Der Schweiz gehen die Freiwilligen aus. Was ist zu tun?
Unser Land ist darauf angewiesen, dass seine Bewohner einander unterstützen. Und dass die brillantesten von ihnen den Staat lenken. Doch solches liegt nicht mehr im Zeitgeist. Lösungsansätze.
Wer die Bedeutung des Milizsystems für die Schweiz ermessen will, muss die politische Kultur des Landes verstehen. Um das 12. Jahrhundert lernten die Menschen in den Talschaften, dass Arbeitsteilung Wohlstand schafft. Es entstanden Talgenossenschaften, innerhalb derer die Gemeinschaftsaufgaben unter den Bürgern verteilt wurden und deren oberste Instanz die Versammlung dieser Bürger war.
Man war solidarisch, wo Not herrschte, erwartete aber, dass niemand ohne Not der Gemeinschaft zur Last fiel.Weil alle mitreden konnten, brauchte es Kompromisse, und weil innere Konflikte das äussere Überleben gefährdet hätten, entwickelte sich eine wegweisende Konfliktbereinigungskultur. Dieses genossenschaftliche Element prägt unsere Fähigkeit zu Kompromissen und unsere Konkordanzkultur bis heute.
Weil das kleine Gemeinwesen nur über begrenzte Ressourcen verfügte, brauchte es Bürger, die für sich selber zu sorgen wussten. Das können nur freie Menschen. Weil die kleinen Gemeinschaften ihre Angelegenheiten selber besorgen wollten, erlebten sie einen grossen organisierten Staat vor allem als Bedrohung und Feind. Daraus entstand ein Misstrauen gegenüber allem, was von oben aufgepfropft wird und nicht von unten wächst. Das prägt bis heute auch unsere Haltung gegenüber der EU.
Die allgemeine Befassung der Bürgerinnen und Bürger mit Ihrem Staat drückt sich heute vor allem in zwei Eigenheiten aus, der Direkten Demokratie und dem Milizprinzip.
Unser Land funktioniert nur auf Milizbasis
Die breite Anwendung des Milizprinzips ist aber auch ein Mittel zur Bewältigung unserer kleinstaatlich bedingten Begrenztheit der Humanressourcen. Der kleinräumige Föderalismus schafft einen enormen Bedarf an Funktionsträgern, der nur auf Milizbasis gedeckt werden kann. Und die zunehmende Komplexität von Wirtschaft und Gesellschaft hat zur Folge, dass der Kleinstaat nicht mehr in der Lage ist, umfassend alle notwendige Expertise sozusagen standby zur Verfügung zu halten.
Der Staat ist deshalb gezwungen, auch für sich die reichhaltige Ressource Zivilgesellschaft optimal zu nutzen.
Warum ein Berufsparlament nicht besser ist
Ich will nun auf fünf Vorzüge eingehen, die ein Milizparlament gegenüber einem Berufsparlament aufweist.
Erstens: Das Milizsystem fördert die Verzahnung von Zivilgesellschaft und Staat. Wer zu lange unter Parlamentskuppeln weilt, kann in eine Art realitätsverzerrende Blase geraten. Die Verantwortung im Beruf, die Kontakte am Arbeitsplatz oder das Mitmachen im Verein sind gute Gegenmittel, indem sie den Politikern Bodenhaftung vermitteln und ihnen immer wieder Lebensrealität einträufeln. Umgekehrt schafft der alltägliche Dialog im Beruf auch Verständnis für die Politik. Beides fördert Vertrauen, und Vertrauen ist die Basis jedes erfolgreichen Staates.
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Das Schweizer Milizsystem
Zweitens sind Milizparlamentarier weniger von ihrem Mandat abhängig als Berufsparlamentarier. Die Nicht-Wiederwahl ist keine existenzielle Bedrohung, was sie unabhängiger macht.
Drittens fliessen Lebenserfahrung und Wissen aus Beruf und Gesellschaft in die politische Entscheidungsfindung ein. Das funktioniert aber nur, wenn die Politiker tatsächlich Lebenserfahrung einbringen. Ich fürchte, dass wir heute zu viele Menschen haben, die nach Bern wollen, um Karriere zu machen, und zu wenige, die zuerst Karriere machen und dann ihr Wissen in Bern einbringen.
Viertens geniesst mehr Ansehen im Volk, wer als Politiker nicht nur von Steuergeldern lebt. Sogar im Parlament hat mehr Gewicht, wer aus einer Position heraus argumentiert, die er durch Leistung ausserhalb der Politik erworben hat.
Fünftens fördert die gemeinsame Arbeit von Menschen aus verschiedenen sozialen Gruppen das gegenseitige Verständnis und damit die nationale Kohäsion.
Alle diese Vorteile sind aus staatspolitischer Sicht wichtig. Aber es ist nicht zu übersehen, dass das Milizparlament an Grenzen stösst. Ich sehe Probleme in sechs Bereichen.
Erstens: Es ist nicht zu verkennen, dass sich in unserer Gesellschaft Individualismus, Egoismus und Hedonismus verstärken. Zugleich wird der Staat zunehmend als eine Art Selbstbedienungsladen betrachtet, der gefälligst alle meine Probleme lösen soll, aber wehe, wenn er etwas von mir will.
«Die zeitliche Beanspruchung durch ein Parlamentsmandat, hat ein Ausmass angenommen, das mit einer beruflichen Tätigkeit zunehmend weniger vereinbar ist.»
Es ist auch offensichtlich, dass das Prestige öffentlicher Ämter, das früher immateriell für die Opfer entschädigte, stark abgenommen hat. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass es schwieriger geworden ist, genügend wirklich fähige Leute für Milizfunktionen zu gewinnen.
Zweitens: In allen Bereichen nimmt die berufliche Beanspruchung kontinuierlich zu. Wer Karriere machen will, muss vollen Einsatz leisten. Deshalb sind politische und berufliche Karriere immer schwerer vereinbar. Wenn sich führende Schichten unseres Landes aber schleichend aus der politischen Verantwortung verabschieden und glauben, das Problem damit lösen zu können, dass man sich Politiker hält, statt dass man Politiker ist, dann gehen die Konsequenzen weit über die Problematik Miliz- oder Berufsparlament hinaus.
Drittens: Auch die zeitliche Beanspruchung durch ein Parlamentsmandat, hat ein Ausmass angenommen, das mit einer beruflichen Tätigkeit zunehmend weniger vereinbar ist. Ich halte es aber für wichtig, dass gerade Menschen mit anspruchsvollen Berufen Milizfunktionen wahrnehmen, und dass Unternehmen dies auch erlauben und erleichtern.
Das bringt mich zum vierten Punkt, der Interessenvertretung. Es ist klar, dass über Milizpolitiker durch den Hauptberuf geprägte Interessen in die Politik einfliessen. Damit wird ein Milizparlament immer auch bis zu einem gewissen Grad eine Lobbyisten-Organisation. Das wird in letzter Zeit häufiger kritisiert. Ich halte das Einbringen konkreter Erfahrung aus dem Leben aber für einen enormen Vorteil. Der Preis dafür muss indessen Transparenz sein. Man muss wissen, wo jemand steht, welche Mandate im Spiel sind.
Fünftens: Die Zunahme der Staatstätigkeit und die Zunahme der Komplexität haben den Wissensbedarf der Parlamentsmitglieder gesteigert. Damit steigt ihre Abhängigkeit von Informationsquellen. Da die Gefahr besteht, dass solche Information immer auch durch Interessen beeinflusst ist, wird es für Parlamentarier schwieriger, ein unabhängiges Bild zu gewinnen.
«Wir brauchen aber die Bauern, Drogisten, Gewerkschafter, Ärzte, Angestellten oder Unternehmer selber an der Front, nicht deren intellektuelle Vertreter.»
Sechstens: Die Zentralisierung von immer mehr Staatstätigkeiten beim Bund beginnt, die Substanz des Föderalismus auszuhöhlen. Damit verlieren die Milizfunktionen auf den Ebenen Kanton und Gemeinde an Einfluss und an Sichtbarkeit. Sie werden weniger attraktiv.
Alle diese Probleme sind struktureller Art. Es stellt sich damit die Frage, ob sie lösbar sind.
Durch eine attraktive Berufspolitikerkarriere gescheite, gut ausgebildete und brillant formulierende junge Leute auf ein Gebiet zu locken, wo sie wohl überall mitreden können, aber nirgends messbare Verantwortung übernehmen müssen, wäre ein falscher Anreiz. Damit würden wir mit der Zeit eine sich von der Basis abhebende classe politique schaffen. Wir brauchen aber die Bauern, Drogisten, Gewerkschafter, Ärzte, Angestellten oder Unternehmer selber an der Front, nicht deren intellektuelle Vertreter.
«Wegen des zu tiefen Pensionierungsalters angesichts unserer Lebenserwartung tummeln sich Hundertschaften tüchtiger älterer Menschen, denen es im Grunde oft langweilig ist und die noch viel für das Gemeinwesen leisten könnten.»
Diesen Entscheid zu treffen, bedeutet auch in Kauf zu nehmen, im heutigen unbefriedigenden Zustand weiterzuwursteln. Das ist zu verantworten, weil die Resultate unserer Milizparlamente achtbar sind.
Lösungsansätze
Die Frage, die nun interessiert, ist die, wie die Milizarbeit erleichtert werden könnte.
Potential hat die Schaffung neuer Strukturen. Ich denke an Gemeinden, bei denen die Linienarbeit von Profis geleistet wird und bei denen der milizbasierte Gemeinderat wie ein Verwaltungsrat strategisch arbeitet und die Aufsicht wahrnimmt
Eine andere Möglichkeit ist die Nutzung rüstiger Rentner. Wegen des zu tiefen Pensionierungsalters angesichts unserer Lebenserwartung tummeln sich Hundertschaften tüchtiger älterer Menschen, denen es im Grunde oft langweilig ist und die noch viel für das Gemeinwesen leisten könnten. Diese Quelle wäre systematischer zu erschliessen.
Milizarbeit, ein Anliegen der Schweiz
Das Sorgenbarometer 2019 der Credit Suisse zeigt: 90% der Schweizerinnen und Schweizer glauben, dass eine stärkere öffentliche Anerkennung des Freiwilligendienstes dazu beitragen könnte, ihn wiederzubeleben. 74% sind der Meinung, dass andere Pflichtdienste als Alternative zum Militärdienst dienen könnten, während 72% der Meinung sind, dass eine bessere Ausbildung für staatlich finanzierte Freiwilligenarbeit eine Lösung sein könnte.
Zwei Drittel der Befragten zeigen, dass sie dem Milizsystem verbunden sind: 66% sind nicht mit der Aussage «Freiwilligenarbeit ist privat und sollte nicht subventioniert werden» einverstanden und nur 26% teilen sie.
Ich glaube, dass auch Parteien die enormen Kompetenzen qualifizierter Sympathisanten besser nutzen könnten, etwa in Expertengruppen für anspruchsvolle Probleme.
Dem Staat Kompetenz zur Verfügung stellen
Wichtig ist es auch, die Spitzenmanager der Wirtschaft für die Bedeutung der Milizarbeit zu sensibilisieren. Ein Problem sind die vielen ausländischen Spitzenmanager. Sie sind häufig beeindruckt von den Resultaten unserer Demokratie, aber sie haben wenig Ahnung davon, wie diese Resultate zustande kommen. Das Milizsystem ist ihnen fremd. Es gibt eben auch auf der Teppichetage ein Integrationsproblem.
Ich will auf ein Problem zurückkommen, auf das ich schon hingewiesen habe: den notwendigen Zugriff des Kleinstaats auf das im Volk vorhandene Wissen und Know-How angesichts der Komplexität und Vielschichtigkeit der Probleme unseres Kleinstaates.
Hier kommt das ins Spiel, was ich mit dem Milizprinzip meine: Dass herausragende Bürgerinnen und Bürger dem Staat immer wieder ihre Kompetenz zur Verfügung stellen. Das bedeutet aber auch, dass sie sich mit diesem Staat identifizieren. Deshalb schaden jene diesem Staat, welche ihn als bedrohlichen Leviathan darstellen und alle als schädliche „classe politique“ beschimpfen, die ihm Zeit und Energie zur Verfügung stellen. Gerade unser Staat lebt von der – durchaus kritischen – Zuwendung seiner Bürger. Sonst lebt er nicht.
Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Referats, das Kaspar Villiger im Rahmen des «Jahrs der Milizarbeit» hielt.
Jahr der Milizarbeit 2019
Mit dem Jahr der Milizarbeit will der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) die Öffentlichkeit auf die Krise des Schweizerischen Milizsystems aufmerksam machen.Insbesondere auf Ebene der Lokaldemokratie nimmt die Krise teils dramatische Ausmasse an. Die wichtigsten Faktoren: sinkende politische Beteiligung der Bürger, Mangel an Freiwilligen für politische Ämter, abnehmender politischer Gestaltungsspielraum, Gemeindefusionen, Verschwinden lokaler und regionaler Medien.Um eine vertiefte interdisziplinäre Diskussion über mögliche Auswege zu fördern, organisiert der SGV im Jahr 2019schweizweite Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit Partnern aus verschiedenen Sektoren.Diskussionen zwischen Experten und der Öffentlichkeit sollten Impulse für Reformen geben, die nach Ansicht des SGV dringend notwendig sind, um das Milizsystem zu stärken und zu entwickeln.swissinfo.ch ist Medienpartner des «Jahres der Milizarbeit» und veröffentlicht regelmässig Beiträge zum Thema.
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