Die «unerwünschte» türkische Einwanderung in die Schweiz
Sie ist weniger bekannt als die italienische oder spanische Immigration – doch die türkische Einwanderung trug ebenfalls zum wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsschweiz bei. Eine Ausstellung lüftet den Schleier über dem Leben dieser Menschen zwischen Aufnahme und Diskriminierung.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
6 Minuten
Als Journalistin mit Sitz in Bern interessiere ich mich besonders für gesellschaftliche Themen, aber auch für Politik und soziale Medien. Zuvor hatte ich für regionale Medien gearbeitet, auf den Redaktionen des Journal du Jura und von Radio Jura Bernois.
Thomas Kern wurde 1965 in der Schweiz geboren. Er wurde in Zürich zum Fotografen ausgebildet und begann 1989 als Fotojournalist zu arbeiten. 1990 Mitbegründer der Schweizer Fotografenagentur Lookat Photos. Thomas Kern hat zweimal einen World Press Award gewonnen und wurde in der Schweiz mit mehreren nationalen Stipendien ausgezeichnet. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgestellt und sind in verschiedenen Sammlungen vertreten.
«Ich sagte meinem Freund Sabit, er solle mich in einem Boot über den Fluss bringen, weil ich vor meiner Abreise niemanden mehr treffen wollte. Sie hätten mich nicht gehen lassen!»
Hüseyin Yavas erzählt von seiner Ausreise aus der Türkei in die Schweiz, die für ihn eine Befreiung, aber auch eine Zerrissenheit bedeutete. Er ist einer von Tausenden von Männern, die in den 1960er-Jahren auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben dem Ruf grosser Schweizer Unternehmen gefolgt sind.
Unter dem Titel «Und dann fing das Leben an» hat sie gemeinsam mit der Kuratorin und Ethnologin Gaby Fierz Fotografien aus Familienalben und Dokumente zusammengetragen und mit 30 Personen Oral History Interviews geführt, die nun als Tondokumente in der Ausstellung zu hören sind.
Die Interviewpartner berichten über ihre Erfahrungen zu verschiedenen Themen wie Arbeit, Schule, Freizeit, Liebe und vieles mehr. Neben den persönlichen Schicksalen beleuchtet die Arbeit von Yavas und der Ethnologin Gaby FierzExterner Link auch ein wenig bekanntes Kapitel der Schweizer Immigration.
Nicht erwünscht, aber angeworben
Hüseyin Yavas, der Vater der Fotografin, entschied sich eher zufällig für die Einwanderung in die Schweiz. Er kam 1963 am Bahnhof von Brugg im Kanton Aargau an, um in der Industrie zu arbeiten. In den folgenden Jahren vermittelte er 70 Landsmännern Arbeit in Unternehmen im Kanton. Seine Geschichte zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung.
Die Ausstellung
«Und dann fing das Leben an» – eine biografisch-fotografische Recherche in der Schweiz und der Türkei, findet im Foyer des Stadtmuseums AarauExterner Link statt. Der Eintritt ist kostenlos.
Die interaktive Ausstellung wurde bis zum 12. Juni 2022 verlängert. In einer nächsten Etappe im Herbst wird sie in der Photobastei Externer Linkin Zürich gezeigt.
Sie beleuchtet auch die Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus der Türkei, die nur in die Schweiz einreisen konnten, wenn sie bereits einen Arbeitsplatz oder eine Aufenthaltsgenehmigung hatten.
Im Gegensatz zu Deutschland, das ab 1961 Hunderttausenden von Türkinnen und Türken die Tür öffnete, hatte die Schweiz nie ein Anwerbeabkommen mit der Türkei geschlossen. Mit Italien und Spanien hingegen hatte sie bereits 1946 und 1961 ein solches Abkommen unterzeichnet.
Die Kultur und die Religion seien zu fremd, argumentierte die Gegnerschaft. «Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit türkischer Staatsangehörigkeit waren in der Schweiz offiziell nicht erwünscht, sondern wurden von den Unternehmen gezielt angeworben», sagen Yavas und Fierz.
Auch die öffentliche Meinung sah die Ankunft dieser Gruppe von Menschen nicht gerne. Man sprach von «Überfremdung» oder dem «Türkenproblem». Dieses Bild verbesserte sich auch in den 1980er-Jahren nicht, als immer mehr politische Aktivistinnen, Aktivisten und Angehörige der kurdischen Minderheit bei der Eidgenossenschaft um Asyl ersuchten. Sie wurden als «falsche Asylsuchende» bezeichnet.
Zwischen Gastfreundschaft und Diskriminierung
Die Schweizerinnen und Schweizer zeigten sich jedoch auch gastfreundlich. «Wer es sich leisten konnte, mietete ein Zimmer bei Schweizern», erzählt Meryem Yavas, Hüseyins Frau. Sie erinnert sich, dass sie gut aufgenommen wurde. Als das Paar eine Familie gründen wollte, war die Botschaft jedoch klar: «Für Kinder haben wir keinen Platz.»
Auch die Wohnungssuche war damals für Menschen mit Migrationshintergrund nicht einfach. Rassismuserfahrungen waren keine Seltenheit. «Manche Immobilienverwaltungen warnten: Ausländer nicht willkommen», erzählt Murat Muharrem Varan in der Ausstellung.
Kinder, von ihren Eltern getrennt
Ayse Yavas und Gaby Fierz beleuchten auch die schmerzhaften Trennungserfahrungen, die manche Familien gemacht haben. In der Schweiz fanden viele Immigrantinnen und Immigranten keine Möglichkeit, ihre Kinder während der Arbeitszeit betreuen zu lassen, da die Betreuungsmöglichkeiten zu teuer waren. Deshalb wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren viele Kinder in der Türkei von ihren Familien betreut, manchmal während mehreren Jahren.
Auch Kinder türkischer Herkunft, die in der Schweiz zur Schule gingen, machten Erfahrungen mit Ablehnung. In der Ausstellung erzählt eine Frau unter anderem, dass sie, als in ihrer Klasse das Verschwinden einer Halskette gemeldet wurde, sofort des Diebstahls verdächtigt wurde. Als sich herausstellte, dass dies nicht der Fall war, entschuldigte sich niemand bei ihr.
Starke Verbindungen
«Sie waren attraktiver, gepflegter und eleganter als unsere Schweizer Männer», erinnert sich Margrit Zimmermann, die Hamdi Ulukurt heiratete, einen jungen Türken, der zum Arbeiten in den Kanton Aargau gekommen war.
Sie erzählt in der Ausstellung von den ersten Blicken, die im Schwimmbad ausgetauscht wurden, damals der Treffpunkt der jungen Leute. Während binationale Ehen in der Schweiz heute etwa die Hälfte aller Verbindungen ausmachen, waren sie damals sehr selten.
Jenseits von Diskriminierungserfahrungen haben Schweizerinnen und Schweizer mit den Eingewanderten starke Bindungen aufgebaut. Derzeit leben 130’000 Menschen türkischer Herkunft in der Schweiz, von denen fast die Hälfte eingebürgert wurde.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch
Mehr lesen
Mehr
Latifa Echakhch: «Was höre ich, wenn es wieder still ist?»
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Latifa Echakhch vertritt die Schweiz an der Biennale in Venedig. Ein Gespräch über Identität und Skulpturen aus Zeit.
Die Schweiz gehört zu den Ländern mit den höchsten Anteilen an ausländischen Bewohnern. Der Grossteil dieser Menschen stammt aus Europa. In der letzten Zeit lockten vor allem die gesunde Wirtschaft des Landes und die Einführung des freien Personenverkehrs Arbeitskräfte in die Schweiz. Dass der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz besonders hoch ist, liegt aber auch daran, dass das Land strenge Einbürgerungs-Richtlinien hat.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
50 Jahre Schwarzenbach-Initiative gegen Italiener in der Schweiz – sie war der Auftakt zum politischen Narrativ "Wir und die Fremden".
Als Schweizerinnen und Schweizer als Hausangestellte nach Frankreich auswanderten
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Sowohl in Paris als auch in Marseille sind Schweizer Hausangestellte im 19. Jahrhundert sehr beliebt. Die Arbeit ist hart.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Nach dem Zweiten Weltkrieg, mitten im Wirtschaftsboom, herrschte in der Schweiz Mangel an Arbeitskräften. Aus diesem Grund beschloss sie, ausländische Arbeiter zu holen und unterzeichnete 1948 einen Rekrutierungsvertrag mit Italien. Das Ziel der Schweiz war klar: Die Zahl der Arbeitskräfte erhöhen, gleichzeitig aber verhindern, dass diese Leute sich dauerhaft niederliessen. Die Vorschriften waren hart: Die…
Ihr Abonnement konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuchen Sie es erneut.
Fast fertig... Wir müssen Ihre E-Mail-Adresse bestätigen. Um den Anmeldeprozess zu beenden, klicken Sie bitte den Link in der E-Mail an, die wir Ihnen geschickt haben.
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch