Schweizer Fans sind besser als ihr Ruf
Hooligan-Tumulte wie im Mai in Bern vor dem Cup-Final bestimmen die Debatte. Während neue Zahlen der Swiss Football League eine Beruhigung in den und um die Stadien belegen, sprechen die kantonalen Polizeidirektoren von einer Zunahme der Gewalt.
Gewalttaten: minus 69%; Werfen von Gegenständen auf das Spielfeld: minus 40%; Betreten des Rasens: minus 87%. Stabil blieb das Abbrennen von Feuerwerkskörpern, den so genannten Pyros, auf den Tribünen: Von 119 Vorfällen 2008/09 stieg die Zahl in der Saison 2009/10 auf 149, um sich 2012/13 bei 138 einzupendeln.
Die Zahlen der Vorkommnisse, welche die Inspektoren der Swiss Football League (SFL) seit der Saison 2008/09 in und unmittelbar vor den Stadien der Super-League-Klubs rapportiert haben und die hier erstmals veröffentlicht werden, sprechen für eine Beruhigung.
Der Beruhigungs-Effekt wird noch verdeutlicht, wenn diese Zahlen in den Kontext der Entwicklung der Zuschauerzahlen eingebettet werden. In den letzten zehn Jahren ist nämlich die Zahl der Besucher von Super-League-Partien von 1,618 Millionen auf 2,163 Millionen (2012/13) angestiegen – Kassenwarte und Liga durften sich über ein sattes Plus von 545’000 Eintritten oder 25,2% freuen.
Aber auch die Gesamtzahlen, die das Magazin Der Beobachter Ende 2011 veröffentlichte, relativieren die Hooligan-Problematik: Im Jahre 2009 gab es laut Bundesamt für Statistik (BfS) 327 Verzeigungen aufgrund von Gewaltstraftaten im Rahmen von Fussball- und Eishockeyspielen, fünf davon betrafen schwere Gewalt. 2010 ging die Anzahl Verzeigungen um 7% auf 303 zurück. Neuere Zahlen gibt es nicht, da das BfS die Anzeigen im Zusammenhang mit Gewalt an Sportveranstaltungen nicht mehr gesondert erfasst.
Eine Relativierung drängte sich zudem auch bei den Schäden auf, die Fans in den Extrazügen verursachten: Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), die stets von einer jährlichen Schadensumme von drei Mio. Franken sprachen, mussten kleinlaut einräumen, dass es sich dabei um ungedeckte Kosten handelt und die effektiven Schäden weit weniger als 10% der genannten Summe ausmachen.
Lob für die – friedlichen – Fans kommt von Seiten der Swiss Football League (SFL). «Der Fussball lebt von Stimmung und Emotionen. Was die Schweizer Klubs im Bereich der aufwändigen Choreografien und beim pausenlosen Anfeuern ihrer Mannschaft leisten, gehört mit Sicherheit mit zum Besten in Europa», sagt Dominique Huber, Liga-Verantwortlicher für Sicherheit und Prävention.
2010: Ersatz des Hooligangesetzes von 2008 durch das Hooligan-Konkordat der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD). Alle Kantone treten bei. Einsprachen lehnte das Bundesgericht ab.
Strafen gegen Gewalttäter: Rayonverbote, Meldeauflagen, vorsorglicher Polizeigewahrsam, Eintrag in Hooligan-Datenbank.
Ende 2011: Die KKJPD verschärft das Hooligan-Konkordat. Einsprachen sind noch hängig.
Wichtige Neuerungen u.a.:
Bewilligungspflicht für Risikospiele;
Meldeauflage bis zu drei Jahre;
ID-Ausweispflicht an den Stadioneingängen;
Intimkontrollen durch die Polizei bei konkretem Verdacht unter den Kleidern/ohne Verdacht durch private Sicherheitsfirmen über den Kleidern;
Alkoholverbot bei Hochrisiko-Spielen;
Kommt ein Veranstalter den von den Behörden gemachten Auflagen nicht nach, kann ein Spiel abgesagt werden;
Hinderung einer Amtshandlung und Tätlichkeiten (Antragsdelikt) gelten als gewalttätiges Verhalten;
Bereits das Mitführen von Pyros auf dem An- und Rückreiseweg gilt als gewaltbereites Verhalten;
Fans müssen zu Auswärtsspielen per Extrazug anreisen. Für das obligatorische Kombi-Ticket Bahn/Match müssen sie sich ausweisen.
Mehrere Kantone haben das verschärfte Konkordat in Kraft gesetzt oder stehen davor wie der Kanton Zürich, wo die Verschärfung ab 1. August gilt.
Der Graben zwischen Befürwortern und Gegnern geht quer durch alle Parteien.
Andere Wahrnehmung
Keine Beruhigung, sondern eine Zunahme der Gewalt macht die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) aus, von der die umstrittene Verschärfung des Hooligan-Konkordats ausgeht (siehe Extra).
«Die Ereignisliste des Bundesamtes für Polizei (Fedpol), in der schweizweit die Vorfälle rund um Sportveranstaltungen verzeichnet werden, zeigt, dass es jedes Wochenende zu Gewalttätigkeiten kommt», sagt Roger Schneeberger, Generalsekretär der KKJPD. «Zudem stellt die Polizei besorgt fest, dass die Intensität der Gewalt in den letzten Jahren zugenommen hat.» Schneeberger nennt Angriffe auf Polizisten, Personal von privaten Sicherheits- und Ordnungsdiensten oder Schlägereien mit gegnerischen Fans.
«Angesichts der Vielzahl solcher Vorfälle scheint es mir höchst problematisch, nur von fünf Anzeigen wegen schwerer Gewalt zu reden», sagt Schneeberger. Zudem geht er von einer «sehr grossen Dunkelziffer» aus. So würden bei grossen Ausschreitungen jeweils nur wenige Täter erwischt. Und ausserhalb der Stadien, also auf öffentlichem Grund, wo die Polizei zuständig ist, gebe es wesentlich mehr Vorfälle als innerhalb.
Ebenfalls laut Fedpol waren Ende Juli 1368 Personen in der Hooligan-Datenbank des Bundes verzeichnet («HOOGAN»). Im vergangenen März waren es 1294 gewesen. Gegen 808 (März: 519) von ihnen liefen Massnahmen, d. h., sie waren mit einem Rayon- oder einem Stadionverbot belegt oder unterlagen einer Meldeauflage. Der Grund für die Differenz: Personen bleiben bis drei Jahre nach Ablauf einer solchen Massnahme in der Datei verzeichnet.
«Im Verhältnis zu den rund fünf Mio. Personen, die in der Schweiz pro Jahr Fussball- und Eishockeyspiele besuchen, sind diejenigen, die mit einer Massnahme belegt sind, ein relativ kleiner Teil», findet Thomas Gander, Geschäftsführer des Dachverbandes Fanarbeit Schweiz.
Ein Vergleich der Hooligan-Problematik in Europa ist kaum möglich, weil die Kriterien für die erhobenen Grunddaten nicht einheitlich sind.
Thematik und Massnahmenpakete zeigten sich in allen Ländern ähnlich, sagt Thomas Gander, Geschäftsführer von Fanarbeit Schweiz. Unterschiedlich seien aber die Phasen der Umsetzung.
In den Ländern Westeuropas ist in den letzten Jahren eine Entschärfung der Hooligan-Problematik festzustellen, insbesondere in den höchsten Ligen.
So sind in Grossbritannien, das als Wiege des Hooliganismus galt, randalierende Fans aus den Stadien verschwunden.
Thomas Gander führt dies grösstenteils auf die massive Verteuerung der Ticketpreise zurück.
Grösser ist das Hooligan-Problem in östlichen Ländern, etwa Serbien, Kroatien, Polen, Russland oder der Türkei, wo Verbände und Vereine oft mit mafiösen Strukturen durchsetzt sind.
2011 drohte Michel Platini, Präsident des Europäischen Fussballverbandes Uefa, den Nationalteams und Vereinen Serbiens und Kroatiens mit dem Ausschluss von allen Uefa-Wettbewerben, falls keine Besserung erzielt würden.
Seit Mai 2013 geht die Uefa schärfer gegen Rassismus in den Stadien vor. Spieler und Vereinsvertreter werden bei solchen Vergehen für mindestens zehn Spiele gesperrt.
Geht Rassismus von Fans eines Teams aus, kann ein Teil des Stadions geschlossen werden. Im Wiederholungsfall drohen ein Spiel unter Ausschluss der Öffentlichkeit («Geisterspiel») und eine Strafe von 50’000 Euros.
Positive Fanarbeit-Bilanz
Urs Frieden, der Mitte der 1990er-Jahre bei den Berner Young Boys erster Fanbeauftragter war, pflichtet bei. «Die Zahlen sprechen für sich, sind doch die Ausschreitungen und die Schäden in den letzten Jahren zurückgegangen. Aber leider wird dies von Medien jeweils nur am Rande vermeldet.» Vielmehr liessen sich viele Medien von der KKJPD, welche die Hoheit über das Thema beanspruche, instrumentalisieren, so der Pionier in Sachen Fanarbeit.
Frieden, der das Amt mittlerweile Nachfolgern übergeben hat, zieht nach knapp 20 Jahren eine erfolgreiche Bilanz des Berner Modells. YB sei involviert und verantwortungsbewusst, und es bestehe ein permanenter Dialog zwischen Chefetage und Fanarbeit/Fans, so Frieden, ebenfalls Mitbegründer und Präsident der «Halbzeit». Das Lokal ist nicht nur Heimat für YB-Fans, sondern auch für die von Frieden mit initiierte Aktion «Gemeinsam gegen Rassismus» im Fussball.
Bei YB sind vier Fanarbeiter im Einsatz, davon ein Zivildienstler. Der Klub seinerseits stellt einen Sicherheits- und einen Fanverantwortlichen, die mit der Fanarbeit zusammenarbeiten. «Es besteht eine enge Verzahnung, die optimal funktioniert», so Frieden.
Als Erfolg wertet er auch, dass die Extrazüge für die YB-Fans mittlerweile ohne Polizeipräsenz an Bord zu den Auswärtsspielen unterwegs sind, dafür mit eigenen Stewards und Littering-Verantwortlichen.
Liga pocht auf Fanarbeit
Wie wichtig die Fanarbeit als Schnittstelle und Dialog-Moderation zwischen Klubspitzen, Fans und Behörden ist, zeigt auch, dass die Swiss Football League im Vorfeld der soeben gestarteten Meisterschaft die Klubs erstmals fix zu einem Fanarbeitskonzept verpflichtet hat. Ohne solches verweigert ihnen die Liga die Spiel-Lizenz.
Das Obligatorium ergänzt das 7-Säulen-Modell, das Liga und Verband in ihrem Strategiepapier «friedliche Spiele» umrissen und nun umsetzen. Dazu gehört etwa die Unterstützung von Fanarbeit Schweiz und die Ausbildung von Sicherheits- und Fanverantwortlichen bei den Klubs.
«Bei der Liga ist in den letzten Jahren sehr viel gegangen. Früher galt ich als Bittsteller, heute sind wir gute Partner», anerkennt Urs Frieden. Er spricht von einem neuen Schulterschluss, betont aber, dass die Positionen auch wieder auseinander gingen, je nachdem, ob es um das Thema Gewalt, Pyros oder Rassismus gehe.
Während die Fanarbeit-Experten wie Frieden und Gander die Verschärfung des Hooligan-Konkordats als Eingriff in die Grundrechte, rechtsstaatlich bedenklich und als nicht zielführend ablehnen, unterstützt die Liga die Revision, «wenn sie der konsequenten Verfolgung und Bestrafung gewalttätiger Fans dient», sagt SFL-Vertreter Dominique Huber.
Er hält aber fest, dass die Massnahmen «rechtsstaatlich und verhältnismässig» sein müssten. Identitäts-Kontrollen oder das Kombi-Ticket, das Fans zur Anreise mit den offiziellen Fanzügen zwingt, lehnt die Liga deshalb ab.
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