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Mit Frau Lokführerin durch die Schweiz

Train driver Lea Steppacher
Fährt schwerste Gefährte mit einem Lächeln: SBB-Lokführerin Lea Steppacher. Susan Misicka/swissinfo.ch

In der Führerkabine eines Schweizer Zuges sitzen und durchs Land brausen – ein Traumjob! Das gilt für eine Frau, die sich so schnell nicht aufhalten lässt. Auch nicht von der Perspektive, vielleicht schon bald ersetzt zu werden – durch führerlose Züge.

Der Kaffeeautomat im Pausenraum hat Flausen – als die Tasse halbvoll ist, streikt er. Kein Problem, so wird kein Gang auf die Toilette nötig. Denn ein solcher käme höchst ungelegen. Was aber, wenn der Lokomotivführer dringend mal muss? Oder die Lokomotivführerin?

«Ich schaue, dass ich den Gang zur Toilette vorher mache», lacht Lea Steppacher, sichtlich amüsiert ob der Frage. Aber tatsächlich: Einmal in Fahrt, darf sie ihren Posten im Cockpit nicht mehr verlassen. Denn sie hat keinen Co-Piloten oder Autopiloten zur Seite, der wie im Flugzeug übernehmen könnte.

Die 36-Jährige arbeitet seit acht Jahren bei den SBB, wie die Schweizerischen Bundesbahnen seit jeher im Volksmund heissen. Und sie liebt ihren Job wie am ersten Tag, vor allem in der Morgen- und Abenddämmerung.

«Es gibt nichts Schöneres, als eine Fahrt bei Sonnenauf- oder untergang! Du kannst den Anblick geniessen und wirst erst noch dafür bezahlt», strahlt sie und entschuldigt sich für die heutige Bewölkung. «Bei schönem Wetter wäre die Fahrt von Zürich nach Basel in den blutroten Sonnenuntergang toll geworden», schwärmt sie. Ich aber bin zu aufgeregt, als dass mich das entgangene Schauspiel kümmert. Denn ich habe das Privileg, direkt neben Steppacher zu sitzen – sicher der beste Platz im ganzen Zug. Hier kann ich die Fahrt voll geniessen.

Selbstbewusst und voller Energie, sagt sie, dass ihr Platz der beste sei, denn von dort aus habe sie volle Kontrolle über den Zug. An diesem Abend ist ihr Gefährt eine RE 460, ein Lokomotiven-Klassiker, der für den Pendlerverkehr eingesetzt wird.

«Das Gefühl ist unbeschreiblich: Diesen Zug fahren zu können, seine Geschwindigkeit und die Kraft unter Kontrolle zu haben. Und die Hunderten von Menschen zu sehen, die in den Stosszeiten ein- und aussteigen.» Ihre grünblauen Augen funkeln hinter den Brillengläsern.

Wir nehmen Fahrt auf, und der Ausblick ist grandios: Geleise kommen und gehen links und rechts, Schilder, die ich vorher nie bemerkt habe. Dabei klatschen Regentropfen an die grosse Frontscheibe.

Kindheitstraum

Steppachers Liebe zu Eisenbahnen begann in ihrer Kindheit, genauer: Auf der Zugfahrt mit der Familie ins Engadin, einer wunderschönen Ferienregion in den Südostschweizer Alpen.

«Seit Kindheitstagen waren Züge für mich etwas Besonderes. Sie schienen so viel grösser und schneller, als ich noch klein war. Und es ging immer an einen besonderen Ort.» Damals hatte die Eisenbahn aber noch Konkurrenz: Am Steuerrad eines gelben Postautos zu sitzen war der andere grosse Traum von klein Lea gewesen.

Einige Zeit später studierte sie an der Universität Geschichte und Geographie. Aber nur eine Woche nach ihrem Diplom entdeckte sie ein Inserat, in dem Lokomotivführer und -führerinnen gesucht waren.

«Ich wusste sofort, dass dies für mich war», erzählt sie. «Einer meiner Professoren zog mich auf, indem er sagte, dass ich nun all meine Geographiekenntnisse in die Praxis umsetzen könne!»

Tatsächlich führt sie ihr Beruf durch die ganze Schweiz. Zu ihren Lieblingsrouten gehört aber die Fahrt von ihrem Startbahnhof Basel aus Richtung Jura nach Pruntrut. Und das in einem agilen Zug des Typs Flirt, der vom Schweizer Hersteller Stadler stammt.

«Dort ist die Welt eine ganz andere, denn alles ist so friedlich. Normalerweise hat es Züge zwei Minuten vor und zwei Minuten hinter dir. Im Jura betragen die Lücken zwischen den Zügen 15 Minuten.»

Der Passagier bekommt alles mit

Mit ihrer Ausbildung könnte Steppacher an Gymnasien unterrichten. Aber ihre Qualifikationen sind bei den SBB keineswegs verschwendet, unterrichtet sie doch jedes Jahr Klassen von 12 bis 18 Aspiranten, welche das grösste Schweizer Bahnunternehmen zu Lokomotivführern ausbildet.

«Für sie ist es eine sehr harte und anspruchsvolle Ausbildung, zu der es viel Mut und Verpflichtung braucht», sagt sie. Das bekomme nicht allen, würden doch jedes Jahr ein oder zwei der Anwärter aussteigen.

«Vielleicht mangelt es ihnen an Vertrauen oder sie sind nicht ruhig genug. Alle deine Bewegungen müssen sehr kontrolliert sein, denn die Passagiere spüren alles», erklärt Steppacher. Ihre Bewegungen sind so subtil, dass es für mich nicht nach «Lenken» aussieht. Viele Knöpfe, an denen sie dreht, sehen für mich eher nach Tonstudio aus. Es gibt sogar Fader, nur dass sie Steppacher nicht mit Daumen und Zeigefinger bewegt, sondern mit der ganzen Hand.

«Der riesige Zug lässt sich mit ein paar wenigen, sanften Handbewegungen fahren. Es ist faszinierend und sehr befriedigend.» Einziges sichtbares digitales Instrument ist ein Tabletcomputer. Von Zeit zu Zeit wischt Steppacher über den Bildschirm, um den Verlauf ihrer Fahrt zu bestätigen.

Ihre Füsse ruhen auf dem so genannten Totmannpedal, das einer grossen Bremse ähnelt. Die Einrichtung registriert den Druck ihrer Beine und meldet so dem Kontrollsystem, dass sie lebt. Würden sie oder einer ihrer Kollegen im Führerstand einschlafen oder ohnmächtig, registriert dies das Pedal und leitet eine automatische Bremsung ein.

Ein leiser Ton ist zu hören. «Ich bin hier, Schatz», quittiert Steppacher. «Das ist nur das doppelte Zugkontrollsystem, das meldet, dass mit mir alles in Ordnung ist», erklärt sie.

In jedem grösseren Bahnhof der SBB steht jederzeit ein uniformierter Lokführer bereit für den Fall, dass ein Kollege oder eine Kollegin den Zug nicht mehr fahren kann. Ein Lokführer trete seinen Dienst niemals an, wenn er sich nicht wohl fühle, denn das wäre viel zu riskant, sagt die Frau mit dem freundlichen Lachen und dem langen, blonden Pferdeschwanz.

Sozialleben leidet

Unser Zug wird umgeleitet, so dass die Fahrt zehn Minuten länger dauert als die Stunde, die laut Fahrplan vorgesehen ist. Für mich ist jede Verspätung ein Bonus. Insbesondere jetzt, wo wir entlang von leuchtend gelben Rapsfeldern fahren, unterbrochen von romantischen Kirchen und der Burg-ähnlichen Bierbrauerei von Feldschlösschen.

So begeistert sie über ihren Job ist, er hat auch Schattenseiten, wie jeder Beruf. Etwa die unregelmässigen Einsatzzeiten, welche die Schichtarbeit mit sich bringt.

Damit müsse man umgehen können, denn das soziale Leben sei etwas eingeschränkt. «Insbesondere zu den Freundschaften muss man Sorge tragen.» Steppacher kennt die Situation gut, dass sie die Einladung zu einem Samstagabend ablehnen muss.

Arbeit heisst für sie auch, einen grossen Teil der Zeit alleine im Führerstand zu verbringen. «Es muss dir gefallen, für längere Zeit alleine zu arbeiten. Es ist eine grosse Verantwortung, die dich zwingt, konzentriert zu bleiben.»

Führerlos in die Zukunft

Das Bundesamt für Verkehr prüft ein Projekt zur Einführung von führerlosen Zügen auf der Strecke zwischen Luzern und St. Gallen. Auch die SBB kommt nicht umhin, sich mit dem Thema «Geisterzüge» auseinanderzusetzen.

Aber Steppacher macht das kein Bauchweh. «Von der Technik her kann ich mir nicht vorstellen, wie dies in unserem System funktionieren soll. Aber die Lokomotiven übernehmen schon mehr und mehr meiner Aufgaben.» Andererseits haben die SBB jüngst in eine neue Zugflotte für die nächsten 40 Jahre investiert – mit Lokomotiven, die in der Kabine einen Sitz haben.

Will Steppacher weiterfahren, bis sie in Rente geht? «Ohne weiteres!», antwortet sie. Sie habe viele Kollegen, die diesen Beruf seit über 30 Jahren ausübten und immer noch begeistert seien, trotz aller Änderungen in der Führerkabine.

Falls es ihr trotzdem einmal verleidet, würde sie versuchen, ihren zweiten grossen Kindheitstraum zu verwirklichen: ein Postauto durch das Engadin zu chauffieren. Oder sie würde Lastwagenchauffeurin, hat sie doch jüngst die Prüfung für dreiachsige Camions bestanden. «Ich war immer fasziniert von grossen, schweren Maschinen», lacht sie.

Train driver Lea Steppacher
Lea Steppacher am Ende ihrer Fahrt im Bahnhof Basel. Susan Misicka/swissinfo.ch

Als wir in den Bahnhof Basel einfahren, ist es schon fast dunkel geworden. Der Arbeitstag von Steppacher und der ihres Zuges gehen hier zu Ende. Sie setzt sich ihre schwarze Mütze auf und legt sich den roten Schal um, und kontrolliert ein letztes Mal, ob sie die Kabine so hinterlassen hat, dass ihr Kollege morgen den Zug problemlos übernehmen kann.

Nachdem ich die letzten Fotos geschossen habe, verabschieden wir uns auf dem Perron. Spontan gibt sie mir drei Küsschen auf die Wange, wie es in der Schweiz Brauch ist. Und mir wird auf einmal klar, dass Steppacher genau die Lokführerin ist, die ich mir auf meinen Zugfahrten wünsche.

Kontaktieren Sie die Autorin auf Twitter @SMisickaExterner Link.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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