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Schweizer Modell für britische Gesetze

In einer wachsenden Zahl europäischer Länder wird über die Frage der Beihilfe zum Suizid, der in der Regel mit leistungsstarken Schlaftabletten begangen wird, diskutiert. Keystone

England und Wales, aber auch Schottland planen Gesetze zur Legalisierung der Sterbehilfe. In der politischen Debatte um das Gesetz zum assistierten Suizid richtet sich das Augenmerk auch auf die Schweiz, wo zwischen 1998 und 2013 insgesamt 244 britische Staatsbürger Sterbehospize aufgesucht haben, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Am 3. Juni wird die Königin des Vereinigten Königreichs das neue Parlamentsjahr eröffnen. Und schon bald danach könnten England und Wales, aber auch Schottland den assistierten Suizid legalisieren.

In London und Edinburgh liegen jedenfalls zwei unterschiedliche Gesetzesentwürfe auf den Tischen der Parlamentarier. Sie zeigen, dass ethische und strafrechtliche Fragen zum begleiteten Freitod auch in Grossbritannien zu einem prioritären Thema der Politik geworden sind.

«Wir haben ein ganz offensichtliches Problem», sagt James Harris, Kampagnenleiter des Vereins «Dignity in Dying» (In Würde sterben). «Viele Kranke in der Terminalphase sind gezwungen, ihr Leben allein und ohne äussere Unterstützung zu beenden. Oder sie bitten um Hilfe durch eine ihnen nahestehende Person, oder durch einen Arzt, was zurzeit aber illegal ist. Dabei wollen diese Kranken nur selbst über ihren Tod bestimmen, wenn dieser kurz bevorsteht und die Schmerzen unerträglich sind.»

Das Schweizerische Strafgesetzbuch hält im Artikel 115 von 1942 fest, dass die Anstiftung oder Hilfe zum Suizid strafbar ist (mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe), wenn sie «aus selbstsüchtigen Beweggründen» erfolgt. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Hilfe zum Suizid nicht strafbar ist, wenn sie nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen erfolgt.

Das weltweit erste Gesetz zum assistierten Suizid wurde 1995 im Nordterritorium von Australien erlassen, doch nach zwei Jahren durch das dortige Bundesparlament wieder aufgehoben. In Europa haben Belgien, die Niederlande und Luxemburg spezielle Gesetze zum assistierten Suizid erlassen. In den USA war Oregon im Jahr 1997 Vorreiter. Es folgten Vermont, Montana und der Staat Washington.

Beobachter gehen davon aus, dass Kanada als nächstes Land ein Gesetz zur Sterbehilfe erlassen wird. Die Provinzen Québec, British Columbia und Ontario machen Druck, den assistierten Suizid zu legalisieren. Das Bundesparlament hat jedoch bereits drei Gesetzesentwürfe gebodigt, die Ärzten Straffreiheit zusichern wollten, wenn sie Patienten helfen, sich das Leben zu nehmen.

«Falconer Commission» für England und Wales

Diese Ausgangslage führte dazu, dass neue Regeln für den assistierten Suizid gesucht werden. Bisher droht Personen, die in irgendeiner Weise anderen dabei helfen, Suizid zu begehen, gemäss dem «Suicide Act» von 1961 eine Freiheitsstrafe von bis zu 14 Jahren.

Im November 2010 wurde eine Kommission zum assistierten Suizid ins Leben gerufen, die nach ihrem Präsidenten, dem Labour-Politiker und ehemaligen Staatssekretär für Justiz, Lord Charles Falconer, einfach «Falconer Commission» genannt wurde. In dieser Kommission sind Juristen, Ärzte und Psychologen vertreten. Am 5. Januar 2012 publizierte die Kommission ihren Abschlussbericht.

Lord Falconer hat einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der aller Voraussicht nach zwischen Juni und Juli dieses Jahres im Parlament diskutiert wird. «Wir könnten also in wenigen Monaten ein Gesetz über den assistierten Suizid haben», meint James Harris.

Sterben im eigenen Land

Das englische Gesetz ist auch eine Reaktion auf den so genannten «Sterbetourismus», der in jüngster Zeit zugenommen hat. Immer mehr britische Staatsbürger reisen in die Schweiz, um dort ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Gemäss den Befürwortern des neuen Gesetzes darf diese Praxis nicht weitergeführt werden. Eine Person müsse die Möglichkeit haben, einen assistierten Suizid im eigenen Land zu begehen. Daher brauche es unbedingt ein Gesetz für England.

Das Phänomen der «Sterbetouristen», die in die Schweiz reisen, hat in Grossbritannien heftige Diskussionen ausgelöst. Zwischen 1998 und 2013 haben 244 britische Staatsbürger Einrichtungen der Schweizer Organisation Dignitas aufgesucht, um sich in den Freitod begleiten zu lassen. Nur aus Deutschland kamen noch mehr Sterbewillige zu Dignitas.

Jedes Mal, wenn in Grossbritannien die Geschichte einer Person öffentlich wird, die in die Schweiz gefahren ist, um einen assistierten Suizid zu begehen, gehen die Wogen hoch. Und die Forderungen nach einem eigenen Gesetz werden laut.

Im Jahr 2011 strahlte der TV-Sender BBC den Dokumentarfilm «Choosing to die» (Die Wahl zu sterben) aus, in dem der begleitete Freitod des britischen Staatsbürgers Peter Smedley in einer Dignitas-Einrichtung dokumentiert wurde.

Der Film löste einerseits einen Sturm der Entrüstung von Lebensrechts-Bewegungen («Pro-Life») aus, er erhöhte andererseits die Forderung nach einem eigenen britischen Gesetz, um den Sterbetourismus in die Schweiz zu stoppen.

Vorbild Oregon

Die Schweiz wird in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert, weil sie eine lange Tradition in dieser Frage kennt. Der assistierte Suizid wird seit den 1940er-Jahren praktiziert.

Zudem kann eine Person, welche einen «Sterbetouristen» begleitet und nach Grossbritannien zurückkehrt, von den dortigen Behörden wegen Anstiftung zum Suizid verfolgt werden. Denn diese ist laut britischer Gesetzgebung illegal und strafrechtlich verfolgbar.

«Wenn wir kontaktiert werden, geben wir keinerlei Informationen, weder zum Schweizer Gesetz noch zu den Städten mit den entsprechenden Einrichtungen», hält Harris fest. In Bezug auf den Gesetzentwurf («Falconer Bill») unterstreicht er, dass ein direktes Eingreifen eines Arztes nicht vorgesehen ist. Die kranke Person muss sich die tödliche Medizin selbst verabreichen.

Damit ähnelt der Vorschlag dem Schweizer Gesetz. Allerdings beschränkt sich die Sterbehilfe im englischen Gesetzesvorschlag – im Gegensatz zur Schweiz – ausschliesslich auf Kranke in der terminalen Phase. «Wir orientieren uns am geltenden Gesetz von Oregon», sagt Harris.

Gemäss einer von Dignitas veröffentlichten Statistik hat die Sterbehilfe-Organisation in 15 Jahren (1998-2013) genau 1701 Personen in den Freitod begleitet. Die überwiegende Zahl von Personen, welche die Beihilfe zum Suizid in Anspruch nahmen, stammte aus Deutschland (840). Es folgten Briten (244), Franzosen (159), Schweizer (150), Italiener (69) und US-Amerikaner (44).

Der erste britische Staatsbürger begab sich im Oktober 2002 zum Sterben in eine Dignitas-Einrichtung. Sein Name wurde nicht bekannt gegeben. Im Januar 2003 starb Reg Crew mit Hilfe von Dignitas. Er war der erste britische Staatsbürger, dessen Identität bekannt wurde.

Die Statistik zeigt, dass Menschen aus aller Welt die Dienste von Dignitas in Anspruch nehmen. Unter den Domizilstaaten dieser Personen finden sich Kanada (25), Israel (19), Australien (18), Südafrika (4) sowie Uruguay, Libanon, Indien und viele weitere.

Schottland weniger restriktiv

Oregon hat 1997 als erster US-Staat den assistierten Suizid legalisiert. Für den assistierten Suizid gemäss «Faloncer Bill» bedeutet dies, dass die Lebenserwartung des Kranken nicht mehr als sechs Monate übersteigen darf.

Anders verhält es sich in Schottland, wo das Thema ebenfalls unter den Nägeln brennt. Der dortige Gesetzesvorschlag ist weniger restriktiv als in England. Beispielsweise kann der assistierte Suizid ab einem Alter von 16 Jahren erfolgen (in England: 18 Jahre).

Im November hatte die kürzlich verstorbene schottische Parlamentarierin Margo MacDonald erneut einen Gesetzesentwurf zum «Assisted suicide» eingereicht. «Es geht um die Legalisierung von begleitetem Freitod sowohl für Kranke im Endstadium als auch für Personen mit sehr eingeschränkten Lebensbedingungen», sagt Harris.

Lebensrechts-Bewegung opponiert

Auch wenn die Gesetzesvorschläge in England und Schottland klare Restriktionen für das Recht auf assistierten Suizid vorsehen, gehen diese Einschränkungen der Lebensrechts-Bewegung nicht weit genug. Diese Bewegungen sind der Ansicht, dass die Praxis zur Hilfe beim Freitod auf keinem Fall legalisiert werden darf.

Obwohl alle Meinungsumfragen zum Ergebnis kommen, dass die Mehrheit der Bevölkerung ein Gesetz zum assistierten Suizid befürwortet, gibt es sowohl religiöse als auch zivile Bewegungen, die lautstark gegen die Vorlagen mobil machen.

«Wir wollen keinerlei Änderung der geltenden Gesetze», sagt der Arzt Peter Saunders, Präsident des Vereins «Care Not Killing» (Pflegen statt töten) gegenüber swissinfo.ch, «denn jede Änderung wäre gefährlich für die schwächsten Glieder der Gesellschaft, für Hilfsbedürftige wie Behinderte und Depressive».

Anti-Euthanasie-Offensive

Die Vertreter der Lebensrechts-Bewegung befürchten, dass sich die Anwendung der Gesetze – auf Grund einer Gesetzeslücke – zwangsläufig nicht nur auf Kranke in der Terminalphase begrenzen würde, sondern bald weitere Schichten der Bevölkerung umfassen könnte.

«Denken Sie nur daran, was in Belgien passiert ist, wo heute Euthanasie für Kinder angewendet werden kann», gibt Saunders zu bedenken. Seine Organisation wolle dieser Entwicklung einen Riegel schieben. Statt Euthanasie müsse mehr für medizinische und psychologische Hilfe getan werden; es brauche mehr Anstrengungen für die Palliativmedizin.

In den nächsten Monaten will die Anti-Euthanasie-Bewegung stärker mobilisieren und auch Kampagnen ausserhalb Grossbritanniens lancieren, etwa durch die Bildung einer europäischen Koalition gegen Euthanasie («Euthanasia Prevention Coalition Europe»).

Doch wenn die Mehrheiten im Parlament gegeben sind, wird der assistierte Suizid in Grossbritannien schon bald durch zwei Gesetze geregelt sein. «Wir wollen kein strengeres Gesetz. Unserer Meinung nach darf es überhaupt kein Gesetz geben, das eine Person schützt, die einer anderen Person hilft, sich umzubringen», meint hingegen Paul Saunders.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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