Sexueller Missbrauch: Täter sind oft Gleichaltrige
Für viele Jugendliche ist sexueller Missbrauch eine traurige Realität. Laut einer Befragung von 6700 15- bis 17-Jährigen sind 15% von ihnen schon mindestens einmal Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden. Oft sind die Täter Gleichaltrige.
«Jedes fünfte Mädchen ist mindestens einmal im Leben schon Opfer eines sexuellen Übergriffs gewesen, bei dem es zu körperlichem Kontakt kam. Bei den Knaben war es fast jeder Zehnte. 1,5% aller Jugendlichen sagen sogar, schon einmal zu Geschlechtsverkehr gezwungen worden zu sein», erklärte Manuel Eisner, Mitverfasser der Studie der UBS Optimus Foundation, anlässlich deren Präsentation.
Die Folgen für die Opfer sexueller Gewalt sind oft verheerend. «Betroffene leiden zwölfmal häufiger unter gesundheitlichen Problemen. Sie haben doppelt so häufig psychische Probleme wie Angst, Depressionen und Niedergeschlagenheit. Und: Die Opfer werden später auch oft selbst zu Tätern», sagte Patricia Lannen, Koordinatorin der Studie und Mitglied der Optimus Foundation.
Diese persönlichen Tragödien haben auch Auswirkungen auf die Gemeinschaft: Laut Studien aus den USA verursachen alle Formen von Vernachlässigung sowie physischem und psychischem Missbrauch von Kindern jährliche Kosten in der Höhe von über 100 Milliarden Dollar, oder 1% des Bruttoinlandproduktes.
Der Täter stammt nicht immer aus der Familie
Für die Studie wurden über 6700 Neuntklässler – also Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren – aus allen Schweizer Kantonen befragt. Zudem wurden Informationen über 324 bei Kinder- und Jugendschutz-Institutionen gemeldeten Fällen berücksichtigt.
«Der Forschungsbericht soll helfen, gemeinsam mit Akteuren aus Politik und Praxis vorbeugende Massnahmen zu entwickeln. Entscheidend ist, dass künftige Kampagnen ein breiteres Publikum erreichen sollen», sagte Eisner, Vizedirektor des Instituts für Kriminologie der Universität Cambridge.
Während Kinder, die sexuelle Übergriffe erleben, häufig im engeren Familienkreis missbraucht werden, ist dies bei Jugendlichen offenbar anders: Bei ihnen geht sexuelle Gewalt viel öfter von Gleichaltrigen aus.
«Dieses Ergebnis hat uns erstaunt», sagte Manuel Eisner. Fast die Hälfte der befragten jugendlichen Opfer (42%) gaben an, der Täter oder die Täterin (bei 90% handelt es sich um Männer) sei der ehemalige oder damalige Partner oder ein Freund gewesen. Nur 9% der Opfer benannten ein Familienmitglied als Täter.
Risikofaktoren und Prävention
Die Studie konzentriert sich auch auf die Risikofaktoren. Wer schon als Kind Gewalt erlebt hat, riskiert eher, auch als Jugendlicher Missbrauchsopfer oder selber Täter zu werden. Die Gefahr steigt bei Alkohol- oder Drogenkonsum.
Risikofaktoren zu ermitteln bedeute jedoch nicht, «aus dem Opfer einen Täter zu machen», so Eisner. Das Ziel sei vor allem zu verstehen, «in welche Richtung die Prävention gehen muss».
Für Jugendarbeiter sei es also wichtig, die Kräfte vor allem auf die ausserfamiliäre Lebenswelt der Jugendlichen zu konzentrieren, schliessen die Autoren der Studie. Wenn es darum gehe, den Drogen- und Alkoholkonsum oder die Jugendgewalt zu bekämpfen, müssten auch richtige Schritte zur Einschränkung der Anzahl sexueller Missbräuche getan werden. «Der gemeinsame Nenner ist der Anspruch auf einen verantwortungsbewussten Lebensstil», sagte Eisner.
Man spricht darüber, aber nicht mit Freunden
Ein weiterer Befund der Studie ist die Tatsache, dass die Opfer von sexuellem Missbrauch nur in den seltensten Fällen professionelle Hilfe suchen oder die Missbräuche melden. So kam es nur in rund 5% der Fälle zu zu einer Anzeige bei der Polizei.
Ein stattlicher Prozentsatz der Jugendlichen (4 von 10) gab an, noch nie mit jemandem über seine Erfahrungen gesprochen zu haben. 60% dagegen haben dies getan, aber vor allem mit Freunden oder Kollegen und, in vermindertem Mass, mit Familienangehörigen.
Auch daraus können Jugendarbeiter Lehren ziehen. Kampagnen sollten zudem künftig nicht nur die Betroffenen selbst, sondern verstärkt deren Freunde und Eltern ansprechen. «Sie sind meistens die ersten Ansprechpartner nach sexuellen Übergriffen», sagte Eisner. Ihnen sollte besseres Wissen vermittelt werden, wie sie den Opern am besten beistehen können und wer weitere Hilfe anbieten kann.
Das Internet verbessert die Situation nicht
Missbräuche mit Körperkontakt sind lediglich die Spitze des Eisbergs. Die Fälle ohne Körperkontakt sind wesentlich zahlreicher: 397 von 1000 Mädchen (knapp 40%) und 199 von 1000 Knaben (fast 20%) berichteten von Exhibitionismus, Voyeurismus, Konfrontation mit pornografischem Material, verbalen oder schriftlichen sexuellen Belästigungen, Versenden von Nacktfotos und dergleichen.
Zahlenmässig am stärksten ins Gewicht fällt sexuelles Mobbing im Internet, auch «Cyberbullying» genannt. «Leider nehmen die Belästigungen via elektronische Medien immer mehr zu. Fast eines von 3 Mädchen und einer von 10 Knaben waren von ähnlichen Erfahrungen betroffen», betonte Eisner.
Diese Art von Fällen sollte nach Ansicht der Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Optimus Studie, nicht unterschätzt werden: «Im Internet als Hure beschimpft zu werden, ist nicht bedeutungslos, sondern kann zu Traumata führen.»
Die UBS Optimus Foundation, die 1999 von der Schweizer Grossbank gegründet wurde und Projekte zugunsten von Kindern unterstützt, hat dieselbe Forschung über sexuellen Missbrauch auch in China unternommen. In Afrika und Lateinamerika wurde eine solche eingeleitet.
In China wurden an den Schulen von 6 Städten 18’000 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren befragt. Gleichzeitig wurden 9000 Eltern und weitere 3300 Jugendliche an ihrem Wohnsitz interviewt.
Aus dieser Studie geht hervor, dass in China 9,3% der Knaben und 6,6% der Mädchen mindestens einmal Opfer von sexuellem Missbrauch waren.
Schwere sexuelle Straftaten an bis zu 12-jährigen Kindern sollen in der Schweiz nicht mehr verjähren. Das hat der Nationalrat, die grosse Parlamentskammer, als Erstrat in der Debatte zur Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative entschieden. Anträge für höhere Alterslimiten hatten keine Chance.
Volk und Stände hatten die Initiative der Organisation Marche Blanche im November 2008 gegen den Willen des Bundesrates angenommen. Seither steht in der Bundesverfassung, dass die Verfolgung sexueller oder pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät und die Strafe für solche Taten unverjährbar sind.
Die Verfassungsbestimmung «vor der Pubertät» muss im Gesetz in Zahlen ausgedrückt werden. Der Bundesrat und die Mehrheit der Rechtskommission wollten eine Altersgrenze bei 12 Jahren und setzten sich mit 102 zu 82 Stimmen durch. Namentlich die Schweizerische Volkspartei (SVP) hätte eine höhere Limite, nämlich 16 Jahre, gewünscht.
(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)
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