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Schwingen: Vom Sägemehlring zum Riesen-Event

Der Griff an die Schwingerhose ist typisch für das Schwingen – und hat der Schweizer Sportart zum Übernamen "Hosenlupf" verholfen. Keystone

Auch eine Schweizer Traditions-Sportart wie das Schwingen, eine Art Ringen in Kleidern, ist heute ein Millionengeschäft. Wenn sich am Wochenende in der bernischen Stadt Burgdorf im Emmental die "Bösen Buben" im Sägemehl wälzen, reden auch Sponsoren ein gehöriges Wort mit. Das gefällt nicht allen.

Ernst Schläpfer beginnt die Betrachtungen über seinen Sport in der Art eines Märchens: «Es war einmal ein Schweizer Nationalsport für Insider und Schwingerfreunde», erzählt der zweifache Schwingerkönig von 1980 und 1983.

Im letzten Jahrzehnt aber sei das Schwingen immer mehr zu einem öffentlichen Ereignis geworden, einem «Mega-Anlass für jedermann». Das jedoch entspreche dem Charakter dieses Sports eigentlich überhaupt nicht, betont der Ostschweizer Champion. «Ein Schwingfest ist eine sehr ruhige, friedliche Angelegenheit.»

Er kenne einige «echte Schwingerfreunde», die sich distanzierten, «den Rummel nicht mehr mitmachen und nicht mehr ans Schwingfest kommen», sagt Schläpfer. Für ihn hat das Schwingen den Zenit erreicht, was die Grösse der Anlässe und das Medieninteresse betrifft.

Heute sind die besten Schwinger Stars eines Pin-up-Kalenders, es gibt VIP-Zelte neben den Kampfringen aus Sägemehl, die «Bösen» haben lukrative Sponsorenverträge und das Boulevardblatt Blick weiss: «Frauen stehen auf böse Buben».

Das Schwingen habe den Medien sehr viel zu verdanken, sagt hingegen Ernest Schläfli, sechsfacher Gewinner des Schwing- und Älplerfests Schwarzsee und rund ein Jahrzehnt vor Schläpfer aktiv. «Presse, Radio, Fernsehen haben den Sport zu den Leuten gebracht.» Das Schwingen in der Schweiz habe sich in den letzten Jahren dank dem grossen Medieninteresse «fantastisch entwickelt».

Schwingen? Verboten!

Dabei war Schwingen während gewissen Zeiten in der Schweiz sogar verboten. Wie der Eidgenössische Schwingerverband (ESV) schreibt, befürchtete die Obrigkeit im 16. und 17. Jahrhundert, dass die Leute dem Kirchgang fernbleiben würden. Weil besonders an hohen Kirchentagen geschwungen wurde, stellten die Behörden den Kampf im Sägemehl immer wieder unter Strafe.

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Ein Schweizer Nationalsport

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Bilder vom Eidg. Schwing- und Älplerfest in Aarau, 25. und 26. August 2007: Thomas Kern

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Doch die Anfänge des Schweizer Nationalsports gehen viel weiter zurück, wie Ernst Schläpfer erklärt, der sich nicht nur intensiv mit Sägemehl, sondern auch mit der Geschichte des Schwingens beschäftigt hat.

«Schwingen ist eine uralte Sportart, die man schon sehr lange kennt. Es unterschiedet sich vom Ringen dadurch, dass man bei Kämpfen in unseren Breitengraden die Kleider nicht ausgezogen und sich daran festgehalten hat.» Ursprünglich seien dies die Alltagshosen gewesen, die man für den Kampf einfach hochgekrempelt habe.

Erste Abbildungen des typischen gegenseitigen Handgriffs an den Hosengurt des Gegners sind bereits auf Darstellungen aus dem 13. Jahrhundert zu sehen, die älteste davon befindet sich in der Kathedrale von Lausanne.

Deshalb wird Schwingen oft auch als «Hosenlupf» bezeichnet. «Das Schwingen steht damit im Gegensatz zum griechisch-römischen Ringen oder dem Freistilringen, das man ursprünglich nackt betrieben hat», so Schläpfer.

Schwingen sei in früheren Zeiten oft eine Möglichkeit gewesen, sich mit den Männern einer anderen Talschaft zu messen. «Klassisch ist das Schwinget auf dem Brünig: Die Innerschweizer und die Berner treffen sich auf der Passhöhe, und man schaut: Wer ist der Stärkste?»

Suche nach Identität

Die Zeit der Verbote endete erst mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Laut dem ESV war das erste Alphirtenfest bei der Burgruine Unspunnen in der Nähe von Interlaken im Berner Oberland 1805 jener Funke, der zu einer Neubelebung des Sports führte.

Er ging einher mit einer Rückbesinnung auf die eigenen Schweizer Werte, nachdem Frankreich zuvor ganz Europa unter ein Regime gestellt hatte. «Der Anlass zu diesem Fest war ausdrücklich die Hebung des schweizerischen Nationalbewusstseins», schreibt der ESV.

Das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest wird seit 1895 regelmässig durchgeführt, seit 1974 alle drei Jahre.

Die 43. Ausgabe findet vom 30. August bis zum 1. September 2013 in Burgdorf statt. Gekämpft wird in den Sportarten Schwingen, Hornussen und Steinstossen.

Schwingen gehört zu den so genannten Nationalspielen der Schweiz, zusammen mit dem Steinstossen und im weiteren Sinn dem Hornussen, wie das Historische Lexikon der Schweiz (HLS) schreibt.

Erwartet werden über 250’000 Zuschauerinnen und Zuschauer.

Für das Schwingen wurde in Burgdorf extra das grösste Stadion der Schweiz, die Emmental-Arena, aufgebaut. Die Arena bietet über 52’000 Plätze und wird nach dem Schwingfest wieder abgebaut.

Rund um den Grossanlass stehen 4000 Helferinnen und Helfer im Einsatz.

Das Budget beträgt 25 Mio. Franken.

(Quelle: Eidg. Schwing- und Älplerfest 2013)

«Jetzt sind wir in einer ähnlichen Phase», beobachtet Ex-Schwingerkönig Schläpfer. In Zeiten der Globalisierung suchten viele Leute wieder «nach einer Identität, einer echten Schweiz. Sie wollen sich abgrenzen gegenüber der Welt und Europa. Und da helfen natürlich solche Sportarten und Bräuche». Es sei diese Rückbesinnung auf die Swissness, die «jetzt mindestens vordergründig dem Schwingen zu Gute» komme.

«Früher rauchten die Zuschauer Stumpen und trugen Hüte», sagt der Freiburger Preisschwinger Ernest Schläfli, der sich stark für die nächste Austragung des Schwingfests 2016 in Estavayer-le-Lac eingesetzt hat. Er hat beobachtet, dass sich heute auch zahlreiche junge Frauen und Männer für den Sport interessierten. «Auch der weibliche Anteil am Publikum ist zwischen 30 und 40 Prozent», ergänzt er.

Zudem werde der Sport auch bei der französischsprachigen Bevölkerung immer beliebter. «Zu meiner aktiven Zeit hörte man kaum Französisch. Heute hört man die Sprache viel häufiger.»

Die Modernisierung und die vielen Veränderungen um seinen Sport herum stören Schläfli nicht. «Wir leben im Jahr 2013», bemerkt er. Das einzige, was sich nicht verändert habe, sei die Technik: «Der Gegner muss immer noch auf den Rücken, und die Schwünge sind gleich wie zu meiner Zeit», bemerkt er scherzhaft.

Bundesrat neben Bauer

Mehr Mühe mit den Veränderungen bekundet Ernst Schläpfer. Er sieht in den VIP-Zelten, dem «Aufbau einer Zwei- oder Dreiklassen-Gesellschaft wie an Fussballspielen», eine «sehr gefährliche Entwicklung». Es sei eben gerade typisch für das Schwingens gewesen, dass eine solche Trennung gefehlt habe.

«Der Bundesrat sitzt einen Tag lang neben dem Bauern. Und zwangsweise beginnt man da, miteinander zu reden.» Diese Ungezwungenheit werde nun «unter Druck von Sponsoren und Marketing-Leuten aufgegeben».

Schwingerkönig Schläpfer, der mit 24 Jahren sein erstes «Eidgenössisches» gewann und mit den Preisgeldern «mehr oder weniger» sein Studium finanzieren konnte, ist froh, dass «Big Business» damals dem Sägemehl noch ferngeblieben ist. «Ich bin lieber finanziell unabhängig als dass ich für irgend eine Grossfirma täglich zur Verfügung stehen muss», kommentiert er die heutige Situation vieler Spitzenschwinger. Und da scheint die Welt der Schwinger plötzlich weit weg von einem Märchen.

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