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Breiter Konsens: Warum Suizidbeihilfe in der Schweiz normal ist

«Ich will niemanden umbringen»

Erika Preisig
Severin Bigler

Erika Preisig, Ärztin und Präsidentin der Sterbehilfe-Organisation Lifecircle, hat Patientinnen und Patienten beim Sterben geholfen – auch solchen aus dem Ausland. Sie befürwortet auch die Legalisierung des assistierten Suizids in anderen Ländern. Wir fragten sie nach den Gründen.

SWI swissinfo.ch: Warum unterstützt Ihre Organisation Menschen aus Ländern, in denen die Beihilfe zum Suizid illegal ist?

Erika Preisig: Weil Sterbebegleitung ein Menschenrecht ist. Jeder Mensch hat das Recht zu entscheiden, wann, wo und wie sie oder er sterben möchte.

Menschen, die zum Sterben in die Schweiz reisen, leiden oft an einer schweren Krankheit und sind nicht reisefähig. Hätten sie die Möglichkeit in ihrem Heimatland, müssten sie das nicht hier tun. Sterbehilfe sollte überall auf der Welt legal sein.

Ich arbeite seit 21 Jahren als Hausärztin mit Palliativpatientinnen und -patienten. Selbst bei guter Palliativversorgung gegen Ende des Lebens sieht man manchmal, wie Menschen auf schreckliche Weise sterben.

Vor etwa 15 Jahren starb mein Vater durch Sterbehilfe; er litt an einer unheilbaren Krankheit. Er sass neben mir, trank die Medikamente, legte seinen Kopf auf meine Schulter und starb. Es gab kein Leiden, keine Probleme, keine Angst. Und dann begann ich zu überlegen: Ist Palliativmedizin der einzige Weg? Muss man weiterleben, auch wenn man sehr alt und sehr krank ist?

Seitdem beschäftige ich mich mit der Sterbehilfe durch assistierten Suizid und mit der Palliativmedizin. Die Menschen entscheiden selbst, ob sie heiraten, Kinder bekommen oder etwas essen wollen. Aber am Ende des Lebens dürfen sie nicht selbst entscheiden.

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Anders als in den Niederlanden ist es in der Schweiz nicht erlaubt, dass Ärztinnen und Ärzte einer kranken Person die letzte tödliche Dosis injizieren. Sollte die aktive Sterbehilfe Ihrer Meinung nach auch in der Schweiz legalisiert werden?

Nein.

Warum nicht?

Ich will niemanden umbringen. Man könnte sagen, ich sei ein Feigling. Aber die Patientin oder der Patient sollte selber das intravenöse Medikament aktivieren, sicher und ohne zu leiden.

Was ist mit Patientinnen und Patienten mit schweren motorischen Einschränkungen oder Lähmungen?

Sie können es auch selbst tun. Wir haben eine kleine Maschine, mit der sie das Ventil mit der Zunge öffnen können oder indem sie einfach ihren Kopf ein wenig bewegen.

Der einzige Fall, in dem wir keine Hilfe leisten können, ist das Locked-in-Syndrom (eine seltene neurologische Erkrankung, bei der die willentlich bewegbaren Muskeln vollständig gelähmt sind – mit Ausnahme derjenigen, welche die Augen steuern). Aber wenn die Computertechnik eine Maschine entwickeln könnte, die es Patienten ermöglicht, das Ventil mit den Augen zu öffnen, wäre es möglich.

Viele Patientinnen und Patienten, die unter psychischen Problemen leiden, wünschen sich ebenfalls, durch einen assistierten Suizid zu sterben. Die Schweizer Vorschriften machen es ihnen sehr schwer, grünes Licht zu erhalten. Sind Sie der Meinung, dass die Schweiz die Tür für Menschen mit diesem Wunsch öffnen sollte?

Dazu brauchen wir mehr Psychiaterinnen und Psychiater, welche die geistigen Fähigkeiten dieser Personen beurteilen können. Es gibt so viele psychisch kranke Menschen auf der ganzen Welt, und wir haben nur sehr wenige Psychiaterinnen und Psychiater. Wir können keine Personen aus dem Ausland mit psychischen Erkrankungen aufnehmen. Wir haben nicht die Kapazitäten dafür.

Wenn es genügend Psychiaterinnen und Psychiater gäbe, sollte es dann Ihrer Meinung nach erlaubt sein?

Ja. Wenn eine psychische Krankheit wie eine somatische Krankheit unheilbar ist, sollte Sterbehilfe erlaubt sein. Zum Beispiel, wenn jemand dreimal in einer psychiatrischen Klinik war, immer noch bipolar, depressiv oder schizophren ist und nicht mehr weiterleben will.

In solchen Fällen kann man dies mit einer unheilbaren somatischen Krankheit vergleichen. Es ist ein Menschenrecht, dass diese Person, wenn sie bei klarem Verstand ist, das Recht hat zu sterben, genauso wie jemand mit einer somatischen Krankheit.

Obwohl sich immer mehr Menschen für den assistierten Suizid entscheiden, gibt es nur wenige Organisationen, die diese Dienstleistung anbieten. Warum ist das so?

Nach jedem Fall von Sterbehilfe kommen die Polizei und die Gerichtsmedizin vorbei, um eine juristische Untersuchung durchzuführen. Man fühlt sich nicht wohl dabei, jedes Mal befragt zu werden. Es wäre notwendig, dieses Verfahren zu überdenken.

In der Schweiz muss sich vieles ändern. Sterbehilfe sollte zur normalen Arbeit der Ärzteschaft gehören wie die Verabreichung von Antibiotika. Natürlich muss man vorsichtig sein, wenn man Antibiotika verschreibt, so wie man bei Operationen vorsichtig sein muss. Auch bei der Sterbebegleitung sollte man vorsichtig sein. Das ist das Gleiche. Wir brauchen nicht viele Organisationen.

In der Palliativmedizin gebe ich Morphium-Injektionen oder eine tödliche Sedierung. Das ist die Arbeit einer Ärztin. Alle vertrauen mir. Keine Polizei, keine Inspektion. Aber wenn ich eine Patientin oder einen Patienten bei der Sterbehilfe unterstütze, muss ich eine Menge Papierkram erledigen und mich einer Überprüfung durch die Polizei stellen.

Was ist Ihrer Meinung nach der Hauptgrund dafür, dass gewisse Länder die Sterbehilfe nicht legalisieren?

Es wird immer von der Gefahr des möglichen Missbrauchs gesprochen oder davor gewarnt, dass sie zu etwas Schlechtem oder Unheilvollem führen könnte. Aber das ist weder in der Schweiz noch in Kanada passiert, wo Euthanasie legal ist.

Das andere grosse Problem ist die Religion. Unsere stärksten Feinde sind die Katholiken. Sie sagen, dass es in der Bibel stehe, dass man sich nicht umbringen darf: Gott hat Dir das Leben gegeben, und nur Gott kann das Leben nehmen.

Wir Ärztinnen und Ärzte versuchen immer wieder, den Tod zu vermeiden. Aber vielleicht hätte Gott diesen Menschen gerne früher in den Himmel geholt. Ein Mensch bekommt Krebs oder Demenz und muss auf schreckliche Weise sterben, weil wir ihn oder sie so oft gerettet haben. Haben Gott und die Bibel das wirklich gewollt?

Glauben Sie, dass der assistierte Suizid irgendwann überall auf der Welt legalisiert werden wird?

Denken Sie über den Beginn und das Ende des Lebens nach. Viele Länder haben die Abtreibung legalisiert. Warum sollte man ein menschliches Wesen töten, das nicht krank ist und leben will? Wenn dieses ungeborene Kind eine Stimme hätte, würde es schreien: «Ich will leben!».

Wenn jemand am Ende seines Lebens sagt: «Ich möchte sterben, ich kann so nicht mehr weiterleben», dann wird das in einigen Ländern nicht respektiert.

Ich denke, dass am Ende genauso viele Länder die Sterbehilfe legalisieren werden wie Länder, welche die Abtreibung legalisiert haben. Innerhalb von fünf oder zehn Jahren. Da bin ich mir sicher.

Glauben Sie, dass das Schweizer System besser ist als das niederländische?

Meiner Meinung nach ist das Schweizer Modell die beste Option. Hier hat die Patientin, der Patient das letzte Wort über das eigene Leben.

Ärztinnen und Ärzte sollten nicht entscheiden, ob ein Leben nicht lebenswert ist. Wenn Ärztinnen und Ärzte die Injektion geben können, wie können Sie dann sicher sein, dass dies wirklich der Wunsch der Patientin, des Patienten war?

Einige warnen davor, dass die Legalisierung des assistierten Suizids dazu führen könnte, dass einige Unternehmen davon profitieren.

Wir sind schon so oft von Leuten beschuldigt worden, die behaupten, wir würden Sterbehilfe nur gegen Geld anbieten. Um dies zu vermeiden, sollte jede Organisation ihre Einnahmen und Ausgaben von der Regierung überprüfen lassen.

Gibt es in der Schweiz Vorschriften, welche die Suizidhilfe-Organisationen verpflichten, ihre Bücher offenzulegen?

Es gibt keine Regelung. Damit bin ich nicht einverstanden.

Was tut Ihre Organisation für die Transparenz?

Lifecircle ist eine Stiftung. Und wir lassen unsere Bücher zweimal im Jahr von der Regierung prüfen.

Sterbebegleiterin – ist das Ihr Vollzeitjob?

Nein. Wenn es so wäre, würde ich mich umbringen (lacht). Das ist kein Job, mit dem man seinen Lebensunterhalt verdient.

Alle Menschen, die für Lifecircle arbeiten, haben einen normalen Beruf. Sie arbeiten in Teilzeit für die Stiftung. Ich selbst verdiene meinen Lebensunterhalt als Hausärztin.

Haben Sie jemals daran gedacht, aufzuhören?

Vor fünf Jahren wurde ich wegen Mordes an einer sehr alten Schweizerin angeklagt. Sie war seit drei Monaten in einer psychiatrischen Abteilung und wurde mit Depressionen diagnostiziert. Ich hatte ein Gespräch mit ihrem Sohn, dem Leiter des Pflegeheims, in dem sie untergebracht war, und ihrer Pflegeperson. Aber ich konnte keine Psychiaterin, keinen Psychiater für die Begutachtung finden.

Erika Preisig im Interview
Erika Preisig nach der Urteilsverkündigung am Kantonsgericht Basel-Landschaft, am 7. Mai 2021 in Liestal. Preisig wurde vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung freigesprochen. Severin Bigler

Wenn man wegen Mordes vor Gericht steht und denkt, dass man alles richtig gemacht hat… Da fragt man sich, warum man sich das antut. Und man denkt: Warum höre ich nicht auf (lacht)? Aber es gibt so viele Menschen, die mir vertrauen und meine Hilfe brauchen. Das ist der Grund, warum ich weitermache.

(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Kaoru Uda

Inwieweit sollte die Beihilfe zum Suizid für Menschen, die ihr Leben beenden wollen, legal möglich sein?

Die Schweiz hat die Sterbehilfe in den 1940er-Jahren legalisiert. Über 1000 Schwerstkranke oder Behinderte beenden hier jedes Jahr ihr Leben.

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(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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