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Schweizer Universitäten gehen gegen sexuelle Belästigung vor. Sind sie auf dem richtigen Weg?

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Schweizer Hochschulen wollen mit Kampagnen und Kursen gegen sexuelle Übergriffe vorgehen. Für viele Studierende und Mitarbeitende ist das zu wenig.

Im Juni 2022 hielt Corinne Charbonnel im Rahmen einer Konferenz zum Thema sexuelle Belästigung in der Wissenschaft eine eindrucksvolle Rede. Vor einem Publikum, das fast nur aus Frauen bestand, gab die 57-jährige Astrophysik-Professorin einen bewegenden Einblick in die Schwierigkeiten, mit denen viele Frauen konfrontiert sind.

Charbonnel übernahm vor zehn Jahren die Rolle einer Mentorin an ihrer Uni in Genf und unterstützte in dieser Zeit rund 60 Mentees in verschiedenen Stadien ihrer Karriere, von Doktorand:innen bis zu Juniorprofessor:innen.

«Frauen bewerben sich für Mentoring-Programme, weil sie eine akademische Laufbahn anstreben, nicht weil sie Probleme haben», sagt Charbonnel. Die Belästigungen seien erst im späteren Verlauf ihrer Karriere aufgetreten. Sie erinnert sich an etwa 15 Fälle, von denen fünf eine sexuelle Komponente hatten.

Sexuelle Übergriffe sind kein neues Problem, aber das Bewusstsein für ihr Ausmass wurde erst durch #metoo geweckt, eine soziale Bewegung gegen systematischen sexuellen Missbrauch, die 2006 in den USA ihren Anfang nahm.

«In den letzten Jahren haben meine Mentees angefangen, Verhaltensweisen zu hinterfragen, anstatt sie einfach zu akzeptieren», sagt Charbonnel.

Corinne Charbonnel, Professorin für Astrophysik in Genf
Corinne Charbonnel, Professorin für Astrophysik an der Universität Genf. Während ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit als Mentorin wurde sie Zeugin zahlreicher Fälle von Grenzüberschreitung. Corinne Charbonnel / nige.ch

Das Problem anerkennen

#Metoo: Vor fünf Jahren wurde der Hashtag zu einem globalen Phänomen, das viele akademische Einrichtungen veranlasste, Initiativen zu ergreifen. Diese reichen von der Einführung von Verhaltensrichtlinien und speziellen Kursen für Studierende und Mitarbeiter:innen bis hin zu Slogans und Kampagnen zur «Null-Toleranz-Politik».

Im Juni 2022 fand in Genf die dritte Konferenz der League of European Research Universities (LERU) statt. Die LERU ist ein Netzwerk von 23 europäischen Universitäten, darunter Genf und Zürich. Zum ersten Mal wurde auf der Konferenz diskutiert, wie Sexismus und sexuelle Belästigung an Hochschulen verhindert und bekämpft werden können. Die nächste Ausführung ist für 2024 geplant.

Allerdings halten Studierende, Mitarbeitende und Wissenschaftler:innen viele dieser Initiativen für Augenwischerei und fordern ihre Universitäten auf, wirksame Massnahmen zu ergreifen.

Im Jahr 2019 wurden die Universität Basel und die ETH Zürich öffentlich für ihren Umgang mit Fällen von sexueller Belästigung kritisiert. Expert:innen bemängelten die fehlende Transparenz, weil die Opfer nicht über das Verfahren informiert wurden. Ausserdem wurde die lange Dauer der Untersuchung und die Tatsache, dass die Täter nur geringfügige Sanktionen erhielten, beanstandet.

«Sexuelle Belästigung, Sexismus und Diskriminierung haben enorme Auswirkungen auf die Zukunft unserer Gesellschaft und auf das Leben der Menschen, die an den Universitäten studieren und arbeiten», sagte Yves Flückiger, Rektor der Universität Genf und ehemaliger Präsident von swissuniversities, auf der Konferenz in Genf. «Wenn es um sexuelle Belästigung geht, müssen alle Universitäten aktiver werden.»

Die Fälle von sexueller Belästigung an Schweizer Universitäten haben in den letzten Jahren ein zunehmendes Bewusstsein für das Problem geschaffen. Vor allem zwei Fälle haben die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Esther Uzar, eine Doktorandin an der Universität Basel, erzählte 2019 den Medien ihre Geschichte.

Fünf Jahre lang wurde sie von ihrem Doktorvater, einem Professor, belästigt und aufgefordert, eine sexuelle Beziehung mit ihm einzugehen. Mutig entschied sich Uzar, ihn anzuzeigen. Die Universität gab ihm zwar eine schriftliche Verwarnung und entzog ihm seine Führungsaufgaben, doch er lehrt noch heute an der Universität. Nach sieben Jahren verliess Uzar die Uni ohne Doktorabschluss.

Ein weiterer Fall, der 2019 bekannt wurde, betraf einen Architekturprofessor an der ETH Zürich, der beschuldigt wurde, Studierende und Mitarbeitende belästigt zu haben. Die ETH untersuchte den Fall und kam nach einer über 42-stündigen Anhörung von 13 Zeugen zum Schluss, dass der Professor gegen den ETH-Compliance-Leitfaden verstossen hatte, aber keine sexuelle Belästigung vorlag.

Ein gesellschaftliches Problem

Sexuelle Übergriffe beschränken sich nicht auf den akademischen Bereich, sondern sind in allen Bereichen der Gesellschaft weit verbreitet, von Tanzensembles bis hin zu multinationalen Unternehmen. Aktuelle Daten zeigen, dass mehr als 5% der Doktorandinnen in Frankreich Übergriffe erlebten, während in den USA über 20% der Studentinnen Opfer von sexuellen Übergriffen oder Fehlverhalten wurden.

Obwohl es in der Schweiz keine nationalen Statistiken zur sexuellen Belästigung von Student:innen oder akademischem Personal gibt, zeigen jüngste Umfragen beunruhigende Ergebnisse. Laut einer von Amnesty Schweiz durchgeführten Umfrage bei rund 4500 Schweizerinnen haben 33% sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Eine unabhängige und anonyme Umfrage der Uni Lausanne im Dezember ergab fast 150 Fälle von sexuellen Übergriffen, darunter vier Vergewaltigungen.

Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich hoch, weil viele Opfer aus Angst vor Konsequenzen für ihre Karriere die Vorfälle nicht melden. Viele weigern sich auch, an einer Untersuchung teilzunehmen oder sind sich nicht bewusst, dass sie belästigt wurden.

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Es geht nicht um Sex, sondern um Macht

Die steile Hierarchie, Unsicherheit und der harte Wettbewerb um Stipendien und Stellen seien ein fruchtbarer Boden für Belästigung im akademischen Bereich, sagt Louise Carvalho, Leiterin des Programms für Vielfalt und Integration bei der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf.

Die Täter:innen seien in der Regel Männer in Machtpositionen, doch auch Frauen seien in der Lage zu belästigen. «Bei sexueller Belästigung geht es nicht nur um Sex, sondern vor allem um Macht», betont Carvalho.

Doktorand:innen, die sich am unteren Ende der akademischen Karriereleiter befinden, sind in besonderer Weise gefährdet. Sie haben oft nur befristete Verträge und sind von Professor:innen abhängig, die in Prüfungskommissionen sitzen und über die Vergabe von Doktortiteln entscheiden – eine in der Schweiz und Deutschland weit verbreitete Praxis, die sie noch anfälliger macht.

Eine Doktorandin an einer Schweizer Universität, die anonym bleiben möchte, erzählte gegenüber SWI swissinfo.ch, dass sie während und nach einer Konferenz von einem Professor sexuell belästigt worden ist. Er sandte ihr unaufgefordert anzügliche E-Mails.

Sie meldete den Vorfall einem Berater ihrer Universität, der die Angelegenheit aber nicht ernst nahm. Sie hatte Angst, dass der Professor ihre Arbeit oder ihr Stipendium ablehnen könnte, wenn sie das Thema weiterziehen würde.

Hohe Kosten

Die persönlichen Kosten für die Opfer sind enorm. Eine interne Studie der Universität Genf von 2016 zeigt, dass Mobbingopfer mit Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen und dem Risiko kämpfen, ihre Karriere nicht fortsetzen zu können. Hinzu kommen potenzielle Rechtskosten, die sich auf 20’000 Franken oder mehr belaufen können.

«Alle meine Mentees, die Opfer von Mobbing oder sexueller Belästigung wurden, hatten mit Depressionen zu kämpfen», erklärte Charbonnel auf der Konferenz in Genf.

Das Schweizer Recht schützt Arbeitnehmer:innen ausdrücklich vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz (Art. 4 des Bundesgesetzes über die Gleichstellung von Frau und Mann).

Doch für ein Opfer, das seinen Arbeitgeber vor Gericht bringt, «ist der Prozess schwierig, riskant, teuer, einsam und sehr lang», sagte Irène Schmidlin, Juristin und unabhängige Vertrauensperson an der Universität Lausanne, auf der Konferenz in Genf.

Schweizer Gerichte entscheiden selten zugunsten der Arbeitnehmer:innen. Nur 18% der Fälle von sexueller Belästigung, die von kantonalen Gerichten behandelt werden, enden zu Gunsten der belästigten Person.

Wenn der Fall vor das Bundesgericht kommt, hat das Opfer immer noch weniger als 50% Chancen auf ein positives Urteil, das eine Entschädigung von bis zu 6 Monatsgehältern bedeuten würde. Neben den Kosten für den eigenen Anwalt muss sich die/der Arbeitnehmende im Falle eines Verlustes (auf kantonaler Ebene) mit bis zu 19’000 Franken an den Anwaltskosten der Gegenpartei beteiligen. Ein Gerichtsverfahren dauert im Durchschnitt rund 4 Jahre, in einigen Fällen sogar 8 Jahre.

Das Hauptproblem bei der Verfolgung von Fällen vor Gericht sei, dass es selten direkte Beweise oder Zeugen gebe, erklärt Juristin Irène Schmidlin. «Gerichtsverfahren sind daher besonders schwierig, insbesondere bei sexueller Belästigung.» Um den Fall bestmöglich vorzubereiten, empfiehlt sie, Zeugen zu suchen, ein sachliches Tagebuch der Ereignisse zu führen und alle möglichen Beweise, von Textnachrichten bis zu Arztbesuchen, detailliert zu erfassen.

Belästigung und Übergriffe haben jedoch auch für Institutionen versteckte Kosten, wie Rufschädigung und Anwaltshonorare. Zu den weiteren Folgekosten gehören Fluktuation, Verlust von Talenten und Know-how sowie eine geringere Produktivität der betroffenen Gruppe. Das International Centre for Research on Women schätzt den jährlichen Produktivitätsverlust bei einem Belästigungsfall auf rund 21’000 Franken.

Es geht immer auch um Reputation. Darum laufen die Institutionen Gefahr, das Problem zu ignorieren und den Täter nicht zur Rechenschaft zu ziehen. «Dies kann passieren, weil diese Person Macht und Ansehen hat, Stipendien bringt oder kurz vor der Pensionierung steht», sagt Charbonnel. Die Art und Weise, wie Institutionen mit Fällen umgehen, kann ihrem Ruf ebenso schaden wie der Fall selbst.

Kampagnen für Sensibilisierung und Vertrauen

Jedoch reagieren akademische Einrichtungen auf diese Herausforderungen. Ein Jahr nach dem internen Bericht von 2016, der auf die persönlichen Kosten von Belästigung hinwies, startete die Uni Genf eine Informations- und Sensibilisierungskampagne mit dem Titel #UNINIE.

Andere Schweizer Universitäten folgten dem Beispiel. Am 23. März findet der Nationale Tag gegen sexuelle Belästigung an Hochschulen statt, mit Veranstaltungen und Aktionen an verschiedenen Institutionen.

Poster
FHV (Fédération des hôpitaux vaudois)
Poster
swissinfo.ch

Kampagnen steigern das Bewusstsein und Schaffen für Opfer einen Raum, um ihre Geschichte zu erzählen. Die Kampagne 2017 an der Universität Basel bestärkte die Doktorandin Esther Uzar zu berichten, dass sie über fünf Jahre von ihrem Professor belästigt worden ist. 

Bald nach ihrem Fall hat die Universität ihre Regulationen zum Schutz der persönlichen Integrität angepasst und einen Code of Conduct entworfen. Sie hat auch eine verantwortliche Stelle geschaffen und eine Reihe von Trainings für Studierende und Angestellte durchgeführt.

«Die Daten über die Auswirkungen von sexueller Belästigung sind eindeutig», sagte Flückiger auf der Konferenz in Genf. «Wir sollten uns daher auf die Bekämpfung von Sexismus, Belästigung und Diskriminierung konzentrieren und eine Null-Toleranz-Politik verfolgen.»

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Sensibilisieren oder nicht sensibilisieren

Eine Möglichkeit, das Bewusstsein und Vertrauen im Umgang mit sexueller Belästigung zu stärken, liegt in der Bildung. Mehrere Institutionen wie die Universitäten Genf und Basel, die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne und die ETH Zürich bieten Kurse an, die aber meistens freiwillig sind.

Jedoch ist die Wirkung solcher Initiativen unklar. Laut den Soziolog:innen Frank Dobbin und Alexandra Kalev von der Harvard-Universität können Schulungen, die über schädliche Verhaltensweisen aufklären sollen, negative Wirkungen haben. Bis hin zu dem Punkt, dass potenzielle Belästiger:innen ihr eigenes Verhalten möglicherweise einfacher akzeptieren.

«Wenn Sie einer Gruppe von Menschen sagen, dass sie das Problem sind, gehen diese in die Defensive», schreiben sie in einem Artikel der Harvard Business Review. Eine Pflichtschulung könnte die Botschaft, dass Männer als «Schurken» betrachtet werden, die man korrigieren muss, nur noch verstärken.

Expert:innen sind sich einig: Kurse und Kampagnen allein reichen nicht aus, um sexuelle Belästigung zu bekämpfen. Denn Kampagnen laufen Gefahr, vor allem diejenigen anzusprechen, die sich bereits für ihre Sache entschieden haben, und die Menschen zu verärgern, die sie warnen wollen.

Warum gibt es keine anonymen Beschwerdebüros?

Die Doktorandin, die ihre Erfahrungen mit SWI geteilt hat, ist skeptisch gegenüber internen Beschwerdebüros. Sie bevorzugt unabhängige Ad-hoc-Stellen für anonyme Beschwerden, weil sie befürchtet, dass die internen Zuständigen Fälle unter den Teppich kehren könnten.

Expert:innen fordern weitere strukturelle und kulturelle Veränderungen, insbesondere eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse und sozialen Absicherung, um die Abhängigkeit von Doktorand:innen, Postdocs und Juniorprofessor:innen gegenüber ihren Vorgesetzten zu verringern. Eine grössere Vielfalt an der Spitze, einschliesslich mehr Frauen, würde nach Ansicht von Dobbin und Kalev ebenfalls dazu beitragen, sexuelle Belästigung zu bekämpfen.

Während strukturelle Veränderungen auf sich warten lassen, fordern Studierende, Forschende und Expert:innen die Führungsetage von Hochschulen auf, ihre «Null-Toleranz-Politik» strikt zu befolgen, den Wandel zu fördern und Verantwortung zu übernehmen. Louise Carvalho betont: «Die Belästigung anderer im Streben nach Spitzenleistungen ist nicht akzeptabel. Ein Vorbild an Respekt für andere am Arbeitsplatz zu sein, ist ein Massstab, der es wert ist, verfolgt zu werden.»

Editiert von Virginie Magnin, Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer.

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