Stress als Preis für wirtschaftlichen Erfolg
Der Druck hat massiv zugenommen: In der Schweiz steht jeder dritte Beschäftigte unter Stress. Dies zeigt die Stressstudie 2010, die das Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco) jüngst vorgestellt hat. Das Phänomen zieht sich durch alle Branchen.
Das neueste Ranking des Weltwirtschafts-Forums (WEF) weist die Schweiz als Weltmeisterin in der Disziplin Wettbewerbsfähigkeit aus. Dazu kann sie mit einer weiteren guten Zahl aufwarten: Im August betrug die Arbeitslosigkeit in der Schweiz 2,8%, im internationalen Vergleich ein sehr tiefer Wert.
Die Medaille hat aber ihre Rückseite: Jede dritte in der Schweiz arbeitende Person fühlt sich bei der Arbeit oft oder sehr oft gestresst, wie die aktuelle Stressstudie des Seco zeigt.
Während im Jahr 2000 noch 26,6% angegeben hatten, dauerhaft unter Stress zu leiden, waren es 2010 schon 34,4%. Umgekehrt sank der Anteil jener, die nie oder nur selten unter Stress stehen, innert zehn Jahren von 17,4% auf 12,2%.
Junge anfälliger
Die Klagen ziehen sich quer durch alle Sektoren, Berufsgruppen und die Geschlechter. Auffällig ist aber, dass Stress bei den Jungen zwischen 15 und 34 Jahren über dem Durchschnitt liegt. Mitarbeiter zwischen 55 und 64 dagegen stellen den grössten Anteil der Gruppe der «Gelassenen», die selten bis nie unter Stress stehen.
Aus der Befragung von 1006 Angestellten und Selbständigerwerbenden geht laut den Autoren vom Seco aber nicht hervor, was die Gründe für die Zunahme des Stress-Phänomens sind.
«Die Studie basiert auf erprobten Analyse-Modellen, was die Identifikation von mehreren Stressfaktoren erlaubt», sagt Arbeitspsychologin Céline Dubey Guillaume vom Seco. Verantwortlich seien in erster Linie Zeitdruck, der Zwänge wie ein hoher Arbeitsrhythmus, kurze Fristen und Arbeit während der Freizeit zur Folge habe. Stress verursachen laut Dubey Guillaume aber auch unklare Aufträge von Vorgesetzten sowie Mobbying, Einschüchterungen oder verbale Gewalt am Arbeitsplatz.
«Umgekehrt fühlen sich Mitarbeiter unter einem guten Management weniger gestresst, was sie weniger anfällig für ein Burn out macht.»
Gesetze anwenden
Mit der Studie will das Seco den arbeitsrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der psychischen Gesundheit mehr Nachachtung verschaffen. «Das Arbeitsgesetz kennt zahlreiche Artikel über die Arbeitszeiten. Diese werden aber nicht immer respektiert», sagt Céline Dubey Guillaume.
Beim Schweizerischen Arbeitsgeberverband wird dies ähnlich gesehen. «Was das Seco zur Stufe Management sagt, können wir unterschreiben», bestätigt Sprecherin Ruth Derrer Balladore. Viele Unternehmen würden zwar stets betonen, dass gute Mitarbeiter das Wertvollste überhaupt seien. Aber viele Firmen hätten immer noch nicht begriffen, wie wichtig eine gute Mitarbeiter-Führung sei.
Auch die Forschung bestätigt diese Sicht. «Früher galt als guter Chef, wer sich um das Wohl seiner Mitarbeiter kümmerte. Heute sind gute Vorgesetzte solche, die ihre Untergebenen wie Zitronen auspressen und stets deren Leistung messen», sagt Franziska Tschan, Professorin am Institut für Arbeitspsychologie an der Universität Neuenburg, Dies sei der Preis dafür, dass in den letzten Jahren punkto Verbesserungen der Arbeitsbedingungen die Fortschritte ausgeblieben seien.
Preis der Deregulierung
Jean-Christophe Schwaab, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), geht noch einen Schritt weiter, indem er die Ideologie in Frage stellt, welche die Wirtschaftswelt immer noch dominiere.
«Seit dem Siegeszug des Neoliberalismus stellen wir starke Bemühungen fest, die Arbeitsbedingungen in jeder Hinsicht zu flexibilisieren. Die Folgen sind Verlängerungen der Arbeitszeit, Lohneinbussen und eine Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse mit Tieflöhnen, Arbeit auf Abruf, Zeitarbeitern und Scheinselbständigen», sagt Schwaab.
Von den vier Millionen Lohnempfängern arbeiteten 150’000 zu Tiefstlöhnen, ebenso viele befänden sich in einem temporären Arbeitsverhältnis. Die Tendenz dazu sei klar, obwohl die Mehrheit der Arbeitenden noch nicht davon betroffen sei.
Wirtschaftliche Risiken würden zunehmend auf die Arbeitenden überwälzt, sagt der Gewerkschafter. «Das Resultat: Verhandlungen über Gesamtarbeitsverträge werden immer härter geführt, derweil die Stabilität der Arbeitsverhältnisse und die Sozialpartnerschaft immer mehr bröckeln.»
Börsen sind schuld
Früher sei es oberstes Ziel des Patrons gewesen, den Fortbestand seines Unternehmens zu sichern. Dieses Ziel hätten auch die Gewerkschaften unterstützt. «Wenn es aber primär um kurzfristige Gewinne zuhanden der Aktionäre geht, steht das Interesse des Unternehmers im Widerspruch zu jenem von Arbeitnehmern und Gewerkschaften», sagt Schwaab.
Dem widerspricht auch Ruth Derrer Balladore vom Arbeitgeberverband nicht. «Die Börse sanktioniert alle drei Monate die Resultate eines Unternehmens, was eine längerfristige Planung enorm erschwert. Wie erklärt man den Aktionären, dass sich eine getätigte Investition im abgelaufenen Trimester als Verlust erweist, sich aber in zwei Jahren auszahlen wird?»
Kurzfristige Gewinnmaximierung sei ein Stressfaktor für das gesamte Unternehmen, «den Chef eingeschlossen», sagt Ruth Derrer Balladore.
In der Medizin bezeichnet Stress das Erreichen der eigenen Kapazitätsgrenzen.
In der Arbeitswelt dagegen wird Stress fatalerweise oft als Merkmal von Engagement und Leistung missverstanden.
Stress ist in den meisten Unternehmen ein Tabu-Thema, weil er Betroffenen als persönliche Schwäche ausgelegt wird.
Ändern sich die Stressfaktoren am Arbeitsplatz mittelfristig nicht, ist die Gesundheit der Betroffenen gefährdet.
Laut den Autoren der Studie ist Stress meist mit Termindruck gekoppelt.
Weitere Faktoren:
Ungenaue Zielvorgaben
Spannungen am Arbeitsplatz
Arbeit während der Freizeit
Zu lange Arbeitstage
Unterdrückung der eigenen Gefühle am Arbeitsplatz
Soziale Diskriminierung am Arbeitsplatz
(Übertragen aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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