das ist eine schlechte Voraussetzung, wenn eine ganze Generation einen Teil ihres Lebens, ihrer Geschichte, ihrer Identität verleugnet. Kein normaler Mensch erträgt es, wenn er einen Teil seines Lebens abschreiben muss.»

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