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«Tsunami schneller als ein Verkehrsflugzeug»

Überflutetes Land und brennende Häuser in der Küstenstadt Sendai, wo der Tsunami riesige Schäden verursacht hat. Keystone

Nach dem Erdbeben hat auch der folgende Tsunami Tod und Verwüstung über Japan gebracht. Einer solchen Riesenwelle könne man nur mit der Flucht an erhöhte Standorte und einem funktionierenden Alarmsystem trotzen, sagt Tsunami-Experte Willi Hager.

Wichtiges Kriterium für eine Rettung möglichst vieler Menschen an den Küsten seien die Geschwindigkeit des Tsunami sowie die Distanz zwischen Epizentrum eines Bebens zur Küste. sagt Hager im Interview gegenüber swissinfo.ch.

Sei diese kurz und die Geschwindigkeit der Welle hoch, bliebe den Menschen auch mit dem besten Frühwarnsystem kaum Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, so der Professor und Impulswellen-Experte an der Versuchsanstalt für Wasserbau/Hydrologie/Glaziologie (VAW) an der ETH Zürich.

swissinfo.ch: Japanische Behörden sprechen vom stärksten Erdbeben seit Beginn der Messungen. Gibt es eine Korrelation von Stärke des Bebens mit der Stärke des Tsunamis, wenn das Epizentrum im Meer liegt?

Willi Hager: Eindeutig. Je stärker das Erdbeben, desto höher können die Wellen eines Tsunamis werden. Ausschlaggebend dafür sind die Risse in der Erdkruste.

swissinfo.ch: Das Epizentrum liegt rund 130 Kilometer vor der japanischen Nordostküste. Spielt die Distanz für Schäden eine Rolle oder können diese weiter entfernt, beispielsweise auf den russischen Inselgruppen Sachalin oder Kamtschatka, grösser sein, je nach Topographie der Küste?

W.H.: Die Topographie spielt im Umfeld des Auflaufens eines Tsunamis eine grosse Rolle. Wenn die Küste steil ist, wird die Welle relativ schnell brechen, hat es wenig Gefälle, laufen die Wellen anders auf. Die Distanz vom Epizentrum eines Bebens zur Küste ist wichtig, es kommt aber wie erwähnt auch stark auf die Topographie des Meeresgrundes an.

swissinfo.ch: Wie schnell bewegt sich eine Flutwelle nach einem solch starken Beben vorwärts?

W.H.: Die Geschwindigkeit eines Tsunamis, in der Fachsprache paradoxerweise Flachwasserwelle genannt, hängt von der lokalen Wassertiefe über dem Meeresboden ab. Sie lässt sich relativ einfach ausrechnen, ist sie doch die Quadratwurzel aus der Erdbeschleunigung, also zehn Meter pro Sekunde im Quadrat, multipliziert mit der lokalen Wassertiefe.

Beträgt die Wassertiefe 100 Meter, ergibt das eine Geschwindigkeit von 33 Metern pro Sekunde oder rund 100 Kilometern pro Stunde. Wäre die Wassertiefe im Extremfall des japanischen Grabens 10’000 Meter, ergäbe sich ein Tsunami, der sich mit 330 Meter pro Sekunde fortbewegt. Das wären dann 1100 Kilometer pro Stunde oder Schallgeschwindigkeit! Bei entsprechender Wassertiefe kann ein Tsunami also schneller sein, als ein Verkehrsflugzeug fliegt.

swissinfo.ch: Die Rettungsdienste im Gebiet Sendai sind angesichts der bis zu zehn Meter hohen Welle offenbar zusammengebrochen. Ist ein Schutz vor einer solchen Riesenwelle überhaupt möglich?

W.H.: Häufig ist der Tsunami auf dem Meer viel weniger hoch als beim Auflaufen auf eine Küste. Das Auflaufen ist der eigentliche Auslöser der Katastrophe, weil sich dann die Welle aufsteilt. Dadurch wird sie viel höher als auf dem offenen Meer. Dort sieht man sie überhaupt nicht, auch wenn sie einige Meter hoch sind, denn Tsunamis haben typischerweise eine Wellenlänge von Hunderten von Kilometern.

Laufen sie aber auf eine Küste auf, stellen sie sich auf, gewinnen dadurch an Höhe und schlagen fatalerweise alles zusammen, was sich ihnen in den Weg stellt. Die einzige Möglichkeit zur Rettung besteht in der Auslösung eines Alarms, worauf sich die Menschen an höher gelegene Standorte, etwa auf einen Hügel, flüchten sollten. In Frage kommen auch Gebäude, aber man muss darauf achten, dass diese genügend stabil gebaut sind. Es gibt also Rettungsmöglichkeiten.

Keine Option ist, sich ins Wasser zu begeben, wie dies Menschen bei der Tsunami-Katastrophe 2004 gemacht hatten. Sie hatten keine Überlebenschancen.

Damals wurde die fatale Wirkung von Glasscheiben und Objekten wie Fahrzeugen, ja selbst von Bäumen sichtbar, welche von der Welle mitgerissen wurden. Sogar im Landesinneren hatten Menschen keine Chance, wenn sie im Wasser von solchen Gegenständen getroffen wurden.

swissinfo.ch: Japan ist in den Ballungszentren sehr dicht besiedelt, Menschen und Industrie sind zusammengepfercht. Atomkraftwerke und Ölraffinerien waren auch vom Erdstoss betroffen. Sind diese lebenswichtigen Infrastrukturen genügend vor Tsunamis geschützt?

W.H.: Für den Schutz der Infrastruktur entlang der Küsten gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Anlagen an einem erhöht gelegenen Standort bauen oder sie mit Dämmen schützen.

swissinfo.ch: Die Tsunami-Frühwarnsysteme wurden seit der Katastrophe von Weihnachten 2004 in der Region modernisiert. Sind sie überall auf dem neusten Stand?

W.H.: Das kann ich nicht genau beurteilen, weil wir in der Schweiz keine spezifische Tsunami-Forschung betreiben. Die Frühwarnsysteme arbeiten aber sehr einfach. Bei Tsunamis bewegt sich das Wasser als eine einzige Säule von der Oberfläche des Meeres bis an den Grund. Deshalb werden zur Tsunami-Frühwarnung Druckgeräte am Meeresgrund installiert. Sensoren melden, sobald der Druck ansteigt. Das bedeutet, dass sich eine Flachwasserwelle bewegt, die bei entsprechender Grösse ein Tsunami sein könnte.

swissinfo.ch: Nützt also das beste Frühwarnsystem nicht viel, wenn das Epizentrum eines derart starken Bebens nah vor der Küste liegt?

W.H.: Nein, denn die Menschen haben dann keine oder nur sehr wenig Zeit, um sich zu retten. Sie brauchen eine Vorwarnzeit von mindestens einigen Minuten.

Die Menschen müssen zudem sehr genau wissen, wie sie sich bei Alarm zu verhalten haben. In Zürich haben wir zweimal jährlich probehalber Wasseralarm. Geht die Sirene, wissen vermutlich alle, dass es ein Problem mit der Sihl gibt. Die Welle auf dem Fluss wäre zwar viel kleiner als ein Tsunami, aber eine auch nur zwei Meter hohe Sihl-Wasserwalze würde am Hauptbahnhof grosse Probleme verursachen. Um nicht zu ertrinken, müsste man einen Standort mindestens im zweiten Stockwerk aufsuchen.

swissinfo.ch: Welche Lehren lassen sich aus dem Ereignis von heute Morgen ziehen?

W.H.: Japan ist sich des Erdbebenrisikos bewusst, Gebäude und Infrastruktur sind viel massiver gebaut als bei uns. Man kann aber keine Riesenmauer bauen, um die Küsten zu schützen. Es gibt nur die eine Möglichkeit, die Bevölkerung zu informieren, ihnen Schutzbauten anzubieten und Rettungsszenarien einzuüben, ähnlich wie früher in der Schweiz in den Zivilschutzübungen. Ohne solche Übungen wird die Panik im Alarmfall gross sein.

Das Erdbeben, das Japan am Freitagmorgen MEZ erschütterte, war mit einer Stärke von 8,8 bis 8,9 das schwerste seit Beginn der Messungen.

Laut der japanischen Nachrichtenagentur Kyodo kamen wahrscheinlich mehr als tausend Menschen ums Leben.

Die Katastrophe wurde durch einen bis zu zehn Meter hohen Tsunami verschlimmert. Dieser traf vor allem die Küste im Nordosten der Hauptinsel.

  

Sorgen bereitet den Menschen in Japan auch ein durch das Beben ausgelöster Störfall in einem AKW in Fukushima. Die Betreiber versuchen derzeit, mehr Wasser in das Kühlsystem zu pumpen.

Gemäss der Umweltorganisation Greenpeace ragen die Brennstäbe bereits zwei Meter aus dem Wasser. Experten befürchten eine Kernschmelze und damit einen GAU, wenn nicht rasch das Kühlsystem wieder funktioniert.

Die Behörden hatten 6000 Anwohner aufgefordert, das Gebiet um das AKW zu verlassen.

Nach japanischen Medienangaben traf inzwischen ein Lastwagen mit dem notwendigen Gerät ein, um das Problem zu beheben.

Japan nimmt für sich in Anspruch, Präventions- und Sicherheits-Vorkehrungen getroffen zu haben, die weit über jene anderer Länder hinausreichen. Trotzdem ist das Land von den Auswirkungen des Bebens überrascht worden. Der ETH-Seismologe Domenico Giardini erklärt dazu gegenüber swissinfo.ch:

«Die Japaner waren davon überzeugt, alle vorbeugenden Massnahmen getroffen zu haben. In diesem Land sind die Erinnerungen an das Erdbeben von Kobe immer noch stark. Seit diesem Ereignis wurden gigantische Programme zur Überwachung, Forschung und rascher Reaktion eingeleitet.»

Ein Teil dieser Massnahmen habe funktioniert. Die Überraschung nach diesem Erdbeben sei wohl deshalb so gross, weil es stärker war als alles, was bisher vorausgesagt wurde, so Giardini.

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