Die «unerwünschte» türkische Einwanderung in die Schweiz
Hüseyin Yavas (1.v.l.) und seine Freunde mit dem legendären blauen Käfer im Schwimmbad. Brugg, AG, ca. 1964.
Privatfotografie: Familie Yavaş
Sie ist weniger bekannt als die italienische oder spanische Immigration – doch die türkische Einwanderung trug ebenfalls zum wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsschweiz bei. Eine Ausstellung lüftet den Schleier über dem Leben dieser Menschen zwischen Aufnahme und Diskriminierung.
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Als Bundeshauskorrespondentin für SWI swissinfo.ch entschlüssele ich die Bundespolitik für die Auslandschweizer:innen.
Nach meinem Studium an der Académie du journalisme et des médias der Universität Neuenburg führte mich mein beruflicher Weg zunächst zu verschiedenen Regionalmedien, darunter die Redaktionen des Journal du Jura, von Canal 3 und Radio Jura bernois. Seit 2015 arbeite ich in der mehrsprachigen Redaktion von SWI swissinfo.ch, wo ich meine Arbeit nach wie vor mit Leidenschaft ausübe.
Thomas Kern wurde 1965 in der Schweiz geboren. Er wurde in Zürich zum Fotografen ausgebildet und begann 1989 als Fotojournalist zu arbeiten. 1990 Mitbegründer der Schweizer Fotografenagentur Lookat Photos. Thomas Kern hat zweimal einen World Press Award gewonnen und wurde in der Schweiz mit mehreren nationalen Stipendien ausgezeichnet. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgestellt und sind in verschiedenen Sammlungen vertreten.
«Ich sagte meinem Freund Sabit, er solle mich in einem Boot über den Fluss bringen, weil ich vor meiner Abreise niemanden mehr treffen wollte. Sie hätten mich nicht gehen lassen!»
Hüseyin Yavas erzählt von seiner Ausreise aus der Türkei in die Schweiz, die für ihn eine Befreiung, aber auch eine Zerrissenheit bedeutete. Er ist einer von Tausenden von Männern, die in den 1960er-Jahren auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben dem Ruf grosser Schweizer Unternehmen gefolgt sind.
Unter dem Titel «Und dann fing das Leben an» hat sie gemeinsam mit der Kuratorin und Ethnologin Gaby Fierz Fotografien aus Familienalben und Dokumente zusammengetragen und mit 30 Personen Oral History Interviews geführt, die nun als Tondokumente in der Ausstellung zu hören sind.
Ibrahim Kıran und Hüseyin Yavas in der Graugiesserei Georg Fischer AG, Brugg, AG, Mitte 1960er-Jahre.
Privatfotografie: Familie Yavaş.
Ende 1960er-Jahre. Die älteren Brüder und Cousinen von Cahit Yurtsever besuchten den Arbeitsort ihrer Väter. Brugg, AG.
Privatfotografie: Familie Yurtsever.
Ibrahim Kıran in der Arbeiterunterkunft der Georg Fischer. Brugg, AG, 1964.
Privatfotografie: Filiz Kolcu.
Cevdet und Oya Recan beim Skifahren, 1972.
Privatfotografie: Familie Recan.
Familie Sarkany, Nachbarn von Yavas› in der «Reutenen» mit Freundinnen und Freunden auf einem Ausflug zum Rheinfall in Schaffhausen.
Privatfotografie: Familie Sarkany
Hüseyin Yavas zeigt seine Kraft im Schwimmbad. Brugg, AG, ca. 1964.
Privatfotografie: Familie Yavaş
Ayse Yavas, als sie zum ersten Mal zu ihrer Tante Sude verschickt wurde. Istanbul, 1971.
Privatfotografie: Familie Yavaş
Nesteren Tural feiert mit Freundinnen und Freunden ihren 10. Geburtstag. Birr, AG, 1982.
Privatfotografie: Nesteren Tural.
Gökşin Varan in der Wohnsiedlung «In den Wyden». Birr, AG, 1982.
Privatfotografie: Familie Varan.
Rast auf der Fahrt in die Türkei. 1970er-Jahre.
Privatfotografie: Familie Yeşiltepe
Familie Yavas im Zug auf der Fahrt nach Istanbul. Ca. 1980.
Privatfotografie: Familie Yavaş
Elif und Peri La Roche vor der Schiffüberfahrt nach Igoumenitsa auf der Fahrt nach Istanbul. Ancona, Italien, 2015.
Familie Yavas
Die Familie Recan feiert Weihnachten, was ihre türkischen Nachbarn als Abwendung von ihrem kulturellen Selbstverständnis empfanden. Birr, 1990.
Privatfotografie: Familie Recan
Die Familie Yurtsever baut ein mehrstöckiges Mehrfamilienhaus. Dogancılı, Schwarzes Meer, 1982/1983.
Privatfotografie: Familie Yurtsever.
Nesteren in der Kindergartenklasse von Philipp Burger in der Wohnsiedlung «In den Wyden». Birr, AG, 1976.
Privatfotografie: Nesteren Tural
Ayse Yavas während eines Schullagers in der 2./3. Sekundarschule,1983.
Privatfotografie: AyseYavas
Ercan Recan in der 3. Klasse der Bezirkschule. Windisch, AG, 1990.
Privatfotografie: Ercan Recan
Margrit Zimmermann und Hamdi Ulukurt an einem Tanzfest. Fotorückseite: «In der Hoffnung an eine glückliche gemeinsame Zukunft.» Baden, AG, 1964.
Privatfotografie: Margrit Zimmermann
Das junge Paar Ümmügül und Muharrem Varan in der Türkei. Babaeski, Kırklareli, 1973.
Privatfotografie: Familie Varan
Meryem und Hüseyin Yavas heiraten ein zweites Mal. Die Schweiz hat ihre Heiratsurkunde in der Türkei nicht anerkannt. Brugg, AG, 1971.
Privatfotografie: Atiye und Ahmet Yavaş
Die Interviewpartner berichten über ihre Erfahrungen zu verschiedenen Themen wie Arbeit, Schule, Freizeit, Liebe und vieles mehr. Neben den persönlichen Schicksalen beleuchtet die Arbeit von Yavas und der Ethnologin Gaby FierzExterner Link auch ein wenig bekanntes Kapitel der Schweizer Immigration.
Nicht erwünscht, aber angeworben
Hüseyin Yavas, der Vater der Fotografin, entschied sich eher zufällig für die Einwanderung in die Schweiz. Er kam 1963 am Bahnhof von Brugg im Kanton Aargau an, um in der Industrie zu arbeiten. In den folgenden Jahren vermittelte er 70 Landsmännern Arbeit in Unternehmen im Kanton. Seine Geschichte zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung.
Die Ausstellung
«Und dann fing das Leben an» – eine biografisch-fotografische Recherche in der Schweiz und der Türkei, findet im Foyer des Stadtmuseums AarauExterner Link statt. Der Eintritt ist kostenlos.
Die interaktive Ausstellung wurde bis zum 12. Juni 2022 verlängert. In einer nächsten Etappe im Herbst wird sie in der Photobastei Externer Linkin Zürich gezeigt.
Sie beleuchtet auch die Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus der Türkei, die nur in die Schweiz einreisen konnten, wenn sie bereits einen Arbeitsplatz oder eine Aufenthaltsgenehmigung hatten.
Im Gegensatz zu Deutschland, das ab 1961 Hunderttausenden von Türkinnen und Türken die Tür öffnete, hatte die Schweiz nie ein Anwerbeabkommen mit der Türkei geschlossen. Mit Italien und Spanien hingegen hatte sie bereits 1946 und 1961 ein solches Abkommen unterzeichnet.
Die Kultur und die Religion seien zu fremd, argumentierte die Gegnerschaft. «Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit türkischer Staatsangehörigkeit waren in der Schweiz offiziell nicht erwünscht, sondern wurden von den Unternehmen gezielt angeworben», sagen Yavas und Fierz.
Gaby Fierz im Gespräch mit Ayse Yavas.
Auch die öffentliche Meinung sah die Ankunft dieser Gruppe von Menschen nicht gerne. Man sprach von «Überfremdung» oder dem «Türkenproblem». Dieses Bild verbesserte sich auch in den 1980er-Jahren nicht, als immer mehr politische Aktivistinnen, Aktivisten und Angehörige der kurdischen Minderheit bei der Eidgenossenschaft um Asyl ersuchten. Sie wurden als «falsche Asylsuchende» bezeichnet.
Zwischen Gastfreundschaft und Diskriminierung
Die Schweizerinnen und Schweizer zeigten sich jedoch auch gastfreundlich. «Wer es sich leisten konnte, mietete ein Zimmer bei Schweizern», erzählt Meryem Yavas, Hüseyins Frau. Sie erinnert sich, dass sie gut aufgenommen wurde. Als das Paar eine Familie gründen wollte, war die Botschaft jedoch klar: «Für Kinder haben wir keinen Platz.»
Auch die Wohnungssuche war damals für Menschen mit Migrationshintergrund nicht einfach. Rassismuserfahrungen waren keine Seltenheit. «Manche Immobilienverwaltungen warnten: Ausländer nicht willkommen», erzählt Murat Muharrem Varan in der Ausstellung.
Kinder, von ihren Eltern getrennt
Ayse Yavas und Gaby Fierz beleuchten auch die schmerzhaften Trennungserfahrungen, die manche Familien gemacht haben. In der Schweiz fanden viele Immigrantinnen und Immigranten keine Möglichkeit, ihre Kinder während der Arbeitszeit betreuen zu lassen, da die Betreuungsmöglichkeiten zu teuer waren. Deshalb wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren viele Kinder in der Türkei von ihren Familien betreut, manchmal während mehreren Jahren.
Auch Kinder türkischer Herkunft, die in der Schweiz zur Schule gingen, machten Erfahrungen mit Ablehnung. In der Ausstellung erzählt eine Frau unter anderem, dass sie, als in ihrer Klasse das Verschwinden einer Halskette gemeldet wurde, sofort des Diebstahls verdächtigt wurde. Als sich herausstellte, dass dies nicht der Fall war, entschuldigte sich niemand bei ihr.
Starke Verbindungen
«Sie waren attraktiver, gepflegter und eleganter als unsere Schweizer Männer», erinnert sich Margrit Zimmermann, die Hamdi Ulukurt heiratete, einen jungen Türken, der zum Arbeiten in den Kanton Aargau gekommen war.
Sie erzählt in der Ausstellung von den ersten Blicken, die im Schwimmbad ausgetauscht wurden, damals der Treffpunkt der jungen Leute. Während binationale Ehen in der Schweiz heute etwa die Hälfte aller Verbindungen ausmachen, waren sie damals sehr selten.
Jenseits von Diskriminierungserfahrungen haben Schweizerinnen und Schweizer mit den Eingewanderten starke Bindungen aufgebaut. Derzeit leben 130’000 Menschen türkischer Herkunft in der Schweiz, von denen fast die Hälfte eingebürgert wurde.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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