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«Too big to fail» soll neues Thema für Olympia werden

Das "RusSki Gorki Jumping Center" in Sotschi. Ria Novosti

Gigantismus pur prägt die Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi. Zwei innovative Köpfe des Schweizer Sports plädieren für eine neue olympische Realität. Darin sind Zumutbarkeit für alle, "Fairtrade" und "Too big to fail" Schlüsselbegriffe.

«Sotschi bedeutet ein Missbrauch der olympischen Idee, ist Gigantismus in mehrfacher Hinsicht und eher plumpe Propaganda», sagt Arturo Hotz, kritischer Geist der Schweizer Sportwelt.

Der emeritierte Professor für Sportwissenschaften an der Universität Göttingen ist in der Gigantismus-Frage selber gespalten. Denn der «Romantiker» – seine Jugenderinnerungen an die Spiele 1948 in St. Moritz waren für ihn prägend – hätte sich auf Olympische Winterspiele 2022 in Graubünden gefreut.

Das Glaubwürdigkeits-Problem von Olympischen Spielen sei gegenüber Peking 2008 noch einmal grösser geworden. Den Ursprung des Problems ortet Arturo Hotz in der eingangs geschilderten Instrumentalisierung der Olympischen Spiele. «Konsens besteht darin, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Die Frage lautet: Was wollen wir eigentlich? Könnten mit dem olympischen Gedanken nicht Brücken auch für den Nicht-Sportbereich geschlagen werden?»

Hotz beklagt insbesondere die Kommerzialisierung der Spiele. Sie laufe der olympischen Idee von Pierre de Coubertin als «Fest der Jugend» und des «menschlichen Frühlings» zuwider, sei diese doch mit den ethisch-pädagogischen Elementen auch explizit humanitär ausgerichtet gewesen.

Arturo Hotz strukturiert die aktuelle Diskussion über die Krise der Olympischen Spiele wie folgt: Die Kritik am Gigantismus in Sotschi 2014 bezieht sich auf die Form der Olympischen Spiele.

In der Diskussion um Reformen muss zunächst die Frage nach der Funktion (Sinnperspektive!) von Olympischen Spielen geklärt werden.

Die zweite Ebene betrifft deren Struktur. «Ist es in der heutigen Zeit noch möglich, entsprechende Strukturen aufzubauen, um diese Funktion bei den gegebenen Verhältnissen erfüllen zu können, sei es in der Sportart, Weltgeschichte oder in jeglichem anderen Zusammenhang?», formuliert Arturo Hotz die zentrale Frage.

Im dritten Schritt geht es um die Integration von Funktion und Struktur von Olympia in die bestmögliche

Form

.

Abkehr vom Olympia-Jekami 

Hotz ist überzeugt, dass ethisch gesehen olympischer Gedanke und Milliardengeschäft nicht kompatibel seien. «Es ist, als versuchte man, einen Karamell-Pudding mit einem Nagel an die Wand zu hängen», illustriert er. «Das IOC hätte die Möglichkeit, den Gigantismus einzudämmen. Aber wer will schon auf das Geld verzichten, das man damit verdient?» Sein Appell sollte in Lausanne eigentlich gehört werden, denn 1998 hatte das IOC Hotz› Lebenswerk mit dem Ethik-Pokal gewürdigt.

Seine Idee zum Downsizing der Spiele: Die Zahl der teilnehmenden Athleten gilt es zu reduzieren. Inspiriert dazu wurde Hotz durch die Spiele 1972 in Sapporo und 1994 in Lillehammer. «Es waren bescheidenere Spiele mit weniger Athleten – aber ist das heute noch sinnvoll und machbar?»

Hotz schlägt vorolympische Selektionswettkämpfe vor, die hauptsächlich in ehemaligen Olympia-Stadien stattfinden müssten. «Diese könnten so belebt und nachhaltiger genutzt werden.»

Weiterer Vorteil: Mit den vorolympischen Qualifikationsbewerben kann in der Öffentlichkeit laut Hotz über längere Zeit eine olympische Stimmung aufgebaut werden, wobei es vorerst um Quotenplätze ginge.

Der emeritierte Professor für Sportwissenschaften (Uni Göttingen) gehört zu den vielseitig-interessantesten Köpfen der Schweizer Sportwelt.

Sein Spezialgebiet, die qualitative Bewegungsforschung, kennzeichnet seinen hermeneutischen Zugang zum Sport.

Vor seiner akademischen Laufbahn (seit 1980) war er u.a. (erfolgreicher) Bob- und Cheftrainer der alpinen Skifahrer sowie Abteilungsleiter beim Schweiz. Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF).

Seine praxis-relevanten Lern-/Lehrmodelle überzeugen in ihrer Struktur der von ihm kreierten Päda-Motorik, eine philosophische Konzeption, die auf eine ganzheitliche, interdisziplinäre Persönlichkeits-Entwicklung abzielt.

Auf Naturebene stecken geblieben

Eine weitere Grundsatzkritik von Hotz zielt darauf ab, dass Olympia mit dem Gigantismus auf der philosophischen Naturebene steckengeblieben sei, wo die Maxime «Friss oder stirb» laute. «Die olympische Idee ist hingegen Gedankengut der Kulturebene, auf der sich der Mensch von der Natur insofern unterscheiden könnte, weil hier auf Lebensqualität und Zusammenarbeit im Dienste der Gemeinschaft fokussiert wird.»

Ein entscheidendes Kriterium auf der Kulturebene ist laut Hotz, dass Olympische Spiele für alle Betroffenen ethisch zumutbar konzipiert sein müssen.

«Kultiviertere» Spiele

Auch Heinz Keller, von 1985 bis 2005 Direktor des Bundesamtes für Sport (BASPO), plädiert für ein tiefgreifendes Überdenken der Entwicklung, wenn er fordert: «Die Spiele müssen kleiner, nachhaltiger, ehrlicher, kultivierter werden – und sportlich perfekt bleiben.»

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Was es laut Keller braucht, ist keine neue olympische Utopie, vielmehr eine neue olympische Realität. «Too big to fail («Zu gross, um zu scheitern»), das Schlüsselthema aus der Wirtschafts- und Finanzpolitik, muss auch für Olympia zum zentralen Begriff werden», fordert der ex-BASPO-Direktor.

Wenn es gelinge, in der Finanzwirtschaft sukzessive die «richtige» Form der Banken zu finden, die Anlagen nachhaltiger zu platzieren, transparenter zu arbeiten und wieder eine Banken-Kultur zu entwickeln, «dann muss es im Sport ein Leichtes sein, das noch besser zu machen», folgert er.

Bei Themen wie Steuern-Korrektheit, Finanz-Transparenz, Fairtrade usw. sieht Keller nicht nur das IOC, sondern die internationalen Sportverbände generell in der Pflicht.

Dem IOC legt er besonders ans Herz, nicht nur die Rolle des Kommerzes, sondern auch die der keimenden Nationalismen aufmerksam und kritisch zu beobachten. «Das IOC muss über seine eigene Aussenwirkung und die Wirkung des Sports nachdenken», empfiehlt Keller.

In der Frage der Kommerzialisierung nimmt er im Vergleich zu Hotz dennoch eine offenere Position ein. «Mit Sport Geld zu verdienen ist nichts Unanständiges», sagt Keller, «allein die Dosis machts aus. Die ‹Abzockerei› durch eine Organisation ist unsportlich.»

Das IOC habe in diesem Bereich bisher alle Register gezogen. Es bemühe sich vordergründig feierlich um die Inszenierung humanistischer Werte im Sport und gleichzeitig um das knallharte Inkasso gigantischer Werbe- und TV-Verträge für seine Aktivitäten. «Eine unsportliche Verhaltensweise», so Keller.

Der 71-jährige begeisterte Orientierungsläufer und Outdoor-Sportler war von 1985 bis 2005 Direktor des Bundesamtes für Sport (BASPO).

Davor war er Leiter der Turn- und Sportlehrerausbildung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH).

Das unter ihm erarbeitete Konzept für eine Sportpolitik in der Schweiz von 2000 prägt die Entwicklung des Schweizer Sports bis heute mit (Ausbau der Sportschulen).

2007 Ehrendoktor der Universität Bern.

Heute macht Keller Führungsberatungen in den Bereichen Verwaltung, Hochschulen und Kultur.

Olympia mit Fairtrade-Siegel

Bei Olympischen Spielen als grösste sportliche Begegnung in einer globalisierten Welt müsse aber künftig Fairplay mit Fairtrade ergänzt werden, fordert der langjährige höchste Sportfunktionär des Bundes. Gingen die Spiele 2022 etwa nach Kasachstan oder an die Ukraine, müsse das IOC solche Fairtrade- und Nachhaltigkeits-Kriterien gegenüber der Bevölkerung, der Natur und der Umwelt ultimativ einfordern – und selber transparent vorleben. «Die Welt ist für das IOC eine andere geworden», ist für Heinz Keller klar.

Dies bedeute insbesondere den Einbezug von kritisch reflektierenden Bevölkerungsgruppen, die Hinterfragung des Ressourcen-Verbrauchs, die Beantwortung der Fragen der Nachhaltigkeit für die ansässige Bevölkerung, die Natur und die Anlagen.

Mit Hotz stimmt er hingegen wieder überein, dass sich das IOC vermehrt der Sinn-Kritik stellen muss, die im Zusammenhang mit Olympischen Spielen immer lauter wird. «Bei den heutigen olympischen Spielen genügt der reine Sport-Kommerz-Event vielen Menschen nicht mehr. Es fehlen die sozialen, gesundheitlichen, ethischen, kulturellen und humanistischen Gegenwerte», so Keller.

Gerade was die kulturellen Werte angeht, würde es Keller begrüssen, wenn die Veranstaltungsländer künftiger Spiele die Kulturschaffenden eines Landes mit einbeziehen würden. «Beide können dabei gewinnen – vor allem aber der Sport», ist Keller überzeugt.

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