Und immer wieder diese eine Frage: «Wieso gerade ich?»
Namhafte Kriminologinnen und Strafjustiz-Experten plädieren dafür, Begegnungen zwischen Opfern und Tätern zu ermöglichen, um Gewaltopfer bei der Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrung zu unterstützen. Dieser Ansatz soll nun auch in der Schweiz zur Anwendung kommen.
Am späten Nachmittag des 15. Januars 1995 macht sich Postmitarbeiterin Katherine* in Grüningen (ZH) daran, die Poststelle zu schliessen, als sie von drei maskierten Männern überfallen wird. Mit einer Pistole an der Schläfe wird Katherine* – zusammen mit ihren Kollegen – gefesselt und geknebelt. «Ich habe geschrien und bekam Angst. Ich habe gedacht, dass ich da nicht mehr lebendig herauskomme. Ich dachte wirklich, es sei Schluss», berichtet sie später im Deutschschweizer Fernsehen SRFExterner Link.
Wenige Minuten nach dem Überfall flüchten die Täter mit einer Beute von 50’000 Franken. Für Katherine* aber werden wenige Sekunden zu Jahren. Zu Jahren der Angst und des Leidens, in denen sie immer wieder von Albträumen heimgesucht wird.
«Nach einem Verbrechen wird das Leben nie mehr wie vorher», betont die Kriminologin Claudia Christen, der es ein Anliegen ist, eine neue Form von Justiz in unserem Land einzuführen.
Was habe ich falsch gemacht?
«Die traditionelle, sogenannt retributive Justiz ist ausschliesslich auf die Bestrafung des Täters ausgerichtet. Das Opfer hingegen geht oft vergessen. Es bekommt keine Gelegenheit, seine Geschichte zu erzählen, seine Emotionen auszudrücken. Am Ende des Verfahrens steht es mit seinem Schmerz und seinen Ängsten allein da», sagt Claudia Christen, selbst ein Gewaltopfer. Bei der restaurativen Justiz hingegen stehen das Erleben und das Leiden des Opfers im Vordergrund.
«Warum gerade ich? Was habe ich falsch gemacht?» Dies sind laut Claudia Christen zwei der häufigsten Fragen, die sich Opfer stellen. «Fragen, die ihnen ausser dem Täter niemand beantworten kann.» Für die Gründerin des Schweizer Forums für Restaurative Justiz Swiss RJ ForumExterner Link werden die Begegnung und Konfrontation mit dem Straftäter daher zu einer entscheidenden Etappe der posttraumatischen Stressbewältigung.
«Oft ist das Opfer nicht auf Rache oder Entschädigungen aus, sondern möchte mehr Sicherheit für sich selbst und andere. Für den einzelnen Menschen ist es oft wichtiger zu sehen, dass dem Täter bewusst wird, was er getan hat, dass er seine Reue zum Ausdruck bringt und etwas Konkretes unternimmt, um einen Rückfall zu verhindern», so die Kriminologin.
Pionierprojekt in Lenzburg
Christen erinnert daran, dass der Ansatz, eine Begegnung zwischen Opfer und Täter herbeizuführen, uralt und in den meisten Kulturen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zu finden ist. «In der westlichen Welt, insbesondere in Europa, ist dieses Vorgehen jedoch – auch wegen der ‹Verprofessionalisierung› der Justiz mit immer mehr Anwälten und Richtern – verlorengegangen.»
Nach einer Ausbildung in den USA und einer Arbeitserfahrung in Chile, wo sie mit der Organisation Prison FellowshipExterner Link zusammengearbeitet hat, möchte die Kriminologin die restaurative Justiz nun auch in der Schweiz einführen. Kanada führte diese Methode als erstes westliches Land wieder ein, und heute wird sie in einigen europäischen Ländern – unter ihnen Deutschland, Belgien, Österreich, Nordirland und Italien – praktiziert.
2017 hat Claudia Christen mit Erfolg ein Pilotprojekt in der Strafvollzugsanstalt Lenzburg (Kanton Aargau) ins Leben gerufen. Das Projekt, heute bereits integrierender Bestandteil des Gefängnisprogramms, sieht zweimal pro Jahr mehrere Begegnungen zwischen Opfern und Tätern vor, zwischen denen keine direkte Verbindung besteht.
Im Gefängnis von Lenzburg hat auch die ehemalige Postangestellte Katherine* Antworten auf ihre Fragen erhalten. Und vor allem loslassen können. «Als ich Fragen zum Überfall stellen konnte, wurde mir leichter ums Herz. Wenn auch nur ein Täter realisiert, dass Opfer leiden und er dadurch nicht mehr rückfällig wird, dann hat sich mein Einsatz gelohnt», sagt sie.
«Wir sind keine Tiere»
In einer Reihe von Beiträgen über die restaurative Justiz hat das Westschweizer Radio RTS Aussagen von Straftätern gesammelt, die im Gefängnis Lenzburg an Begegnungen mit Opfern teilgenommen haben. Hier eine Auswahl:
«Ich fühlte mich schuldig und für mich war es eine Gelegenheit, Opfer zu treffen und mich bei ihnen zu entschuldigen. Ich wollte auch zeigen, dass wir keine Tiere sind, auch wenn wir manchmal Mist bauen.»
«Unsereiner sieht nur die Chance, an Geld zu kommen. Was danach mit den Opfern passiert, sehen wir nicht. Die restaurative Justiz bringt uns zum Nachdenken. Ich habe die Opfer gesehen, und das hat mich berührt. Ich habe gespürt, welche Last sie mit sich herumtragen. Wir sind schliesslich immer noch Menschen.»
«Ich finde das Projekt super. Zehn Jahre war ich in einer Therapie und habe an verschiedenen Rehabilitationsprogrammen teilgenommen, in denen man sich in die Opfer hineinversetzt. Aber das alles hat nicht so viel ausgelöst, wie wenn man einem Opfer zuhört, während es erzählt, was es durchgemacht hat. Das geht tief.«
Mitgefühl wirkt auch präventiv
Die Äusserung von Katherine* lässt erkennen, dass der restaurative Prozess auch im Täter etwas auslöst. «Durch die Konfrontation mit dem Opfer wird ihm bewusst, was er getan hat und dass beispielsweise ein Raubüberfall von fünf Minuten bei Angestellten jahrzehntelange Auswirkungen haben kann», sagt Christen.
Wer gegenüber den Opfern Empathie entwickle, so die Kriminologin weiter, tendiere weniger dazu, die Straftat erneut zu begehen. «Verschiedene Studien zeigen einen signifikanten Rückgang der Rückfallquote, je nach Fall um 14 bis 18 Prozent.»
Nach Aussagen der Leiterin des Swiss RJ Forums lässt sich der restaurative Ansatz auf alle Straftaten, auch schwerste Verbrechen, anwenden. Sie präzisiert: «Die Grenzen liegen in der langen Vorbereitung. Es geht um einen Prozess auf freiwilliger Basis, bei dem es klare Spielregeln gibt. Alle Beteiligten müssen angemessen vorbereitet werden.»
Wachsendes Interesse in der Schweiz
Obschon man im Ausland mit der Methode beste Erfahrungen gemacht hat und der Europarat den EU-Mitgliedstaaten empfiehltExterner Link, diesen Ansatz zu nutzen und weiterzuentwickeln, stösst die restaurative Justiz in der Schweiz noch auf Hindernisse
«Diese Möglichkeit ist noch wenig bekannt und läuft vor allem dem gegenwärtigen Sicherheits- und Strafdenken zuwider», bedauert Nicolas Queloz, Professor für Strafrecht an der Universität Freiburg, in einem Interview mit der Onlinezeitung Le Matin.
Die Präsidentin der Vereinigung für restaurative Justiz in der Schweiz AJURESExterner Link, Camille Perrier Depeursinge, stellt ihrerseits fest, dass auf Seiten der Politik «ziemlich stark» auf die Bremse getreten werde. Ende 2018 wurde ein PostulatExterner Link eingereicht, mit dem der Bundesrat gebeten wurde, eine Integration der Wiedergutmachungsjustiz in unsere Rechtsordnung zu prüfen. Der Vorstoss wurde vom Bundesrat angenommen, von mehreren Parlamentariern jedoch bekämpft.
Claudia Christen denkt indessen nicht ans Aufgeben. Sie nimmt auch hierzulande ein «wachsendes» Interesse wahr. So hat die Strafanstalt Bostadel (ZG) bereits eine Begegnung organisiert.
Wenn es nach ihr ginge, sollte die restaurative Justiz Teil des Schweizer Justizapparats werden. «Sie kann die traditionelle Justiz nicht vollständig ersetzen, ist aber alleweil eine valable Alternative.»
*Name anonymisiert
(Übertragung aus dem Italienischen: Cornelia Schlegel)
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