Gebärde des Jahres 2018? «Alain Berset»
Humor ist eine universelle Sprache. Dies zeigt die Schweizer Gebärde des Jahres 2018, die den Bundespräsidenten Alain Berset aufs Korn nimmt. Doch was ist der Stand der Gebärdensprache in der Schweiz? Ein Überblick.
Um den Schweizer Bundespräsidenten akkurat zu beschreiben, braucht es nur zwei Dinge: Daumen und Zeigefinger. Die Schweizer Gebärde des Jahres 2018 ist «Alain Berset» und signalisiert das beinahe verschwundene Haupthaar des Spitzenpolitikers:
Seit 2016 ermittelt der Schweizer GehörlosenbundExterner Link eine Deutschschweizer «Gebärde des Jahres».
Die Gebärde «Alain Berset» etablierte sich unter den Schweizer Gebärdensprechenden seit seiner Rede zum Nationalfeiertag am 1. August 2018 auf dem Rütli. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden die Ansprachen und die Landeshymne auch gedolmetscht.
Dies steht exemplarisch für ein gesteigertes Bewusstsein für solche Bedürfnisse. Doch was ist der Stand der Gebärdensprache in der Schweiz? Ein Überblick:
Was ist Gebärdensprache?
Gebärdensprachen sind eigenständige, visuelle Sprachsysteme mit einer eigenen Grammatik. Hierzulande gibt es eine deutschschweizerische, französische und italienische Gebärdensprache. Auch Dialekte existieren. Doch Gebärdensprachen sind nicht einfach gestikulierte Abbilder von Lautsprachen. Sie sind – wie jede natürliche Sprache – historisch gewachsen.
Genaue Statistiken fehlen, doch in der Schweiz gibt es rund 10’000 gehörlose Menschen und rund 600’000 mit einer Hörbehinderung – viele davon benutzen die Gebärdensprache.
Ist die Gebärdensprache anerkannt?
Die Schweiz ist 2014 der UNO-BehindertenrechtskonventionExterner Link beigetreten. Gemäss dieser sollen Menschen mit und ohne Behinderung ihre Rechte in gleichem Mass ausüben und an der Gesellschaft teilhaben können. Im Gegensatz zum Gedanken, dass Menschen mit Behinderung «defizitär» seien, geht die Konvention davon aus, dass diese Teil des gesellschaftlichen Spektrums unterschiedlicher Bedürfnisse sind.
Die Gebärdensprachen in der Schweiz sind auf nationaler Ebene nicht anerkannt. Nur in den kantonalen Verfassungen von Genf und Zürich werden sie erwähnt. Damit erfülle die Schweiz einen wichtigen Punkt der UNO-Konvention nicht, argumentiert der Gehörlosenbund. Diese bezeichnet sowohl gesprochene als auch nicht-gesprochene Sprachen als eigenständige Sprachen. Im Vergleich: In Schweden ist die Gebärdensprache als Minderheitensprache anerkannt, in Neuseeland als offizielle Amtssprache.
Im Herbst 2018 hatten gehörlose und schwerhörige Menschen in der Schweiz dafür demonstriert, dass politische Informationen auch konsequent für beeinträchtigten Bürgerinnen und Bürger aufbereitet werden. Einzelne Städte wie Bern zeigen, dass es geht: Online wird auch mit Gebärden-Videos kommuniziert.
Wie werden gehörlose Kinder unterrichtet?
Lange Zeit war die Gebärdensprache an Schweizer Schulen als minderwertige «Affensprache» verschrien – und sogar verboten: In Genf und Zürich bis in die 1980er, in St. Gallen gar bis in die 1990er. Die Pädagogik fürchtete einen Niedergang der Lautsprache.
Hörbehinderte Kinder wurden bestraft, wenn sie im Unterricht Gebärden einsetzten – manchmal sogar mit Schlägen auf die Finger, man fürchtete einen schlechten Einfluss der Gebärdensprache auf die Lautsprache. Selbst in Sprachheilschulen wurden Kinder gezwungen, die Laut- und Schriftsprache zu lernen.
Heute werden nicht- oder wenig hörende Kinder oft in die normale Schule integriert. Auch dies ist nicht unproblematisch: Sie kommen weniger im Unterricht mit und können die Lerninhalte nicht genügend aufnehmen. Ein Übertritt in eine weiterführende Schule oder Universität stellt eine hohe Hürde dar. So fordern Gehörlosen-Vertreterinnen und -Vertreter heute mehr Zweisprachigkeit im Unterricht.
(Translated from German by Thomas Stephens)
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