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Siedlung Halen: 50 Jahre urbanes Landleben

Damals ein ungewohnter Anblick: Die Siedlung Halen zu Beginn der 1960er-Jahre. Albert Winkler

Ein junges Architekten-Kollektiv, fehlende Aufträge, Le Corbusier als Vorbild und ein Landwirt, der alles oder nichts verkaufen will: Die Siedlung Halen bei Bern – Sichtbeton-Klassiker des verdichteten Bauens und internationale Architektur-Ikone – wird 50.

Es regnet. In der Wohnung von Fritz Thormann ist es trocken. Hätte Volkes Stimme recht gehabt, würde es jetzt tröpfeln.

“Damals hat es geheissen, Flachdächer seien leck und die Gartenmauern erinnerten an Schweinegehege”, erzählt Thormann.

Damals, das war im Herbst 1960, als die Wohneinheiten der Siedlung zum Verkauf standen. Seither lebt der Architekt Fritz Thormann hier.

Zuvor hatte er als Bauführer den Bau hochgezogen. Ans Wegziehen haben er und seine Frau “noch keinen Augenblick” gedacht.

“Als Ortsplaner bin ich viel in den Dörfern herumgekommen und habe die Streitereien wegen zu hoch wachsenden Bäumen und die absurden Auseinandersetzungen unter Villenbesitzern mit erlebt. Das gibt es hier nicht. Das ist der Architektur, der sehr strengen Abtrennung der Wohnungen zu verdanken.”

Die Gärten haben die Funktion eines durch Gartenmauern von Blicken und Geräuschen geschützten Freiluft-Wohnzimmers.

“Im Sommer sitzt hier alle 4 Meter 20 eine Familie und macht Lärm. Dennoch kann ich im Garten in Ruhe ein Buch lesen”, lobt Thormann und fügt an: “Punkto Akustik waren wir der Zeit weit voraus. Wir haben selber gerne gefestet und hatten in unseren vorherigen Wohnungen regelmässig Schwierigkeiten mit den Nachbarn. Darum war uns die Schallisolation ein sehr grosses Anliegen.”

Die Flachdächer haben bis heute dicht gehalten. Erst jetzt, nach 50 Jahren, steht eine Sanierung an. Das ist auch für schweizerische Normaldächer eine überdurchschnittlich lange Lebensdauer.

Moderne gleich Kommunismus

Hohe Wohnqualität und eine ebensolche Bausubstanz: Die Siedlung Halen gilt als Pionierwerk und als weltweit nachgeahmter Prototyp des verdichteten, familienfreundlichen Bauens und ist ein viel besuchter Wahlfahrtsort für Architektur-Studenten und -Touristen. Wenn eine Wohneinheit zu verkaufen ist, wechselt sie blitzartig die Hand.

Damals war das anders. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung habe die Siedlung “radikal abgelehnt”, erzählt Thormann: “Die Moderne war überhaupt noch nicht akzeptiert. Sie war gleichbedeutend mit dem Kommunismus. In ganz Mitteleuropa baute man neoklassizistisch oder im Heimatstil. Es war nicht nur eine Stilfrage, sondern eine Frage der Lebensform. Das hat einige potentielle Kunden vom Kauf abgehalten.”

Gekauft worden seien die Wohneinheiten schliesslich zu 30% von “Liebhabern, die aus politischen, künstlerischen oder humanistischen Gründen” von der platzsparenden, gleichermassen auf Gemeinschaft und Privatsphäre ausgerichteten Architektur begeistert waren. Dass die Wohneinheiten vergleichsweise günstig waren, hat laut Thormann die restlichen 70% der Erst-Käufer überzeugt.

Alles oder nichts

Am Anfang der Siedlung Halen steht der Architekt Hans Brechbühler, der 1930/31 zwei Jahre bei Le Corbusier gearbeitet hatte. In den 1950er-Jahren hatte Brechbühler zu viele Angestellte und zu wenig Aufträge. 1955 gründeten fünf seiner Angestellten das “Atelier 5”.

“Die jungen Architekten wollten etwas machen aus ihrem Beruf. Darum planten sie den Bau von fünf zusammengebauten Einfamilienhäusern für den Eigengebrauch. Vorbild waren zwei nie realisierte Entwürfe von Le Corbusier”, erinnert sich Thormann.

Der Landbesitzer habe jedoch nicht lediglich einen Teil seines Landes verkaufen wollen, sondern “Alles oder nichts. So ist das Projekt entstanden”.

Anpassungsfähigkeit als Philosophie

Das “Projekt”, das sind 80 Wohneinheiten, unterschiedlich gross, aber mit analogem Grundriss, ein Dorfplatz, Gemeinschaftsräume, ein Schwimmbad, ein Laden, autofreie Gassen, eine zentrale Auto-Einstellhalle und eine Tankstelle – alles aus mittlerweile zu weiten Teilen grün überwuchertem Sichtbeton.

Seit 2003 steht die Siedlung Halen unter Denkmalschutz. “Ich bin davon nicht begeistert”, sagt Thormann: “Wir haben die Häuser so konzipiert, dass nur die Aussenmauern tragen. Die Zwischenwände können beliebig verschoben werden. Die Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse, die Möglichkeit, die Räume neu einzuteilen, das gehört zur Philosophie.”

Veränderte Bedürfnisse

Dazu komme, dass sich die Welt seit dem Bau der Siedlung “massiv verändert” habe: “Die damaligen Käufer waren allesamt jüngere Familien mit zwei bis drei Kindern. Seither funktionieren viele Familien anders, die Gesellschaft überaltert.”

Thormann kann sich – “im Sinne der immer schon angedachten Flexibilität” – auch vorstellen, dass ganze Teile “abgebrochen und beispielsweise durch Alterswohnungen” ersetzt würden, “statt, dass die Leute in ihren grossen Wohnungen bleiben”.

Andreas Keiser, Herrenschwanden bei Bern, swissinfo.ch

1955 in Bern von den fünf Architekten Erwin Fritz, Samuel Gerber, Rolf Hesterberg, Hans Hostettler und Alfredo Pini gegründet.

1956 Aufnahme von Niklaus Morgenthaler und 1959 von Fritz Thormann.

Mit dem Bau der Siedlung Halen wurde das Atelier 5 in Architekturkreisen weltweit bekannt.

Das prototypische Bauen sowie die Arbeit in der Gruppe sind wesentliche Merkmale des Büros.

Dazu kommen der anfangs markante Bezug auf Le Corbusier und die seit der Gründung des Büros bis heute anhaltende Beschäftigung mit dem Baumaterial Beton.

Neben weiteren exemplarischen Wohnbebauungen (Thalmatt, Ried, Hamburg-Rotherbaum, Dreikönigshöfe-Mainz) entstanden beispielhafte Lösungen im Spitalbau (Spital Schwarzenburg), im Bauen in historischer Umgebung (Amtshaus Bern, Justizzentrum Potsdam, Bahnhof Bern) bei institutionellen und Gewerbebauten ( Hypovereinsbank Luxemburg) sowie bei städtebaulichen Arbeiten ( Port-Libben Prag, Erfurt Ringelberg).

In jüngster Zeit hat das Atelier 5 zudem Erfolge bei Nicht-Wohnungsbau-Projekten erreichen können: Neben der Fertigstellung des Justizzentrums in Potsdam und dem Umbau Bahnhof Biel, konnten es bei zwei internationalen Wettbewerben – neues Schauspielhaus und Sanierung der Oper in Köln und eine neue Synagoge in Potsdam – gute Platzierungen erlangen.

Das Atelier 5 hat regelmässig neue Partner aufgenommen und funktioniert noch heute als gleichberechtigte Architektengemeinschaft.

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