«Teilung Belgiens ist nicht auszuschliessen»
In Belgien droht der Streit zwischen den Sprachgruppen der Flamen und Wallonen das Land zu spalten. Die mehrsprachige Schweiz sei gut gegen ein solches Szenario gefeit, sagt Föderalismus-Experte Peter Hänni im Gespräch mit swissinfo.ch.
Sind die Tage des Königreichs Belgien gezählt? Peter Hänni, Direktor des Instituts für Föderalismus Universität Freiburg und Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, will ein solches Szenario tatsächlich nicht ausschliessen.
Anlass ist der aktuelle Streit um den Zankapfel Brüssel und Umland. Die Mehrheit der holländisch sprechenden Flamen wollen die Rechte der frankophonen Minderheit in der Umgebung der Hauptstadt beschneiden. Dazu verlangen sie die Aufteilung des bisher gemeinsamen Wahlbezirks.
Vorläufiger Höhepunkt des Sprachenstreits war Anfang Woche der Rücktritt des belgischen Ministerpräsidenten Yves Leterme.
swissinfo.ch: Belgiens Regierung steckt in einer tiefen Krise, voraussichtlich im Sommer finden Neuwahlen statt. Ist eine Spaltung Belgiens Schreckgespenst oder reales Szenario?
Peter Hänni: Nach meiner Beurteilung ist das nicht auszuschliessen. Ob eine Teilung im aktuellen Streitfall auch eintritt, ist aber Spekulation. Es hängt auch von den Neuwahlen ab. Wir können von hier aus kaum beurteilen, ob die Sprachgruppen tatsächlich eine Teilung wollen.
swissinfo.ch: Ist der Zankapfel des Wahlkreises um Brüssel nur die Spitze des Eisbergs in einem tiefergehenden Konflikt?
P.H.: Die Sprachgruppen befinden sich in Belgien in zwei relativ scharf abgegrenzten Gebieten. Einerseits im französischsprachigen Wallonien im Süden, andererseits in Flandern, dem flämischen Norden.
Dazwischen liegt die Region Brüssel als politisches und administratives Zentrum des Landes. Diese Region verfügt über einen gemischten Status. Genau dieser ist umstritten, auch was die Grenzziehung der Wahlkreise betrifft.
swissinfo.ch: Sehen Sie Lösungsansätze, um ein weiteres Auseinanderdriften Belgiens aufzuhalten?
P.H.: Es ist ausgesprochen schwierig zu beurteilen, welche Lösungen möglich sind. Alles hängt davon ab, wie weit die einzelnen politischen Exponenten zu gehen bereit sind. Insbesondere, ob sie das Risiko einer Teilung in Kauf nehmen wollen.
Bisher hatte man immer den Eindruck, es handle sich um politische Machtspiele. Ein altes Sprichwort lautet, das einzige, was Belgien zusammenhält, ist der König und die Fussball-Nationalmannschaft. Die jüngste Krise hat aber eine ernstere Dimension angenommen.
swissinfo.ch: Gibt es einen Austausch zwischen Schweizer Föderalismus-Experten mit belgischen Kollegen über mögliche Auswege?
P.H.: Man muss unterscheiden zwischen einem wissenschaftlichen Austausch über föderalistischen Strukturen generell und der Politik. Auf erster Ebene pflegen wir Kontakte an Konferenzen und Anlässen, wo die verschiedenen Modelle miteinander verglichen werden.
Bei politischen Fragen kann die Wissenschaft weniger konkrete Beiträge liefern. Ausser man ist in der Politikberatung tätig. Ich gehe davon aus, dass sich Regierung und Parteien in Belgien entsprechend beraten lassen. Aber ob das in der Praxis zu konkreten Resultaten führt, ist eine andere Frage. Es gab ja eine Verfassungsreform, mit der man geglaubt hatte, die Probleme gelöst zu haben.
Häufig kaschiert die Sprachenfrage andere Probleme, indem eine politische Auseinandersetzung plötzlich zu einer Sprachenfrage hochstilisiert wird. Das kommt in der Schweiz sehr selten vor.
swissinfo.ch: Zur Situation in der Schweiz, wo wir aktuell eine kleine Neuauflage der Sprachendiskussion Französisch – Mundart/Hochsprache erleben. Könnte solche Debatten zu ähnlichen Szenarien wie in Belgien führen?
P.H.: Ich glaube nicht, die Verhältnisse in Belgien sind nicht mit denjenigen in der Schweiz vergleichbar. Man müsste von der Frage ausgehen, was geschehen würde, wenn sich die Schweiz in drei Sprachregionen aufteilen würde. Diese wären kaum überlebensfähige, praktisch bedeutungslose Gebiete.
Dazu kommt die Geschichte. Deutschschweizer, Romands und Südschweizer haben zwar Affinitäten zu den jeweiligen Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Italien. Aber ob diese ausreichen, um Teil von ihnen zu werden, bezweifle ich.
Die Deutschschweizer beispielsweise pflegen seit Jahren eine solide Aversion gegenüber Deutschland. Bei der Diskussion um die Zuwanderer aus Deutschland hat sich gezeigt, dass die Bereitschaft nicht sehr ausgeprägt ist, sich mit dem nördlichen Nachbarn zu verbinden. Ich gehe davon aus, dass dasselbe auch auf die französisch- und die italienischsprachige Schweiz zutrifft.
swissinfo.ch: Über welche Mechanismen verfügt die Schweiz, um die Kohärenz zwischen den Sprachregionen zu wahren?
P.H.: Die Schweiz pflegt seit vielen Jahrzehnten eine Kultur des Konsenses. Dies drückt sich unter anderem in der Vertretung des Sprachregionen in der Regierung aus. Zwischen den Landesteilen bestehen auch zahlreiche Verflechtungen.
Der Föderalismus besteht in der Schweiz zudem aus viel kleineren Einheiten. Wir haben keine Blöcke, die dazu führen würden, dass die französischsprachige Schweiz völlig anders stimmen würde als die Deutschschweiz.
Man spricht zwar hie und da vom Röstigraben, aber wenn man die Abstimmungen verfolgt, sind Unterschiede im Stimmverhalten die Ausnahme. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Tessiner wiederum häufig völlig anders abstimmen als die Westschweizer.
In der Schweiz kann man davon ausgehen, dass die Verständigung unter den Sprachregionen und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärker ausgeprägt ist. Belgien dagegen hat einen ganz anderen historisch Hintergrund.
Renat Künzi, swissinfo.ch
Das Königreich zählt 10,7 Mio. Einwohner.
Davon sprechen 60% flämisch (Holländisch). Die Wallonen machen rund 40% aus und sprechen französisch.
Der Sprachenstreit dieser beiden Gruppen hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg zugespitzt.
Im Osten des Landes wird auch noch Deutsch gesprochen.
Alle drei Sprachen sind Amtssprachen.
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