Trotz Negativschlagzeilen nimmt Zahl der Lawinentoten ab
Gehen Tourenskifahrer in der Schweiz, die sich von der Schönheit der Berge und Pulverschnee verführen lassen, ein grösseres Risiko ein als früher? Oder führen bessere Skiausrüstungen, Wetterprognosen und Ausbildung für Anfänger zu weniger Lawinentoten?
Tiefe Wolken und schwerer Schnee machen Martin bei der Suche zu schaffen. Nach vorne gebeugt und schwer atmend kämpft er sich mit seinem hellgrünen Suchgerät den Berg hoch.
Das regelmässige akustische Signal seines Sendegeräts und der Computerpfeil schicken ihn nach rechts, aber er ist sich nicht sicher. Nach zwei, drei Minuten wird der Ton immer lauter.
«Hier muss es sein», ruft er. Blitzartig klappt er seine Aluminiumsonde auseinander und beginnt damit kreisförmig im Schnee zu stochern. Sekunden später stösst er auf etwas Hartes.
«Gut gemacht, du hast es gefunden», ruft ein Guide aus Verbier, der zuschaut. In diesem Fall war es nicht ein Opfer, auf das Martin gestossen ist, sondern ein Sender, der tief im Schnee auf dem Übungsgelände in Verbier vergraben war.
Glücklicherweise war es für Martin nur eine Übung, eine Möglichkeit für den Jungen, die Ausrüstung auszuprobieren, die sein Vater eben gekauft hatte.
«Martin ist knapp 12 Jahre alt und ein guter Skifahrer. Wenn er 15 oder 16 ist, will er mit Freunden abseits der Piste unterwegs sein, das macht mir Angst», sagt sein Vater Christian Struchen, der in Neuenburg wohnt. «Ich begriff, dass es am besten ist, ihn auszubilden, damit ich mich in Zukunft weniger ängstige.»
Der Westschweizer Skiort Verbier bietet seit mehreren Saisons gratis Lawinenkurse im Gelände an. Die kurzen Lektionen werden laut dem lokalen Bergführer Yann Décaillet immer beliebter.
«Wir stellten fest, dass es auch für 11-Jährige, die es nie zuvor gemacht haben, ziemlich einfach ist. Aber das ist nur ein kleiner Teil der Rettung. Wir beginnen mit der Suche, dann der Sondierung und dem Graben. Der wichtigste und härteste Teil ist das Ausgraben. Um jemanden auszugraben, der einen Meter tief liegt, muss man 1,5 Tonnen Schnee wegräumen», fügt er an.
Einen Tag zuvor mussten in der Region des Grossen St. Bernhard, nur 20 km von Verbier entfernt, fünf italienische Tourenskifahrer ausgegraben werden, die von einer Lawine verschüttet worden waren. Vier von ihnen, zwei Männer und zwei Frauen, starben später im Spital.
Damit stieg die Zahl der Lawinentoten dieser Saison in der Schweiz auf 25. Anfang Februar kamen ein Dutzend Personen innert drei Tagen zu Tode, dies nach heftigem Schneefall und trotz Warnungen, dass das Skifahren ausserhalb der Pisten zu gefährlich sei.
Diese dramatische Zahl von Lawinentoten machte Schlagzeilen. Diese Häufung von Todesfällen ist allerdings irreführend, denn die Statistiken sprechen eine andere Geschichte.
Während die Zahl der Tourenskifahrer und Freerider in den letzten Jahren zugenommen hat – gemäss dem Schweizer Alpen Club (SAC)Externer Link hat sich die Anzahl Tourenskifahrer in den letzten 30 Jahren vervierfacht –, sind die Lawinenunfälle stetig zurückgegangen.
In den letzten 20 Jahren kamen im Durchschnitt pro Jahr 22 Skifahrer und Snowboarder in Lawinen ums Leben, im Vergleich zu 25 in den letzten 77 Jahren.
Wie der Profi-Freerider Dominique PerretExterner Link gegenüber der Zeitung Le Matin Dimanche erklärte, ist nicht der «Modetrend» für die steigenden Zahlen an Fahrern ausserhalb der Pisten verantwortlich, sondern die Billigflüge, welche diesen Sport erschwinglicher machen. «London nach Mont Fort in den Walliser Alpen ist in sechs Stunden möglich», erklärte Perret. «Dies zieht viele Amateure aus nicht-alpinen Ländern an.»
In der Ferne sieht man die Seilbahn, welche in den Wolken verschwindet und Skifahrer aus der ganzen Welt auf den Mont Fort befördert, Leute, die von Couloirs und einsamen Pulverschneekegeln träumen. Vom Gipfel, 3329 m über Meer, haben sie eine spektakuläre Sicht und annähernd sofortigen Zugang zu schier unendlichen Möglichkeiten, abseits markierten Pisten Ski zu fahren.
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Die Rückseite des Mont Fort
Der Schweizer Lawinenexperte und ehemalige Bergführer Werner Munter macht die Mentalität der so genannten «Selfie-Generation» dafür verantwortlich, welche als erste ihre Spuren im unberührten Schnee zurücklassen wolle.
«Es herrscht ein krasser Mangel an Kenntnissen über Lawinengefahr, was dazu führt, dass zu viele Risiken eingegangen werden», sagt der 73-Jährige gegenüber Le Matin.
Der Experte glaubt, dass Lawinensuchgeräte und AirbagsExterner Link den Leuten eine falsche Sicherheit vermittelten. Zudem könnten heute mit den breiten Freeride-Skis auch durchschnittliche Skifahrer steile Hänge hinunterfahren, was früher nur technisch versierte Skifahrer schafften.
Perret hingegen verteidigt die junge Generation: «Die Jungen sind heute im Allgemeinen gut ausgerüstet und recht verantwortungsvoll. Zahlen zeigen, dass eher die 35- bis 55-Jährigen ein Risiko darstellen, und nicht die 18- bis 35-Jährigen.»
Bei den Tourenskifahrern, die am Grossen St. Bernhard starben, und jenen, die im Februar am Piz Vilan im Kanton Graubünden zu Tode kamen, handelte es sich offenbar um erfahrene Leute. Die Gefahrenstufe lag bei 2 resp. 3, auf einer Skala von 5.
Auch Ueli Mosimann, Mitglied der SAC-Fachgruppe Sicherheit im Bergsport, widerspricht der These, dass heutige Tourenfahrer verantwortungsloser seien als früher, das Gegenteil sei der Fall. In einem Artikel der SAC-Zeitschrift «Die Alpen» von letztem Jahr über die Gefahren im Hochgebirgssport schrieb er, dass die tödlichen Risiken auf Skitouren abgenommen hätten: von 11 Todesfällen im Jahr pro 100’000 Personen, welche diese Sportart zwischen 1984-1993 ausübten, auf 4 für die Zeitspanne von 2004-2013.
Er betont, dass Tourenskilauf von Tourenfahrern und Freeridern unterschiedlich ausgeübt werde. «Einige lassen sich mit Skiliften auf den Gipfel befördern und fahren ohne Vorbereitung und ohne die Hänge zu analysieren durch das Schneefeld», sagte er.
Laut seiner Einschätzung sind Skitouren und Bergtouren dank besserer Ausbildung und Information, sicherer Routen, besserer Ausrüstung wie etwa Lawinensuchgeräten und Smartphones sowie schnelleren Rettungsmöglichkeiten und auch Lawinenbulletins viel sicherer geworden.
Lawinen-Zahlen
Bei Lawinenunfällen in der Schweiz kamen in den letzten 10 Jahren insgesamt 227 ums Leben, davon 40% im Kanton Wallis. In der laufenden Saison wurden bislang 25 Todesopfer gezählt.
Gemäss Statistiken überlebt nur eine von zwei Personen, die von einer Lawine völlig verschüttet wurden. Haupttodesursache ist Ersticken. Bereits nach 15 Minuten unter Schnee nimmt die Überlebenschance rapide ab. Deshalb ist es äusserst wichtig, dass die Rettungskräfte rasch vorankommen.
Auch eine Lawine, welche ein Opfer nicht völlig verschüttet, stellt ein hohes Risiko dar: mindestens einer von sieben Todesfällen erfolgt aufgrund schwerer Verletzungen.
90% der Opfer haben die Lawine selber ausgelöst, in 75% handelt es sich um Männer zwischen 20 und 30 Jahren in nicht geführten Gruppen von zwei bis vier Teilnehmern. Die Gefahrenstufen liegen bei Lawinenunfällen bei 3 (57%) oder 2 (31%) auf einer Skala von 5.
Eine Studie des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos aus dem Jahr 2013 ergab, dass bessere Prävention und raschere und effizientere Rettungseinsätze die durchschnittliche Verschüttungszeit reduziert haben.
WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLFExterner Link
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)
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