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«Die Nazis wollten uns erschiessen, weil wir Ausländer waren»

Agnes Waser
Agnes Waser, eine Zeitzeugin der Weltkriegs-Gräuel in Deutschland, erzählt uns im Hinterhof ihres Hauses in Vettweiss ihre Lebensgeschichte. swissinfo.ch

Als kleines Mädchen holten fanatische Nazis sie und ihren Schweizer Vater aus dem Haus und stellten sie vor ein Erschiessungs-Kommando. Nur dem Eingreifen des Ortsgruppenführers in letzter Sekunde verdankt Agnes Waser das Leben. Hier ist die Geschichte einer Schweizerin, die ihr Leben in Deutschland verbrachte.

Sie lebt seit ihrer Geburt vor bald 85 Jahren in Deutschland. Aber ihr ganzes Leben lang besass Agnes Waser nur den Schweizer Pass. Darauf ist sie stolz. Waser lebt heute wie in ihrer Kindheit schon in VettweissExterner Link in Nordrhein-Westfalen, zwischen Aachen und Köln. Sie hat eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis in Deutschland.

«Ich bin zwar in Deutschland geboren, aber mein Herz gehört der Schweiz», sagt sie. Vor sich auf dem Tisch hat Waser zahlreiche, dicht bedruckte A4-Seiten ausgebreitet – ihre Lebensgeschichte. Die Rentnerin ist für ihre Familie und den Ort gewissermassen das Gedächtnis. Als solches ist sie aktiv im Heimat- und Geschichtsverein VettweissExterner Link. Ihre Geschichte hat sie aber in erster Linie für ihre Familie zu Papier gebrachtExterner Link.

Flucht vor der Armut

Nach Deutschland eingewandert war ihr Grossvater 1901. Er hatte mit vier seiner sechs Geschwister die Schweiz verlassen, weil in OberrickenbachExterner Link, einem kleinen Dorf in einem Seitental des Kantons Nidwalden, bittere Armut herrschte. Wie vielerorts in der damaligen Schweiz. Gemeinsam machten sie sich auf ins deutsche Rheinland, auf der Suche nach einem besseren Leben.

Auf einem Gutsbetrieb in Vettweiss wurde Josef-Marie Waser Melkermeister. Sein ältester Sohn Peter war auch Schweizer, wie auch dessen Tochter Agnes, die 1934 in Vettweiss zur Welt kam, als ältestes von drei Kindern.

Als wir im Lokalzug im Dorf ankommen, erwartet uns Agnes Waser mit einer ihrer beiden Töchter. Die hellwache Rentnerin hat auch drei Enkel und zwölf Urenkel. Da sie nicht mehr so gut zu Fuss ist, fährt sie heute ein Elektromobil.

Waser bezeichnet sich als «Vettweisser Kind». Auf Deutsch wird das Dorf natürlich Vettweiß mit scharfem S geschrieben. Man spricht dort «Vettweisser Plattdeutsch». Im Dorf gab es einmal sieben Lebensmittelgeschäfte. Heute existiert nur noch ein Discounter. «Die machen alles kaputt», sagt Waser.

Frau reitet auf Stier
Für ein Volksfest machte sich Agnes› Mutter Cordula zurecht und ritt auf einem Stier ein. zVg

Dunkle Zeiten

Agnes ist knapp fünfjährig, da überschattet der Zweite Weltkrieg die Kindheit auf dem Dorf. In Vettweiss leben zu der Zeit viele Juden. Eines Tages sieht sie eine Rauchsäule über dem Dorf: Die Synagoge brennt. Die Zerstörung des jüdischen Gotteshauses habe sie nicht selber beobachtet.

«Doch wie eine Kolonne von Nazis mit geschulterten Gewehren im Jahre 1940 die Vettweißer Juden aus ihren Häusern holten und im Feuerwehrhaus zusammentrieben, zwecks Deportation in die Vernichtungslager», das habe sie zusammen mit anderen Kindern gesehen, wie sie in ihren Erinnerungen schreibt.

Bis zur Deportation habe sie die Freundschaft zu den jüdischen Kindern aufrecht erhalten können, ohne dass ihre Eltern etwas zu befürchten gehabt hätten, sagt sie. Dies dank ihrem Sonderstatus als Schweizer Familie. Ihr Vater habe seinen Kindern gesagt: «Wenn Ihr den Hitlergruss macht, schlage ich Euch die Hand ab.»

Allen war immer klar, dass sie Schweizer sind. «Mein Grossvater hat mir stundenlang von der Schweiz erzählt», sagt sie. Jeweils nachmittags nach der Schule, wenn sie im Haushalt hätte helfen sollen, ergänzt sie mit einem schelmischen Grinsen.

Doch bald schon gelten auch sie in den Augen von fanatischen Nazis als Ausländer. Eines Tages holen einige dieser Fanatiker den Vater und seine kleine Tochter aus dem Haus und führen sie auf den Platz vor der benachbarten Molkerei. «Sie wollten uns erschiessen, weil wir Ausländer waren. Dann kam der Ortsgruppenführer und stoppte sie.» Ein furchtbares Erlebnis sei das gewesen.

Mann vor Lastwagen
Agnes› Vater Peter mit «seinem» Magirus-Deutz. zVg

Zwangseinsatz in Russland

Eine bemerkenswerte Geschichte widerfuhr ihrem Vater 1942, im dritten Jahr des Kriegs. Damals wurden deutsche Bürgerinnen und Bürger in den Arbeitsdienst eingezogen, im Rahmen der so genannten Organisation TodtExterner Link. Weil er einen starken Magirus-Deutz-Lastwagen fuhr, wurde Peter Waser einberufen – als Schweizer.

Aus Angst um seine Familie wehrte er sich nicht dagegen. «Schweizer hin oder her, in diesem Moment wurde nicht danach gefragt», schreibt Waser in ihrer Chronik. Die Fahrer wurden in olivgrüne Uniformen gesteckt und mussten für die Organisation Material in Kriegsgebiete schaffen. So kam Peter 1942 nach Russland, wo er ungefähr ein Jahr lang als Chauffeur diente.

Der Lastwagen wurde – Treibstoff war für die Armeefahrzeuge reserviert – mit einem Holzvergaser betrieben. Als dieser kaputtging, wurde Waser zur Reparatur nach Deutschland zurückgeschickt. «Und dann ist er aus der Werkstatt abgehauen und hat sich nach Köln auf die Schweizer Botschaft durchgeschlagen», erzählt sie.

«Da war damals der Doktor Weisskopf als Schweizer Botschafter. Der sagte, ‹Wo gibt’s denn sowas, meine Leute einziehen!›.» Sofort die Uniform ausziehen, habe Weisskopf ihrem Vater befohlen.

Bald darauf wurde dessen Zwangsverpflichtung aufgehoben, und er fand auch sofort wieder eine Anstellung. «Mein Vater hat die Schweiz nie gesehen. Aber das war ein Schweizer durch und durch», sagt sie.

Dank an die Schweiz

Ihrer Schweizer Staatsbürgerschaft haben die Wasers viel zu verdanken. So wurde nach dem Krieg das von US-Fliegern zerbombte Familienhaus in Vettweiss mit Schweizer Hilfe wieder aufgebaut.

Und die kleine Agnes konnte 1945 dank dem Schweizer Hilfswerk Pro JuventuteExterner Link in die Schweiz reisen. Sechs Wochen in Zürich Seebach waren geplant. Doch weil bei ihr in dieser Zeit eine schwere Krankheit ausbrach – die Schuppenflechte –, blieb sie schliesslich eineinhalb Jahre und schloss in der Heimat ihres Grossvaters auch ihre obligatorische Schulzeit ab.

Sie waren oft in den Bergen zum Wandern, wo die Kindergruppe aus sieben Nationen von Schweizer Soldaten begleitet und beschützt wurde. «Da mussten wir von Ziegenmilch leben», erzählt sie. Es war aber am Uetliberg Externer Linkoberhalb der Stadt Zürich, wo Agnes das erste Mal in ihrem Leben Schnee sah.

Der Pro Juventute ist sie bis heute dankbar, dass sie das ermöglicht habe. Drei Mal wurde ihr als Kind und Jugendliche über diese Organisation ein Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht.

Frau an Tisch mit zwei Journalisten
Auf unzähligen A4-Seiten hat Agnes Waser ihr Leben zu Papier gebracht. Nicht nur für die Familie, sondern auch für den Heimat- und Geschichtsverein Vettweiss. swissinfo.ch

Die Punker-Oma

Als Erwachsene arbeitete Waser lange als Serviererin in einem französischen Speiserestaurant in Bergisch GladbachExterner Link. Mit ihrer damaligen Chefin pflegt sie noch heute Kontakt.

Mit ihrer Familie hat sie im Wohnwagen unzählige Reisen durch die Schweiz gemacht. Es gebe keine Gegend, die sie nicht gesehen habe, lacht sie. «Schweizreisen waren für uns das A und O.»

Seit 27 Jahren ist sie Mitglied im Schweizer-Club Aachen – heute das älteste. «Ein sehr schöner Kreis. Man kennt sich», sagt sie. Oft besuchen Clubmitglieder die Rentnerin. Besonders freut sie sich jeweils auf das Treffen zum Schweizer Nationalfeiertag. «Am 1. August ist es für mich Pflicht, die Schweizer Fahne rauszuhängen.»

Auch mit fast 85 Jahren fühlt sich die Rentnerin noch nicht so alt. «Vor zwei Jahren habe ich am Vettweisser Karneval die Punker-Oma gemacht», erzählt sie mit sichtlichem Stolz. Mit Perücke und dem dazu nötigen Slang ging sie gar «in die Bütt», stieg also für einen amüsanten Vortrag auf einen Wagen.

Der Abschied ist herzlich. «Ich bin froh, dass ich meine Geschichte noch einmal erzählen konnte», sagt sie.

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