«Tote» Schlafdörfer und Pendlergemeinden wachküssen
Von lebendigen Gemeinschaften mit engstem sozialen Geflecht zu gesichtslosen Orten, die oft wie ausgestorben wirken: Manches Bauerndorf ist heute eine Schlafgemeinde für Pendler. Initiativen, diesen wieder Leben einzuhauchen, gehen oft von Einzelpersonen aus.
Einst prägten alte Bauernhäuser das Bild von Suberg, einem Dorf westlich von Bern Richtung Seeland. Nach getanem Tageswerk setzten sich die Bauern auf die Holzbank vors Haus und erholten sich bei einem Gespräch mit Nachbarn von den Mühen der Arbeit.
Diese Zeiten sind Geschichte. Die meisten alten Bauernhäuser haben neuen Einfamilienhäusern Platz gemacht, die meist von hohen Hecken umgeben sind, und aus den kleinen Strässlein für die Traktoren sind breite Strassen geworden. Und mitten durch den Ort führt die Eisenbahnlinie Bern-Biel.
«Niemand sitzt mehr gegen die Hauptstrasse, wir haben alle unsere Gärten auf der Rückseite», sagt Kathrin Gschwend, die in Suberg lebt. Wie Suberg ziehen viele andere Dörfer neue Einwohner an, die tagsüber in der Stadt arbeiten, zum Leben aber die Ruhe einer ländlichen Umgebung vorziehen, und damit dieses zu einem so genannten Schlafdorf machen. Dort gibt es zwar viel Platz, aber praktisch keine Schnittstellen mehr für ein soziales Leben.
Filmemacher Simon Baumann aus Suberg realisierte zusammen mit seiner Partnerin Kathrin Gschwend einen Dokumentarfilm über seine Heimatgemeinde.
Humorvoll, aber auch berührend, zeigt der Film die Bemühungen Baumanns, sich nach seiner Rückkehr ins Bauernhaus seiner Eltern in das Dorfleben zu integrieren, oder vielmehr in das, was davon übrig geblieben ist.
Baumann tritt dem Männerchor bei und klopft an die Türen seiner Nachbarn, um diese kennenzulernen.
Eingefügt sind Aufnahmen, die sein Onkel mit einer Super-8-Kamera gemacht hatte und die das Leben in Suberg zu Zeiten seines Grossvaters zeigen.
Dieser war ein Bauer, der Zeit seines Lebens hart gearbeitet hatte. Er war der letzte Suberger, der nach seinem Tod in den späten 1970-Jahren mit einem Begräbniszug durchs Dorf auf den Friedhof geleitet wurde.
«Zum Beispiel Suberg» feierte 2013 am Filmfestival Visions du Réel in Nyon Premiere, wo er mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Baumann erhielt im vergangenen Oktober auch den Filmpreis des Kantons Bern.
Nach seiner Reise durch die Kinos der Deutschschweiz im laufenden Winter erscheint er im Frühling auf DVD.
Soziale Wüste
Suberg mit seinen 612 Einwohnern hat keinen Laden mehr, keine Post, keine Musikgesellschaft und keine landwirtschaftliche Genossenschaft. Die Leute kaufen in den nächsten grösseren Orten ein, zum Beispiel in Bern, Lyss oder Biel. Und sie ziehen ein mehr oder weniger anonymes Leben vor; Kontakte zu Nachbarn werden nicht unbedingt gesucht.
«Abends kann es ziemlich einsam werden», sagt Simon Baumann, der in Suberg aufwuchs , dann wegzog, um vor ein paar Jahren mit seiner Partnerin Kathrin Gschwend dorthin zurück zu kehren, nachdem er das Haus seiner Eltern gekauft hatte.
Von der erlebten Anonymität und Isolation betroffen, drehte das junge Paar einen Dokumentarfilm über ihren Ort und dessen Transformation. Die Reaktionen, die sie mit dem Film auslösten, hat sie völlig überrascht.
«Bei uns ist es genau gleich, und uns gefällt das auch nicht», bekamen Baumann und Gschwend von Hunderten von Zuschauern zu hören und lesen, die ihren Film «Zum Beispiel Suberg» gesehen hatten, der im letzten Winter in den Kinos der Deutschschweiz lief. «Wir erhielten jeden Tag Briefe», sagt Simon Baumann, «es ist, als sei Suberg überall.»
«Hallo Nachbarn!»
Der Film zeigt Baumann, dessen Schulkollegen nach Zürich oder Berlin ausgewandert sind, wie er im Männerchor mitmachen will, dem einzigen Verein, der im Ort überlebt hat, in der Bemühung, mit anderen Einwohnern in Kontakt zu kommen. Der Chor aber, der grösstenteils nur noch aus Rentnern besteht, steckt in einer Krise, denn mit Ausnahme des Filmemachers und Protagonisten kommen keine Jungen mehr nach.
Das überrascht Martin Schuler, Professor für Raumentwicklung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), keineswegs. Die traditionellen örtlichen Vereine und Klubs, die einst die Dorfgemeinschaft zusammengekittet hatten, litten jetzt an Überalterung. So sie den überlebt haben. Denn viele Organisationen sind verschwunden, die Jungen sind weggezogen, und jene, die Suberg zu ihrem Wohnort machten, haben andere Interessen und Prioritäten.
«Die Neuzuzüger wohnen dort, weil sie dort ein Haus haben», hält Schuler fest, «für einige von ihnen ist das örtliche Leben nicht attraktiv.» Viele suchen die Bequemlichkeit und ein ruhiges Leben. Und Orte, die in der Nähe von grösseren Zentren liegen, sind deshalb interessant, weil die Grundstückpreise und die Kosten für eine relativ grosse Wohnfläche gerade für Familien noch erschwinglich sind. Dazu kommt die relativ kurze Pendlerstrecke zur Arbeit. Mit dem Zug sind Bern wie Biel von Suberg aus innert 20 Minuten erreichbar.
Trotz der in den letzten Jahren gewonnenen Neuzuzüger gingen laut Schuler viele kleine Begegnungsorte verloren, die erwähnte Post schloss, aber auch das Schulhaus. Sie wurden ersetzt durch grössere Betriebe, die nicht bloss lokale, sondern regionale Bedeutung haben. Dies habe wesentlich zum Verlust des Gemeinsinns beigetragen, so Schuler.
Initiative ergreifen
Eine ähnliche Entwicklung erlebte Avry im Kanton Freiburg. Statt alte Bauernhäuser stehen dort jetzt Einfamilienhäuser, und die meisten der 1800 Einwohner arbeiten ausserhalb der Gemeinde. Dennoch gibt es laut Marc Antoine Messer, Bewohner von Avry und wie Schuler Raumplaner an der ETH Lausanne, einen entscheidenden Unterschied. «Hier sind die Klubs und Vereine sehr aktiv», sagt der Doktorand. Allein der vor neun Jahren Unihockey-Klub hat 200 Mitglieder.
Präsident Michel Müller schaut an einem Montagabend zu, wie sich eine Gruppe von Teenagern in der modernen Turnhalle der lokalen Oberstufenschule für eines der beiden wöchentlichen Trainings aufwärmten. «Wir hatten eine Post, einen Bahnhof, sogar einen Briefträger, der Zeit zu einem Schwatz hatte», so Müller, der seit 15 Jahren in Avry lebt. «Wir haben Glück, dass wir ein Einkaufszentrum haben, aber es ist nicht dasselbe.»
Der aus dem Wallis stammende Müller, der in Bern arbeitet, gründete den Sportklub mit zwei Teams aus jungen Spielern. Heute gibt’s Mannschaften aller Altersgruppen, von Kids bis zu den Erwachsenen. Der Klub habe ihm und seiner Familie wesentlich geholfen, dass sie sich im Ort besser integrieren konnten.
Seit den 1970er-Jahren haben kleine Gemeinden in Zentrumsnähe neue Einwohner angezogen, begünstigt durch Familienautos und bessere Anbindung an den öffentlichen Verkehr.
Dadurch verkürzte sich die Zeit für den Weg zur Arbeit in den Zentren. Das klassische Einfamilienhaus erlebte einen Boom.
Der Bau von Häusern und Strassen frisst in der Schweiz immer noch 1m2 Kulturland pro Sekunde.
Dieser Trend zeigt sich auch in anderen Industrieländern, nur dass dort die Entwicklung früher eingesetzt hatte, etwa in den USA.
Als Folge einer starken Abwanderung der Bevölkerung aufs Land schrumpften die Städte. Erstmals seit den 1960er-Jahren nimmt deren Bevölkerungszahl jetzt wieder zu.
(Quelle: Bundesämter für Statistik und Raumplanung)
«Ich habe viele Leute im Dorf kennengelernt», sagt er und schiebt nach, dass er sich wie viele andere wegen des kurzen Weges nach Bern für den Ort entschieden habe.
Da es kein Dorfzentrum gibt und auch kein Dorfrestaurant, hat der Unihockey-Klub die Funktion eines sozialen Treffpunktes übernommen. «Die Eltern fahren gemeinsam an Turniere, was etwas ganz anderes ist, als wenn sich in der Schule ihrer Kinder treffen», so Müller.
Lokale Identität
Bleibe ein Rest von Gemeinsinn erhalten, könne dies einen einzigen Bürger im Ort motivieren, eine Aktivität zu lancieren, sagt Marc Antoine Messer. Der Trend sei aber ein anderer, nämlich ein genereller Rückzug von Verpflichtungen der Einwohner, sagt der Raumplaner.
«Die Menschen identifizieren sich nicht mehr mit ihrem Dorf», bestätigt Kathrin Gschwend und beklagt, dass Suberg seinen Bewohnern keine kulturellen Attraktionen zu bieten habe. «Und wer sich nicht identifiziert, engagiert sich auch nicht.»
Sie ist überzeugt, dass persönliche Initiativen viel bewirken können. In einer Zuschrift habe ein Bewohner des Nachbardorfes Ziegelried berichtet, dass er mit Nachbarn viermal im Jahr eine Party veranstalte, damit sich dort die Leute treffen und miteinander plaudern könnten.
Um sein Dorf Suberg wieder mit Leben zu füllen, hat Baumann ähnliche Ideen. Die Gemeinde hat ihn eingeladen, in der behördlichen Kommission für Kultur und Sport Einsitz zu nehmen. Dem Filmemacher schwebt ein Openair-Kino vor. Mit seinem Film hat er auch positive Reaktionen bei vielen Subergerinnen und Subergern ausgelöst. Deshalb ist Simon Baumann optimistisch, dass sich in seinem Dorf einiges zum Guten, sprich zum guten Leben wenden wird.
Seine Partnerin Kathrin Gschwend bringt es auf den Punkt: «Es ist nicht schön, an einem toten Ort zu leben.»
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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