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Der Schweizer Chirurg, der den Krieg zähmen wollte

Theodor Kocher operiert als Chirurg am Universitätsspital Bern einen Patienten, mit Zuschauern; schwarz-weiss-Bild
Theodor Kocher operiert als Chirurg am Universitätsspital Bern einen Patienten, unter den wachsamen Augen von Arztkollegen aus Nord- und Südamerika. WikiVisually

Ende des 19. Jahrhunderts führte die Arbeit des Berner Arztes Theodor Kocher zu einer kleinen Revolution in der Kriegsführung. Ein bis heute kaum bekanntes Vermächtnis.

Bekannt ist er eher für seine Forschung über die Schilddrüse, die ihm 1909 den Nobelpreis einbrachte. Doch der Berner Chirurg Emil Theodor Kocher forschte auch in einem ganz anderen Bereich, was heute, gelinde gesagt, fast niemand mehr weiss: Er war auch in der Ballistik- und Waffenverletzungs-Forschung tätig. Dort fand er Lösungen, die das Schicksal von vielen Soldaten verändern sollten.

Theodor Kochers Werdegang erinnert in vielerlei Hinsicht an den eines anderen Schweizer Nobelpreisträgers: Henri Dunant, Gründer des Roten Kreuzes. Wie der Genfer Philanthrop beobachtet auch Kocher konsterniert die Konflikte zum Ende des 19. Jahrhunderts, bei denen der Blutzoll Ausmasse annimmt wie noch selten. Der überzeugte Christ fragt sich, wie die Barbarei des modernen Krieges gemildert werden kann.

Unnötiges Leiden vermindern

1875 publiziert Kocher als junger Professor an der Universität Bern einen ersten Artikel über Schussverletzungen. Die Projektile sind zu jener Zeit besonders verheerend: Sie bestehen hauptsächlich aus Blei, verformen sich nach Austritt aus der Waffe und reissen deshalb das Fleisch stark auf, fördern Infektionen und führen so oft zu Amputationen. Kocher führt deshalb eine Reihe von ballistischen Versuchen durch, um die Auswirkungen dieser Munition auf den Körper besser zu verstehen.

Emil Theodor Kocher
Emil Theodor Kocher. nobelprize.org

Er kommt zu folgendem Schluss: Es wäre möglich, Projektile zu entwickeln, die weniger Leiden und irreparable Schäden bei den Soldaten verursachen. «Kocher schlägt vor, die Grösse der Patronen zu verkleinern und sie aus Materialien mit einem höheren Schmelzpunkt herzustellen, damit sie sich weniger deformieren und somit weniger menschliches Gewebe zerstören», schreibt der britische Politologe Christopher Coker in seinem Buch «Future War».

Das «full-metal jacket»

Kocher, der auch Militärarzt ist, weckt mit seiner Forschung bald das Interesse der Militärbehörden. «Oberst Eduard Rubin, der Waffenschmied der Schweizer Armee, der damals an der Entwicklung neuer Munition arbeitete, nutzte Kochers Arbeiten», sagt Patrick Greiffenstein, Professor für Chirurgie an der der Universität Louisiana und Ko-Autor eines wissenschaftlichen Artikels über Theodor Kocher.

Dank Kochers Beobachtungen entwickelt Rubin 1882 das weltweit erste Vollmantelgeschoss («full-metal jacket bullet»). Dieses ist mit einem Kupfermantel überzogen, kleiner, leichter und verformt sich weniger als Bleimunition. Für den Arzt Kocher und den Offizier Rubin war es ein durchschlagender Erfolg: Das neue Projektil ist präziser und verursacht weniger irreparable Verletzungen.

Von Bern über Rom nach Den Haag

Mit diesem Ziel vor Augen will Kocher die Idee über die Schweizer Grenzen hinaustragen: «Sein Artikel ‹Die Verbesserung der Projektile aus humanitärer Sicht›, den er 1894 am internationalen Medizinerkongress in Rom präsentiert, macht einerseits das Problem sehr gut sichtbar und bietet andererseits eine spezifische Lösung, um den Krieg weniger grausam zu machen», sagt Greiffenstein. «Diese Art der Forschung blieb nicht unbemerkt und wurde beispielsweise fünf Jahre später bei der Friedenskonferenz in Den Haag herangezogen.»

Tatsächlich stossen die Bemühungen Henri Dunants mit dem Roten Kreuz und die Argumente und Überlegungen Kochers bei ausländischen Militärs schnell auf offene Ohren: In den folgenden Jahren übernehmen fast alle grossen Armeen das Vollmantelgeschoss als Standardmunition. 1899 verbietet die Erklärung von Den HaagExterner Link offiziell den Einsatz von Kugeln, «die sich leicht im menschlichen Körper ausbreiten».

Ein beispielloser Gedanke

Anfang der 1900er-Jahre kommen mehrere Studien zum Schluss, dass Vollmantelgeschosse die Todesrate unter Schussverletzten reduzieren, wie Kocher bereits herausgefunden hatte. Für Christopher Coker hatten Kocher und seine Brüder im Geiste eine beispiellose Überlegung angestellt: «Kocher war zum Schluss gekommen, dass das Ziel des Kriegs sein sollte, den Feind daran zu hindern, weiterzukämpfen; das erste Ziel sollte also nicht sein, ihn zu töten, sondern nur zu neutralisieren.»

Leider machten die neuen Todestechnologien, die im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden, die Idee des Berner Chirurgen grösstenteils zunichte. Ein Trost für Kocher, der 1917 starb: Die Grundidee, die ihn zu seiner Forschung gebracht hatte – die Reduktion unnötigen Leidens von Soldaten –, sollte zu einem zentralen Grundsatz des humanitären Völkerrechts werden.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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