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Als Anarchisten die Schweiz terrorisierten

«Die Kaiserin ins Herz getroffen»

Illustration des Mörders und der zwei Frauen
Die Szene des Mordes von Kaiserin Sisi in Genf, gesehen und gezeichnet von Comics-Autor Andrea Caprez. Andrea Caprez

Die Schweiz als Tatort für Weltgeschichte: 1898 wird Kaiserin Elisabeth von Österreich in Genf ermordet. Die beliebte "Sisi", erdolcht von einem italienischen Anarchisten. Der Fall wühlt die Herzen der Menschen auf.  Die Welt ist wütend auf die Schweiz. Doch diese verteidigte ihre offenen Grenzen.

Mit einem Pfiff kündigt das Dampfschiff Genève seine baldige Abfahrt an. Kaiserin Elisabeth und ihre Hofdame sind schon fast beim Steg angelangt, als ein Unbekannter auf sie zustürzt und der Kaiserin einen spitzen Gegenstand in die Brust rammt. 

«Oh nein, es ist nichts! Er stiess mir nur gegen die Brust, offenbar hatte er es auf meine Uhr abgesehen.» Kaiserin Sisi. Kurze Zeit später war sie tot.

Lautlos sinkt sie zu Boden. Passanten helfen ihr auf die Füsse, die Hofdame – so will es zumindest die Überlieferung – fragt ängstlich: «Majestät, sollen wir nicht lieber ins Hotel zurückkehren?» Elisabeth erwidert: «Oh nein, es ist nichts! Er stiess mir nur gegen die Brust, offenbar hatte er es auf meine Uhr abgesehen.»

Lächelnd in den Knast

Zwei Kutscher setzen dem vermeintlichen Dieb nach, der sich aus dem Staub machen will. Als sie ihn überwältigen und der Polizei übergeben, stimmt er ein Liedchen an. «Ich habe sie erwischt», trällert er. «Sie muss tot sein.» Auf dem Posten erklärt er den Beamten, er sei Anarchist, und wenn alle Anarchisten so pflichtbewusst wären wie er selbst, gäbe es bald keine bürgerliche Gesellschaft und keine Ungerechtigkeit mehr.

Strahlte bei der Verhaftung: Lucheni wird von zwei Genfer Polizisten abgeführt
Strahlte bei der Verhaftung: Lucheni wird von zwei Genfer Polizisten abgeführt. IMAGNO/Österreichisches Volkshochschularchiv

Während Luigi Lucheni verhört wird, kämpfen die Ärzte um das Leben der österreichischen Kaiserin. Kurz nach dem Attentat ist sie in Ohnmacht gefallen. Man hat sie auf ihr Zimmer im Hotel Beaurivage gebracht, wo sie kurz darauf stirbt. Es ist der 10. September 1898. 

Die Neuigkeit schockiert die ganze Welt. Es ist nicht das erste Attentat auf ein gekröntes Haupt in Europa. Der spanische und der italienische König sowie Kaiser Wilhelm wurden von Anarchisten verwundet, Zar Alexander II. sogar getötet. (Verweis auf «Dynamit im Bundeshaus».) Die Wut der Anarchisten trifft auch Politiker, Richter und Staatsanwälte.

Vor drei Jahren wurde der französische Präsident erdolcht, der italienische und der spanische Ministerpräsident kamen mit dem Schrecken davon. Aber noch nie gab es ein Attentat auf eine Regentin.

Bestürzung bis über den grossen Teich

Europa ist erschüttert. In Wien, so berichtet die NZZ, herrsche «allgemeines Entsetzen, höchste Bestürzung und Trauer und furchtbare Entrüstung über die ungeheurliche Tat.» Eine Wiener Dame fordert lauthals, man müsse den Täter «in kleine Stücke zerschneiden». In Budapest weinen Frauen und Männer auf der Strasse. In Paris hat die Neuigkeit laut dem Petit Journal «eingeschlagen wie ein Blitz». Zeitungskioske werden «von Menschenmengen belagert», und Verlage verteilen gratis Extra-Blätter.

Amerikanische Boulevardzeitungen drucken Porträts von Sisi ab und verkünden in fetten Lettern: «ELISABETH VON OESTERREICH VON EINEM ANARCHISTEN ERMORDET. DIE KAISERIN INS HERZ GETROFFEN. Die grässliche Tat wurde von einem Italiener im schweizerischen Genf verübt.»

Zeichnung des Los Angeles Herald vom Täter und seiner Mordwaffe
So präsentierte der Los Angeles Herald den Täter und seine Mordwaffe. Los Angeles Herald

Auch in der Schweiz, die bis anhin wie durch ein Wunder von anarchistischen Attentaten verschont geblieben ist, trauert man um Sisi. In Genf ist die Bestürzung besonders gross. Fahnen werden auf Halbmast gesetzt; Läden schliessen; Theater sagen die Vorstellungen ab; Politiker und Diplomaten eilen ins Hotel Beaurivage, um der aufgebahrten Kaiserin die letzte Ehre zu erweisen. (siehe Bild Petit Journal) 

«Nicht einmal der Mord an Cäsar vermochte die Welt so sehr zu erschüttern wie der an Elisabeth.» Mark Twain

Der Schriftsteller Mark Twain, der sich in Genf aufhält, schreibt einem Freund: «Nicht einmal der Mord an Cäsar vermochte die Welt so sehr zu erschüttern wie der an Elisabeth.» Am folgenden Tag, es ist ein Sonntag, steht die Bevölkerung Schlange, um sich ins Kondolenzbuch einzutragen, das im Hotel Beaurivage aufliegt. 

Politische Krise

Der Bundesrat hält in Bern eine ausserordentliche Sitzung ab und äussert sein Bedauern, dass die Kaiserin inkognito nach Genf gereist sei und auf Polizeischutz verzichtet habe. Trotzdem wird die Schweiz von der Presse in den Nachbarländern beschuldigt, dass sie «Revoluzzern jeder Art Unterschlupf gegeben habe» und dank ihrer liberalen Asylpolitik «alles aufnehme, was zu ihr komme, also auch die Verbrecher aus aller Herren Länder.»

In der Schweiz werden Stimmen laut, die eine Ausweisung aller Anarchisten fordern. Wenn «edle Frauen», so schimpft die NZZ, «vor dem Mordstahle entmentschter Fanatiker» nicht mehr sicher seien, dann müssten alle Mittel recht sein, um die Menschheit «von der Pestbeule des Anarchismus» zu befreien. 

Die bürgerliche Presse nutzt die Gunst der Stunde für einen Angriff auf die Sozialisten und wirft ihnen zu grosse Nachsicht mit anarchistischen Attentätern vor. 

Bühne für Klassenkampf

Das lassen die Sozialisten nicht auf sich sitzen. Sie distanzieren sich vom «ruchlosen Attentat» auf eine wehrlose Frau und stellen richtig: «Es gilt für uns, den Kapitalismus totzuschlagen. Dies kann geschehen ohne Einzelne um den Kopf kürzer zu machen.» Lucheni, der als uneheliches Kind im Kinderheim aufwuchs und in jungen Jahren als «Bauernknechtlein» verdingt wurde, ist für sie ein Opfer des Systems. 

«Die kapitalistische Gesellschaft ists, welche die Anarchisten erzeugt, und sie hat kein Recht, sich über ihre Produkte zu beklagen», erklärt ein sozialistischer Redner an einer Versammlung. «Sie hat auch diesem Mörder das Werkzeug geschliffen zu seiner That.»

Liberales Asylrecht bleibt!

Trotz ideologischer Differenzen ist man sich in der Schweiz weitgehend einig, dass eine Verschärfung des Asylgesetzes nicht in Frage kommt, schon gar nicht auf politischen Druck des Auslandes. Die Sozialisten erklären: «Nicht mehr Polizei, nicht eine verschärfte Fremdenkontrolle, kein Waffenverbot können Hilfe bringen und die Anarchisten ausrotten.» 

Die bürgerliche NZZ argumentiert ähnlich liberal. Sie schreibt, der «Freiheitsgedanke in Europa» sei ernsthaft gefährdet, wenn die Schweiz «ihre stolze Stellung» als Asylland aufgebe. Repression sei bekanntlich keine Garantie gegen politische Gewalt: «Man kann verzweifelte Menschen von Land zu Land hetzen, aber einmal wird sich ihnen die Gelegenheit doch bieten, und sie werden diese dann so sehr ausnützen, wie sie können. Es mag wohl demütigend für uns sein, zu denken, dass wir im Glanze unserer Civilisation nicht sicher sein sollten, aber es ist in der Tat so, und wir werden gut tun, dies anzuerkennen.»

Polizeifoto von Lucheni
Bildnisse eines Täters: Polizeifoto Luigi Luchenis. swissinfo.ch

Unterdessen läuft die Untersuchung des Verbrechens auf Hochtouren. Obwohl Lucheni beteuert, er sei Einzeltäter, vermutet der Untersuchungsrichter ein anarchistisches Komplott. Es finden Verhöre in Paris, Wien, Budapest, Neapel, Parma, Lausanne und Zürich statt. Mehrere Anarchisten werden verhaften, müssen aber mangels Beweisen wieder freigelassen werden.

Gerichtsverhandlung als Global News

Am 10. November 1898, zwei Monate nach dem Attentat, steht Lucheni vor Gericht. Sechzig Reporter aus ganz Europa, darunter vier Frauen, haben sich akkreditiert. Der Staatsanwalt verliest ein Gutachten des bekannten Psychiaters Cesare Lombroso, dem die Welt die irrwitzige Theorie des geborenen Verbrechers verdankt. Entsprechend führt Lombroso die Tat darauf zurück, dass Lucheni als Sohn eines «cholerischen Trinkers» den Hang zum Verbrechen geerbt habe.

«Übrigens bin ich kaum zwei oder drei Mal zur Schule gegangen.»  Luigi Lucheni, Attentäter

Lucheni selber erklärt dem Richter und den Geschworenen, er habe sich für sein elendes Dasein rächen wollen: «Meine Mutter hat mich verleugnet und verlassen, sobald ich auf die Welt kam. (…) Und bedenken Sie, in welcher Familie ich erzogen wurde. Sie hatten nicht genug Nahrung für ihr eigenes Kind. Übrigens bin ich kaum zwei oder drei Mal zur Schule gegangen.» 

Kurzen Prozess

Ein Zimmergenosse berichtet jedoch, Lucheni habe ihm anvertraut: «Ich würde gern jemanden töten, aber es müsste eine sehr bekannte Persönlichkeit sein, damit man in den Zeitungen darüber lesen kann!» 

Die aufgebahrte Sisi umgeben von Kerzen und Trauernden
Sisi im Sarg. Getty Images / Imagno

Da Lucheni keine Reue zeigt, wird er, nach nur einem Verhandlungstag, zu lebenslanger Haft verurteilt. Als er den Saal verlässt, ruft er: «Es lebe die Anarchie! Nieder mit den Aristokraten!» Doch glaubt man den Journalisten, so schwingt in seiner Stimme mehr Angst als Triumph mit.

Zwei Wochen später nehmen in Rom Vertreter von 21 Ländern an der ersten Internationalen Konferenz für die soziale Verteidigung gegen Anarchisten teil. Sie verpflichten sich, härter gegen Anarchisten vorzugehen, die Berichterstattung über anarchistische Aktivitäten einzuschränken und die Ermordung von Staatsoberhäuptern mit der Todesstrafe zu ahnden. 

Man einigt sich auf ein einheitliches System, um Verdächtige erkennungsdienstlich zu erfassen, und plant einen internationalen Informationsaustausch zwischen den Polizeibehörden.

Was geschah mit seinem Lebensbericht?

Luigi Lucheni verbüsst die ersten zwei Jahre seiner Strafe in einer Einzelzelle, wo er Pantoffeln herstellt. Als das Haftregime wegen guter Führung gelockert wird, schreibt er seine Kindheitserinnerungen, ein erschütterndes Dokument über die Mühsal der armen Leute im Europa des ausgehenden 19. Jahrhundert. 

Doch im Frühling 1909 verschwindet das zweihundertseitige Manuskript «auf geheimnisvolle Weise» aus seiner Zelle. Lucheni ist ausser sich und beklagt sich beim Gefängnisdirektor. Die Situation eskaliert. Lucheni hat Tobsuchtsanfälle und demoliert seine Zelle, der Direktor kontert mit immer härteren disziplinarischen Strafen. So lässt er auch das Bild von Kaiserin Elisabeth aus der Zelle von Lucheni entfernen.

Am 19. Oktober 1910 erhängt sich Luigi Lucheni mit seinem Gurt in der Arrestzelle. Doch er kommt auch nach dem Tod nicht zur Ruhe: Derselbe Professor, der schon die Autopsie an Kaiserin Sissi vorgenommen hat, untersucht sein Gehirn, um zu prüfen, ob sich in der Gehirnstruktur eine Veranlagung zum Verbrechen findet. Als er keine Auffälligkeiten findet, konserviert er den abgesägten Kopf von Lucheni in einem mit Formalin gefüllten Glas. 

Das Präparat bleibt bis 1985 im Besitz des Gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Genf, dann wird es nach Wien überstellt. Erst im Jahr 2000 wird der Kopf von Lucheni in aller Stille auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt – keine zehn Kilometer von der Kapuzinergruft entfernt, wo Kaiserin Elisabeth, sein Opfer, die letzte Ruhe fand.

Attentate in der Schweiz

Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt, dass politisch motivierte Gewalttaten hierzulande weitaus häufiger waren als uns dies heute bewusst ist. Das erste terroristische Attentat auf Schweizer Boden galt der Kaiserin von Österreich. Sie wurde 1898 vom Anarchisten Luigi Luccheni mit einer Feile erstochen. Sisi war das erste Todesopfer, das der anarchistische Terror in der Schweiz forderte, aber sie war nicht das einzige. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Schweiz eine eigentliche Welle von terroristischen Gewalttaten. Anarchisten überfielen Banken und die Polizeikaserne in Zürich, sie versuchten, Züge in die Luft zu jagen, sie erpressten Industrielle, verübten Bombenanschläge und brachten politische Widersacher um.

Meist stammten die Täter aus dem Ausland, es waren Russen, Italiener, Deutsche und Österreicher, die in der Schweiz politisches Asyl gefunden hatte. Nur eine Minderheit der Täter waren Schweizer, und meist standen sie in engem Kontakt zu ausländischen Anarchisten. Der Schrecken, den diese Gewalttäter verbreiteten, war meist grösser als der Schaden, den sie anrichteten. Und manchmal gingen sie so stümperhaft vor, dass sie sich beim Bau ihrer Bomben versehentlich selber in die Luft sprengten.

Für die Schweiz waren die anarchistischen Gewalttaten eine politische Herausforderung: Das Land reagierte mit Ausweisungen und Gesetzesverschärfungen. Im sogenannten Anarchistengesetz wurde 1894 das Strafmass für alle mit Hilfe von Sprengstoff begangenen Verbrechen heraufgesetzt und auch vorbereitende Handlungen unter Strafe gestellt. Gleichzeitig weigerte sich die Schweiz jedoch, die Asylgesetze, die politische Verfolgten grosszügig Schutz bot, zu verschärfen.

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