Sein Tessin hat ihn nie verlassen
"Er hat die Schweiz nie verlassen", sagt Gianfrancos Frau Alicia. In diesem Porträt erzählt der pensionierte Uhrmacher, wie er vor über 50 Jahren ein neues Leben in der Neuen Welt anging. Das Heimweh aber, es ging nie weg.
Letztes Jahr war ich im Schweizer Konsulat in San Francisco. Ich besuchte eine Ausstellung, die dem Projekt Moghegno-Monterey gewidmet war. Es ging da um eine Porträt-Serie von Auswandererinnen und Auswanderern aus dem Tessin und ihren Familien.
Ein eleganter, älterer Mann kam auf mich zu und sagte stolz: «Ich bin der letzte Auswanderer, der das Tessin verlassen hat.»
Gianfranco Consolascio wollte seine persönliche Geschichte der Auswanderung erzählen. Und ich wollte verstehen, was es mit diesem Satz auf sich hatte. Nach ihm hatten schliesslich noch viele das Tessin verlassen, sie verlassen es immer noch.
Ich glaube, er bezog sich auf eine Art Generationen-Wechsel: Es gibt Menschen, die aus der Not heraus gegangen sind. Dann jene, die emigrierten aus dem Wunsch heraus, in einem anderen Land neu anzufangen. Gianfranco hingegen wollte einfach Amerika sehen.
Er wurde 1938 in Brione sopra Minusio, einem Dorf oberhalb des Lago Maggiore im Kanton Tessin, geboren. In seinen frühen Zwanzigern arbeitete er in La Chaux-de-Fonds für verschiedene Uhrenfirmen.
Der 85-Jährige erinnert sich gerne an diese Zeit. Er erzählt, wie er an Abendkursen teilnahm, um seine Fähigkeiten zu erweitern und zu verbessern. Die Beherrschung mehrerer Fachgebiete, wie etwa Chronometer und Spiralen, war bei Stellenbewerbungen in den verschiedenen Fabriken von Vorteil.
Alles begann mit einer Anzeige
Er hatte kein Auto, wohnte in einem Neubauquartier und ging zu Fuss zur Arbeit. Er traf sich mit Kollegen – viele aus dem Tessin. Mit ihnen verbrachte er auch einen Grossteil seiner Freizeit bei Tanz oder beim Kaffee.
1969 sieht er in einer Zeitung ein Inserat: Universal Genève, eine der Firmen, für die er zuvor gearbeitet hatte, sucht Leute für ihre New Yorker Filiale.
Gianfranco ergreift die Chance. In New York ändert sich sein Leben von Grund auf: Er lernt bei der Arbeit seine venezolanische Frau Alicia kennen, und nach einigen Jahren ziehen sie nach Kalifornien, wo er in San Francisco eine Uhrenreparaturwerkstatt eröffnet. Das Paar zieht dort auch zwei Töchter gross.
In der Wohnung in San Rafael finden sich viele Hinweise auf Gianfrancos Leben in der Schweiz: Bücher über das Tessin und den Rest des Landes, Fotos aus der Gegend von Locarno, das Familienwappen und eine verblichene Postkarte.
Nur noch das Tessin im Kopf
Voller Rührung erklärt er, dass eine der beiden Frauen darauf seine Grossmutter Maria Sciaroni sei, man sieht sie auf dem Markt in Locarno. Sie kam immer von Brione dorthin, um Obst zu verkaufen.
Obwohl er seine Grossmutter nie gekannt hat, zeigt sich eine tiefe Verbundenheit, vielleicht das selbe Band, das er mit dem Tessin hat, welches er immer wieder besucht hat.
Als er noch im Tessin lebte, fuhr Gianfranco in die Ferien nach Italien, Spanien und Portugal. Heute würde er nur noch ins Tessin reisen, sagt er. Im Laufe der Jahre habe er es immer mehr schätzen gelernt.
Alicia sagt, dieses Gefühl der Nostalgie sei spürbar und seine Liebe zu seiner Heimat sei ständig präsent – wenn er rede, und wenn er schweige.
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