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Stadtplanung von unten – der Demokratie-Import aus Asien

Matias Echanove
Für Matias Echanove ist Dharavi kein Elendsviertel, sondern ein dynamisches und fröhliches Quartier. Daniel Eskenazi

Genf-London-New York-Tokio-Mumbai-Genf. Dies die beruflichen Stationen von Matias Echanove. In seinem Rucksack bringt er eine grosse Erfahrung in partizipativer Stadtplanung zurück, in deren Zentrum die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner stehen. Jetzt setzt der 43-Jährige seine Expertise in der Westschweiz ein.

Matias Echanove ist ein nomadischer Stadtplaner mit einer wohl einzigartigen Karriere. Nach seinem Studium in Genf führte ihn sein Weg über London, New York und Tokio nach Mumbai. Dies war im Jahr 2008.

Prägend sei vor allem der Aufenthalt in Japan gewesen, sagt der Vater von zwei Kindern, die beide in Indien zur Welt kamen, beim Gespräch in seinem Büro in Mumbai.

«Die schrittweise Entwicklung der Stadt Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg [wo Elemente stufenweise hinzugefügt werden] hat mich überhaupt erst angezogen. Diese Gebäude waren von den Bewohnerinnen und Bewohnern erbaut worden, ohne finanzielle Hilfe des Staats. Sie erlernten die Fähigkeiten bei den Handwerkern. Schritt für Schritt, Haus für Haus, entstanden so neue Quartiere», so Echanove.

«Das war kein von oben geplanter Urbanismus, sondern einer, der nach den unmittelbaren Bedürfnissen der Bevölkerung und in einem Kontext der Raumknappheit vonstatten ging. Die gemischte Nutzung, das heisst, Leben und Arbeiten am gleichen Ort, findet man in Tokio noch heute», sagt der Stadtplaner.

Eine Stadtplanung, welche die Bedürfnisse der Einwohnerinnen und Einwohner und die Nutzung des lokalen Knowhows mit einbezieht – dieses Modell prägte ihn. «Im Gegensatz dazu bedaure ich, dass die vereinfachende und vorherrschende Ansicht ist, alles abzubrechen, um dann Gebäudeblocks oder Wohntürme zu spekulativen Zwecken aufzustellen.»

«Slum» aus dem Kino

Doch was haben die beiden Metropolen Tokio und Mumbai gemeinsam? Die wirtschaftliche Hauptstadt Indiens weist zum Teil ähnliche Merkmale auf, namentlich im Quartier Dharavi.

Dort sind Häuser und Wohnungen, die auch als Arbeitsort dienen, wie Pilze aus dem Boden geschossen. Das Quartier auf fast drei Quadratkilometern wurde durch den Film «Slumdog Millionaire» berühmt.

Aber jenseits der Fiktion erscheint Dharavi als ein Rätsel. Weil das Territorium nicht klar abgegrenzt ist, weiss niemand genau, wie viele Menschen dort wirklich leben.

Laut verschiedenen Quellen sollen es zwischen 350’000 und einer Million Bewohnerinnen und Bewohner sein. «Wir haben berechnet, dass die Bevölkerungsdichte hundert Mal höher ist als jene in Lausanne», sagt Echanove.

Neben dessen Dichte veranlassten Echanove vor allem die Komplexität und die Intensität des Quartiers, eine vergleichende Untersuchung von Tokio und Dharavi vorzunehmen. Letzteres war ursprünglich ein Fischerdorf.

Ein Treffen mit dem indischen Anthropologen Rahul Srivastava war in dieser Hinsicht bedeutsam: «Er ermöglichte mir, die Funktionsweise von Dharavi, seine Komplexität, seinen kosmopolitischen Charakter und die Herausforderungen zu verstehen, mit denen seine Bewohnerinnen und Bewohner konfrontiert sind», erzählt der Stadtplaner.

Mumbai
Am selben Ort leben und arbeiten: Was in einer Stadt wie Mumbai oft eine Notwendigkeit ist, kann auch in Genf interessant sein. Daniel Eskenazi

Dieses Treffen führte schliesslich zur Eröffnung des Büros Urbz im Jahr 2008. Das Kollektiv aus rund 20 Personen hat heute Zweigstellen in Mumbai, Genf, Bogota, Sao Paulo und Seoul.

Es bringt unter anderen Stadtplaner, Architektinnen, Anthropologinnen und Sozialarbeiter zusammen. «Wir arbeiten immer im experimentellen Modus: Wir machen uns alle Fähigkeiten zunutze und versuchen, dass sich die Teams so gut wie möglich kennenlernen und miteinander interagieren.»

Nun, da er Dharavi besser kennengelernt hat, betrachtet Echanove das Quartier nicht als Slum, also als Elendsviertel: «Es ist keine Wohnsiedlung aus Kartonwänden und Blechdächern, es sieht nicht schlecht aus, ist nicht arm oder heruntergekommen. Es ist sehr dynamisch, in ständigem Wandel. Ein Grossteil des Abfalls in Mumbai wird rezykliert. Es gibt hier sogar eine Lederindustrie, die ihre Produkte in die ganze Welt exportiert», sagt er.

Aber für ihn ist Dharavi offiziell eine Sperrzone, weil es rechtlich gesehen als Slum gilt. So sind sanitäre Einrichtungen und fliessendes Wasser in den Häusern illegal. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen das Wasser aus kommunalen Quellen holen, Eimer füllen und öffentliche Toiletten benutzen.

Trotz der Sperrung baut Urbz aber mit Hilfe einheimischer Handwerker sechs Häuser im ehemaligen Fischerviertel wieder auf. Vier davon befinden sich noch im Bau.

Ein Modell zum Preis eines Hauses

Zwar hat die Pandemie Projekte abgebremst, aber sie wurden nicht aufgegeben. Im Jahr 2016 hatte Urbz kleine Bauunternehmer in und um Dharavi gebeten, Modelle für das bestmögliche Werkstatthaus für die Gegend zu entwerfen.

Dabei kam es zu einem unerwarteten Erfolg: Fünf Modelle wurden im MAXXI-Museum in Rom präsentiert. Nachdem sie auf der ganzen Welt ausgestellt wurden, kaufte das vom Schweizer Architektenbüro Herzog & De Meuron erbaute M+ Museum in Hongkong kürzlich drei von ihnen.

Hausmodell
2016 wurden die von Urbz in Auftrag gegebenen Modelle im MAXXI-Museum in Rom präsentiert. Urbz

Diesem Projekt folgte ein weiteres in grösserem Massstab: «Homegrown Street». Urbz bat die Bewohnerinnen und Bewohner einer Strasse in Dharavi, an der sich ihr Haus befindet, sich vorzustellen, wie diese in sieben Jahren aussehen soll.

Lokale Handwerker bauten daraufhin drei Häuser in Modellform. Kürzlich wurden diese in Lille ausgestellt, der Welthauptstadt des Designs im Jahr 2020. Wegen der Coronavirus-Pandemie musste das Projekt aber abgebrochen werden. Doch das Ziel bleibt, die Modelle von weiteren 13 Häusern fertigzustellen.

«Wir wollen Anerkennung für eine Form der stufenweisen und partizipatorischen Urbanisierung in Indien, die in der Tat universell ist, aber als illegitim gilt. Am Ende wurde uns klar, dass wir zu dem Preis, zu dem wir ein einzelnes Modell in den Museen verkaufen konnten, ein ganzes Haus in echt modernisieren konnten. Die Idee wäre also, den Bewohnerinnen und Bewohnern dieser Strasse finanziell zu helfen, diese nach ihren Wünschen umzugestalten», hofft Echanove.

Erfolg in der Westschweiz

2019 kehrte Echanove mit seiner Familie in seine Heimatstadt Genf in der Schweiz zurück. Im Koffer: der partizipatorische Ansatz für die Stadtentwicklung. Seit der Eröffnung des dortigen Urbz-Zweigbüros im Jahr 2016 reist er öfters zwischen der Schweiz und Indien hin und her.

Das Timing war perfekt: Urbz konnte von einer Gesetzesänderung in Genf und einem politischen Entscheid im Kanton Waadt profitieren, um Aufträge an Land zu ziehen. In der Calvinstadt müssen seit 2015 die Einwohnerinnen und Einwohner zu Teilbebauungsplänen konsultiert werden.

«Es gab nur sehr wenige Fachleute auf diesem Gebiet, und die Anwendung der in Indien entwickelten Konsultationsmethoden wurde in der französischsprachigen Schweiz sehr schnell angewandt», sagt Echanove.

Und in Lausanne wurde Urbz im Zusammenhang mit der Entwicklung der Place de la Riponne mit der Beratung der Bevölkerung betraut, die in den internationalen Ideenwettbewerb einfloss. Dabei wurden drei von 36 Projekten mit Preisen ausgezeichnet.

Fach- und Bürgerjury

«Dies ist das erste Mal, dass für ein Projekt dieser Grössenordnung eine gemischte Jury aus Fachpersonen und Bürgerschaft gebildet wurde», sagt der Stadtplaner. «Bald wird die Stadt mit Hilfe von Provisorien, welche die starken Ideen der preisgekrönten Projekte präsentieren, mit der Bevölkerung auf der Place de la Riponne einen Test in vollem Umfang durchführen.»

Darüber hinaus beauftragten die Behörden in Genf das Büro Urbz, sie bei der Programmierung eines Teils des Projekts Praille Acacias Vernets zu unterstützen. Die Studie betrifft das Herz des Quartiers und verbindet Wohnen, Kultur und wirtschaftliche Aktivitäten auf einer Fläche von 60’000 Quadratmetern. Urbz untersuchte zunächst die Vorzüge eines Kulturzentrums im Umfeld des Projekts.

«Wir waren der Meinung, dass dies nicht nur ein positiver Faktor, sondern der rote Faden dieses Projekts sein sollte: eine Verbindung zwischen den verschiedenen Zielgruppen, ein Identitätsstifter für die Nachbarschaft. Das Kulturzentrum sollte auch als Vehikel für die wirtschaftliche Entwicklung gesehen werden. Wir stellten einen Bedarf an Künstlerwohnsitzen sowie an gemischten Wohnungen fest, also an Räumen, in denen Menschen leben und arbeiten», sagt er.

Zwischen Mumbai und Genf mögen Welten liegen, aber die Fragestellungen um das Zusammenleben der Menschen liegen gar nicht so weit auseinander.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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