«Städte wurden immer als Bedrohung empfunden»
Obwohl sie die wirtschaftliche und demografische Lokomotive des Landes sind, haben Städte auf dem Bild, das man sich von der Schweiz macht, wenig Platz. Die Wissenschaftlerin Joëlle Salomon Cavin ist den Gründen dieser "Urbaphobie" nachgegangen.
Gemäss einer kürzlich erschienen Studie des Forschungsinstituts BAK Basel haben die Städte einen Anteil von 83 Prozent am Bruttoinlandprodukt (BIP) in der Schweiz.
Ein Rückblick auf die Geschichte zeige, dass sie von den Behörden lange Zeit vernachlässigt, ja sogar gehasst wurden, sagt Joëlle Salomon Cavin, Oberassistentin an der Universität Lausanne und Herausgeberin des Buches «Antiurbain, origines et conséquences de l’urbaphobie».
swissinfo.ch: Ist die Kluft zwischen Stadt und Land ein neues Phänomen in der Schweiz?
Joëlle Salomon Cavin: Nein, es gibt sie schon lange. Seit dem 18. Jahrhundert entstand ein Bild der Schweiz über die Gegensätze zwischen städtischen und gebirgigen Regionen. Die Verfassung von 1848 bevorzugt die ländlichen Gebiete, die aus einer Revolte gegen die grossen Städte Zürich, Basel oder Genf entstanden. Mit der Errichtung des Zweikammersystems bzw. des Ständerats (Vertreter der Kantone, N.d.R.) wurde das Gewicht der Städte dauerhaft begrenzt.
Seither wurden das urbane Wachstum, die Konzentration der Bevölkerung in den Städten und die Zersiedelung der Landschaft immer als verhängnisvoll angesehen. In den letzten Jahren wurde die Kluft zwischen Städten und ländlichen Gebieten offensichtlicher, weil sich die demografische und ökonomische Konzentration in den Städten und Agglomerationen akzentuiert hat, während die Städte auf politischer Ebene Zwerge geblieben sind.
swissinfo.ch: Wie hat sich dieses Misstrauen gegenüber den Städten historisch auf die Raumentwicklung ausgewirkt?
J.S.C.: Als in den 1940er-Jahren auf nationaler Ebene erstmals dazu Überlegungen angestellt wurden, wurde das städtische Wachstum als Katastrophe für das Land betrachtet. Die beiden Weltkriege haben diese Wahrnehmung verstärkt: Die Städte wurden zu inneren Feinden, welche potentiell nützliches Land zur Ernährung der Bevölkerung in Beschlag nahmen.
Im Unterschied zum Schutz der Natur, der Landschaft und Landwirtschaft hat die urbane Gestaltung keine Priorität. Auch das Bundesgesetz über die Raumplanung erklärt heute noch die Verwendung des begrenzten Bodens zum ersten Ziel. Das Prinzip ist über weite Strecken ein Synonym für den Kampf gegen die urbane Ausdehnung, also einer negativen Entwicklung.
Als logische Folge davon hat sich die Regionalpolitik des Bundes bis in die 1990er-Jahre ausschliesslich auf ländliche und periphere Zonen konzentriert. Die Idee dahinter war, das territoriale Gleichgewicht zu gewährleisten und vor allem eine Konzentration in den Städten zu vermeiden.
swissinfo.ch: In dem Buch, das Sie kürzlich publiziert haben, sprechen Sie sogar von «Urbaphobie». Was verstehen Sie genau darunter?
J.S.C.: Die Stadt setzt sich der Kritik aus, weil sie viele Unannehmlichkeiten verursacht. Aber die «Urbaphobie» geht viel weiter. Es ist ein organisierter Diskurs, ein feindliches Werturteil über die Städte, eine Ideologie, die sich auf die Praxis auswirkt.
Dieser «urbaphobe» Diskurs wurde nicht nur in der Schweiz geführt. Es gab ihn auch in unseren Nachbarländern, in Frankreich unter Philippe Pétain (in der Zeit des Vichy-Regimes, N.d.R.), in Nazi-Deutschland oder im faschistischen Italien (unter Mussolini, N.d.R.).
Überall in Europa stützen sich die grossen nationalen Mythen auf die ländliche Welt. Die geografische Lage der Schweiz als Hüterin der alpinen Landschaft hat dieses Phänomen noch ausgeweitet. Dem entsprechend wurden die Städte lange Zeit vernachlässigt auf den Darstellungen, welche die Schweiz von sich selber machte. Die Schweiz hat vor allem das Image der Berge, der Ländlichkeit, der Dörfer und einiger kleiner «Museums-Städte» wie Luzern entwickelt.
swissinfo.ch : Aber das hat sich nun geändert…
J.S.C.: Tatsächlich ist dieser «urbaphobe» Diskurs heute weniger präsent, insbesondere was die Raumentwicklung anbelangt. Der Wendepunkt kam Anfang der 2000er-Jahre, als Moritz Leuenberger (ehemaliger Bundesrat, N.d.R.) die Agglomerationspolitik des Bundes lancierte. 2002 stellte die Landesausstellung die Städte in den Mittelpunkt. Obwohl es selbstverständlich scheint, hat die Bestätigung der Rolle der Städte als Wirtschaftsmotor die Gemüter erhitzen lassen.
In den letzten Jahren hat die Notwendigkeit des verdichteten Bauens im Dienst eines nachhaltigen Wachstums die Akzeptanz der Städte erhöht.
Eine gewisse latente «Urbaphobie» bleibt indessen in der Schweiz bestehen. Die Initiative des Landschaftsschützers Franz Weber ist die beste Illustration davon. Während der Abstimmungskampagne wurde eine Fotomontage publiziert, die das Matterhorn von einer Stadt umzingelt zeigt. Dadurch wurde die Angst vermittelt, die Schweiz werde überall urbanisiert. Diese Vorstellung ist immer noch sehr bezeichnend.
swissinfo.ch : Ist diese Angst angesichts der zunehmenden Überbauung nicht berechtigt?
J.S.C.: Franz Weber legt den Finger auf ein reelles Problem, wenn er von der Zersiedelung der Landschaft spricht, d.h. von jenen Bauten, die sich überall verteilen und zur Zerstörung der Schweizer Landschaft beitragen. Aber dazu setzt er Werkzeuge ein, die suggerieren, dass die Urbanisierung an sich ein Problem ist.
Das ist aber nicht der Fall. Wenn das urbane Wachstum dicht und kompakt ist, kann die Landschaft trotz Bevölkerungswachstum geschützt werden. Der viel zitierte «Quadratmeter Beton, der pro Sekunde verbaut wird», ist ein falscher Indikator, weil er ein deformiertes Bild der Urbanisierung der Schweiz anzeigt, nämlich jenes einer homogenen Beton- und Teermasse, welche Kulturland und Natur verschlingt.
Es ist viel einfacher, die öffentliche Meinung über die Zerstörung der Landschaft durch eine urbane Schwade zu alarmieren, als zu erklären, dass das Einfamilienhaus und Sinnbild des Schweizer Glücks hauptverantwortlich ist für die Urbanisierung.
swissinfo.ch: Aber hat der Traum vom Einfamilienhaus auf dem Land nicht jenem vom Charme der Stadt Platz gemacht?
J.S.C.: Der Zauber der Stadt existiert vor allem in den Diskussionen. Fast alle sprechen davon, wie angenehm es sei, in der Stadt zu wohnen. Sogar die Umweltschutz-Organisationen loben die städtischen Pärke und die Natur in den Städten. Eine gewisse Faszination für die Stadt kann man zwar feststellen, aber nur bei einer gewissen Bevölkerungsgruppe: den Studenten und kinderlosen Paaren mit höherer Bildung.
Es ist keine Massenbewegung. Alle Untersuchungen zeigen im Gegenteil, dass der Wunsch der Schweizer nach einem Einfamilienhaus ungebrochen ist. Eine kleine Veränderung lässt sich allerdings feststellen: Der Traum vom einsamen Haus auf dem Land hat jenem vom individuellen Heim in der Nähe einer Stadt und deren Annehmlichkeiten Platz gemacht.
Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) hat die anhaltende Ausdehnung der grossen Agglomerationen zu 5 Metropolitanregionen in der Schweiz geführt: Zürich, Basel, Genf-Lausanne, Bern und Tessin.
Gemäss einer Studie des Wirtschaftsforschungs-Instituts BAK Basel, die am 30. August zum 115. Geburtstag des Städteverbands erschienen ist, beheimatet die urbane Schweiz 74% der Bevölkerung und generiert 84% des BIP.
Das politische Gewicht der Städte entspricht nicht der wirtschaftlichen und demografischen Bedeutung.
Im Ständerat (kleine Parlamentskammer), wo jeder Kanton über zwei Stimmen verfügt, und bei Abstimmungen über Volksinitiativen, welche ein Volks- und Ständemehr bedingen, hatte die politische Stimme eines Urners im Vergleich zu jener eines Zürchers 1850 das 17-fache Gewicht. Heute ist es sogar mehr als das 34-fache.
Das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) sind beauftragt worden, bis 2014 einen Entwurf auszuarbeiten, der die Modalitäten einer Agglomerationspolitik des Bundes für die Legislaturperiode 2016-2019 definiert.
In einem Bericht vom 30. August wurden 17 prioritäre Herausforderungen aus 6 thematischen Bereichen festgehalten:
Berücksichtigung der hohen Mietzinsen, der Verdrängung und Ausgrenzung, sowie der grossen sozialen und kulturellen Spannungen, welche durch die Migrationswellen verursacht werden, das Wachstum der Bevölkerung und die Attraktivität der Stadtzentren.
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und des Innovationspotenzials der Agglomerationen, insbesondere durch das Angebot eines leistungsfähigen Infrastrukturnetzes.
Lösungssuche für einen haushälterischen Umgang mit der Energie für Urbanisierungen, Verkehrsflächen, Immobilienerneuerung.
Begrenzung der überbauten Zonen durch verdichtetes Bauen und der Umnutzung industriellen Brachlands.
Suche nach neuen Zusammenarbeitsformen, um föderalistische Barrieren und die Kluft zwischen Stadt und Land zu überwinden.
Erarbeitung von gerechten Mechanismen des Ausgleichs und der Kompensation der überbordenden Lasten (Transport, Sicherheit, Kultur, Soziales,…).
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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