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«Stadt des Friedens» in Gefahr?

Allein im letzten Jahr hat die Kriminalität im Kanton Genf um 18% zugenommen. Keystone

Die Genfer Polizei hat eine Sondereinheit gegen Strassenkriminalität ins Leben gerufen und will mit mehr Beamten gegen die steigende Zahl von Delikten vorgehen. Doch einige ausländische Diplomaten finden, es müsse mehr getan werden.

Auf Listen, bei denen es um die Lebensqualität geht, figuriert Genf immer wieder unter den weltweiten Top-Ten.

Andererseits steht Genf unter den Schweizer Städten mit der höchsten Zahl von Delikten pro Einwohner – 217 auf 1000 im Jahr 2011 – ebenfalls an der Spitze.

Die Kriminalitätsrate stieg im Kanton Genf im letzten Jahr im Vergleich zu 2010 um 18% auf 72’871 Delikte – gegenüber 6% im nationalen Durchschnitt. Grösstenteils ging es bei den Delikten um Einbrüche (25 bis 50 pro Tag) und Strassendiebstähle.

Nabil Mohammed Al-Saleh, der saudi-arabische Generalkonsul und Doyen des Genfer Konsularkorps, sagte, die prekäre Sicherheitslage sei zur Sorge «Nummer eins» der Diplomaten in der Stadt geworden.

«Die Kriminalität in Genf ist in den vergangenen zehn Jahren gestiegen», sagte er. «Alle sind beunruhigt. Alle haben etwas durchgemacht.»

In den letzten drei Monaten wurden sechs Angestellte des Konsulats beraubt. Auch Touristen, die im Stadtzentrum ankamen oder auch dort übernachteten, berichteten über ähnliche Probleme.

«In die Wohnung meines Kollegen bei der Welthandels-Organisation (WTO) wurde jüngst eingebrochen, dasselbe geschah unserem Vize-Konsul», erklärte Al-Saleh.

Leichte Beute

Auch japanische Beamte zeigen sich besorgt: «Zwanzig Prozent Zuwachs, das ist viel», sagte Japans Konsul Tatsunori Ishida. «Die Japaner stellen sich die Schweiz als ruhiges und sicheres Land mit einer wundervollen Landschaft vor, als gute Tourismus-Destination. Aber die Realität in Genf ist, dass es in öffentlichen Verkehrsmitteln, am Flughafen und am Bahnhof leider sehr viele Diebstähle gibt.»

2011 kam es zu 16 Delikten, die japanische Diplomaten betrafen, acht Einbrüche und acht Fälle von Taschendiebstahl. Dieses Jahr kam es bisher zu einem Einbruch, sechs Diplomaten wurden beraubt.

«16 ist eine grosse Zahl für eine diplomatische Mission, wenn man es mit Orten wie New York, London oder Paris vergleicht. In Botschaften dort liegen diese Zahlen praktisch bei Null. In dieser Hinsicht liegt Genf an der Spitze,» sagte der Sicherheitsbeamte der japanischen Mission.

Er beschrieb Besucher aus Japan als «leichte Opfer», da sie gewöhnlich Bargeld nutzten und in der Regel kaum Fremdsprachen sprächen. Wenn sie mit einer solchen Situation konfrontiert seien, wüssten sie nicht, wie sie reagieren sollten und zögerten oft, einen Zwischenfall der Polizei zu melden.

Statistiken über Vorfälle mit japanischen Touristen sind zwar nur lückenhaft, doch der Konsul sagte, pro Woche werde einer Person der Pass gestohlen.

Aus Programm gestrichen

Der Genfer Tourismus-Generaldirektor Philippe Vignon erklärte kürzlich gegenüber der Zeitung Tribune de Genève, die abnehmende lokale Sicherheit und deren Auswirkungen auf Besuchende machten ihm Sorgen. 2012 könnten bis zu 15’000 Touristen weniger die Rhonestadt besuchen.

In einem separaten Interview beschrieb Isabel Rochat, Polizei- und Sicherheitsdirektorin des Kantons Genf, die Botschaft von Vignon als «bedauerlich und entgegen dessen Aufgabe». «Ich bin sehr erstaunt, dass er einige Fakten erläutert, die er nur durch seine asiatischen Kontakte bestätigt hat», sagte sie gegenüber der Tribune. Aber auch sie gab zu, das die gegenwärtige Sicherheitslage in Genf nicht akzeptabel sei.

Am 23. April bereits teilte die chinesische Botschaft in Bern über ihr Netzwerk mit, die Schweiz sei nicht mehr so sicher wie früher. Sie nahm dabei lediglich Bezug auf die Situation in Genf. Ein Dutzend chinesische Reiseveranstalter haben Genf aus dem Programm ihrer Schweizer Tours gestrichen.

Besonders sensibilisiert

Laut dem japanischen Sicherheitsbeamten ist die US-Mission von den 173 Missionen in Genf eine jener Missionen, die besonders sensibilisiert sind, was die Sicherheitslage angeht. Letzten August wurde die Mission in eine Kontroverse verwickelt, bei der es um einen Angriff gegen den Sohn eines amerikanischen UNO-Diplomaten im Stadtzentrum gegangen war.

David Kennedy, Chef der Öffentlichkeitsabteilung der US-Mission, wollte die jüngsten Entwicklungen jedoch nicht kommentieren. «Es ist unsere Politik, nicht über die Sicherheitslage zu sprechen.» Es sei ein Thema, auf das man nicht eingehen wolle. «Wir haben gute Beziehungen mit den Schweizer Behörden», sagte er. Und persönlich habe er in den fünf Jahren, in denen er nun hier lebe, keine Probleme gehabt.

Diplomaten aus Deutschland und Belgien, die swissinfo.ch kontaktierte, schätzten die Sicherheitslage in der Stadt als weniger prekär ein.

Dante Martinelli, der Schweizer UNO-Botschafter in Genf, erklärte: «Was wir beobachten ist, dass diplomatische Missionen beunruhigt sind wegen der Sicherheitslage. Wir arbeiten mit dem Kanton daran, die Situation zu verbessern.»

Seit Anfang Jahr sehe es etwas besser aus, als im vergangenen Jahr, als es eine grosse Welle von Delikten gegeben habe . «Wir erhalten aber immer noch Anrufe», unterstrich er. Martinellis Residenz in Genf gehörte zu den 20 diplomatischen Gebäuden, in die im letzten Sommer eingebrochen worden war.

Rochats Zauberstab?

Martinellis Büro ist oft die erste Anlaufstelle für ausländische Diplomaten, die Hauptverantwortung, das Thema an die Hand zu nehmen, liegt aber bei den kantonalen Behörden und der Polizei.

Al-Saleh erklärte, das Konsularkorps habe die Genfer Polizei- und Sicherheitsdirektorin Isabel Rochat vor etwa einem Monat zu einem Mittagessen eingeladen.

«Wir glauben, dass sie tut, was sie kann. Sie braucht aber viel Unterstützung von der Schweizer Regierung, den Behörden und der Polizei hier. Es ist nicht ihr Fehler, sie hat keinen Zauberstab», sagte er. «Wir hoffen, es wird ihr gelingen, denn wir denken, dass sie einen guten Job macht. Aber der wahre Gradmesser bleiben die Statistiken.»

Nach 20 Jahren mit demselben Personalbestand planen die Genfer Behörden eine Aufstockung der 1350 Kopf starken Polizeitruppe um 250 Personen zwischen 2010 und 2013. Zurzeit entfällt ein Polizist auf 400 Einwohner. Der Plan läuft parallel zu umstrittenen Vorschlägen zur Reorganisation des Genfer Polizeikorps.

«Sondereinheit reicht nicht»

Als Antwort auf den Kriminalitätsanstieg im letzten Jahr wurde im April eine 18 Mann starke Sondereinheit gegen Strassenkriminalität ins Leben gerufen. Sie soll besonders gegen einen harten Kern von rund 400 Wiederholungstätern vorgehen, die nach Angaben der Behörden für etwa 40% der Entreiss- und 32% der Taschen-Diebstähle verantwortlich sind. Ein grosser Teil dieser Täterschaft stamme aus Nordafrika, heisst es.

Die Genfer Polizeichefin Monica Bonfanti zog letzte Woche nach einem Monat eine erste Bilanz der Arbeit der Sondereinheit und erklärte, sie sei mit dem bisherigen Resultat zufrieden. 109 Personen wurden festgenommen, 12 konnten identifiziert werden.

Alain Bittar, Inhaber des arabischen Buchladens «L’Olivier» in Genf und ein scharfer Beobachter der Szene, fand, die Sondereinheit habe ein klares Signal gesendet und «radikale» Auswirkungen.

«Diese Einheit beweist, dass man beginnt, das Problem ernst zu nehmen… Es scheint mir, dass die Netzwerke destabilisiert werden, die mehrere Jahre Zeit hatten, sich aufzubauen», sagte er der Zeitung Tribune de Genève.

Aber die Saudis und die Japaner glauben, dass noch viel mehr getan werden muss, um das Image von Genf zu bewahren.

«Es braucht mehr Kameras und mehr Polizei. Und eines der grössten Probleme ist, dass es nicht genug Gefängnisse oder Vereinbarungen zur Rückschaffung von Kriminellen gibt», sagte der saudi-arabische Generalkonsul.

«Genf sollte der sicherste Ort auf der Welt sein – mit all diesen internationalen Organisationen, den wichtigen Besuchern, Top-VIPs, Präsidenten, Königen. Es ist ein kleiner Ort. Die Leute kommen hierher, um sich sicher zu fühlen. Die wichtigste Investition, die Genf machen kann, ist, in seine Sicherheit zu investieren.»

Im Kanton Genf ist die lokale Kriminalität im vergangenen Jahr gegenüber 2010 um 18% gestiegen, auf 72’821 Verstösse gegen das Schweizerische Strafgesetzbuch. Gegenüber dem Jahr 2001 mit 43’798 Verstössen ist das eine Zunahme um 66% in zehn Jahren.

Zwar sanken gewalttätige und sexuelle Verbrechen im Kanton Genf im vergangenen Jahr um 9 beziehungsweise 7%.

Diebstähle aber stiegen um 29% , Einbrüche um 17% (bis zu 50 pro Tag), Taschen-Diebstähle nahmen um 43% zu, Entreiss-Diebstähle um 28% und Autodiebstähle um 45%.

Nach Angaben der Polizei steht der Kanton gegenwärtig vor drei spezifischen Phänomenen: Gangs aus dem Balkan, vor allem aus Rumänien, die für eine Welle von Einbrüchen im letzten Herbst verantwortlich waren, sowie junge Roma-Banden aus dem Balkan, die von Mailand aus zwischen Italien und Paris auf Einbruchs-Touren gehen.

Dazu kommen Leute aus Nordafrika, die meist illegal in Genf sind. Nach dem Arabischen Frühling sei diese Gruppe, die vor allem durch Strassenkriminalität auffiel, angewachsen und begehe vermehrt auch Einbruchsdelikte.

Nach Angaben der Genfer Polizei sollen sie verantwortlich sein für 32% der Taschendiebstähle und 40% der Entreiss-Diebstähle.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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