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Unermüdliche Kämpferin für Gleichberechtigung

Marthe Gosteli ist mit 94 immer noch in ihrem Archiv zur Geschichte der Schweizer Frauenbewegung tätig. Elsbeth Boss

Am 10. Dezember hat die Bernerin Marthe Gosteli den Preis der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte erhalten. Die 94-Jährige, eine der profiliertesten bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, setzt sich immer noch für die Gleichberechtigung ein.

Trotz ihres hohen Alters ist Marthe Gosteli, die den Menschenrechtspreis zusammen mit der ehemaligen Berner Geschichtsprofessorin Beatrix Mesmer erhielt, noch immer im Gosteli-Archiv zur Geschichte der Schweizer Frauenbewegung aktiv, «obwohl es mich eigentlich nicht mehr braucht», wie sie gegenüber swissinfo.ch lachend sagt.

Sie habe sich lange genug für die Frauenbewegung in der Schweiz eingesetzt, die sie als «eine der grössten Freiheitsbewegungen des letzten Jahrhunderts» bezeichnet. «Und sie war erst noch unblutig.»

Schon als Mädchen interessiert

Marthe Gosteli ist in einer Bauernfamilie aufgewachsen, in der immer viel über Politik gesprochen worden sei. Der Grossvater sei Grossrat (in der grossen Parlamentskammer im Kanton Bern) gewesen, und der Vater habe sich, «auf bürgerlicher Seite», politisch sehr engagiert.

Die Mutter habe sich über ihre rechtliche Stellung in der Ehe aufgeregt, «obwohl mein Vater kein Macho war». Die Stellung der verheirateten Frauen sei damals in der Schweiz «wirklich eine dramatische Angelegenheit» gewesen. Das sei der Auslöser ihres lebenslangen Engagements für die Gleichberechtigung der Frauen gewesen.

Als Suffragette verschrien

Als Marthe Gosteli etwa um 1940 in die Frauenbewegung kam, erkannte sie, dass bereits viel Vorarbeit geleistet worden war. «Wir hatten schon im 19. Jahrhundert Vorkämpferinnen, nur war die Quellenlage zu dieser frühen Frauenbewegung sehr schlecht.»

Als Suffragetten bezeichnete man Anfang des 20. Jahrhunderts die mehr oder weniger organisierten radikalen Frauenrechtlerinnen. «Auch ich war noch als Suffragette verschrien», erinnert sich Gosteli. Frauengeschichte wecke halt Emotionen. «Ich habe in meinem Leben von der höchsten Ehre bis zur bittersten Verleumdung schon alles erfahren.»

Gegen die so genannten Frauenrechtlerinnen, die manchmal vielleicht ein bisschen militant gewesen seien und nicht geschickt operiert hätten, habe sich Opposition, «nicht nur männliche», entwickelt. In der damaligen Gesellschaft sei es nicht üblich gewesen, dass Frauen gleiche Rechte hatten wie die Männer.

Meilenstein Frauenstimmrecht

Bis zur Einführung des Schweizer Frauenstimmrechts 1971 brauchte es über 50 Abstimmungen – der Männer. Bis dahin sei unendlich viel Überzeugungsarbeit geleistet worden, betont Marthe Gosteli.

Die Abstimmungskampagne der Gegner sei heftig gewesen, sagt sie und erwähnt vor allem die zahlreichen derben Plakate. Eines ist legendär: Es zeigt eine von Warzen übersäte Frau mit überlangen Fingernägeln als Schreckgespenst.

Erstaunt hat Marthe Gosteli, dass es in dieser Gegenbewegung viele Akademikerinnen gab, «obwohl sie dank der frühen Frauenbewegung überhaupt studieren konnten».

Das Ja von 1971 sei zweifellos ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung gewesen. Der ganze Kampf für das Frauenstimmrecht sei aber zermürbend gewesen und habe sie derart müde gemacht, dass der Tag des Abstimmungssieges «zwar eine Erlösung war, aber es entstand keine jauchzende Freude», so Gosteli. «Wir waren einfach glücklich, dass wir gewonnen hatten.»

Verschiedene Methoden

Beim Frauenstreik für Lohngleichheit 1991, der von der «neuen» Frauenbewegung – junge linke Feministinnen – organisiert worden war, war auch die bürgerliche Grand Old Lady der Frauenrechtlerinnen dabei. «Ich war eingeladen worden», sagt Marthe Gosteli.

Der Frauenstreik sei eine neue Methode des Kampfes für Gleichberechtigung gewesen. «Meine Methode des Kampfes zusammen mit den Pionierinnen der Frauenbewegung war eine andere: Sie basierte auf Aufklärungsarbeit, Schulung, Bildung, also auf längerfristiger Arbeit.»

Der Wissenstand der Frauen in staatsbürgerlichen und geschichtlichen Bereichen sei damals kläglich gewesen, betont Gosteli. «Auf dem Land zum Beispiel wussten die Frauen nicht einmal, wie eine Gemeinde funktioniert.»

Keine Quotenfrau

Der Frauenstreik vor 20 Jahren hat für Marthe Gosteli «so wahnsinnig viel auch nicht gebracht». Heute sei die Lohngleichheit für Frauen und Männer immer noch nicht erreicht, und Frauen in Führungspositionen seien eine Minderheit.

«Dennoch bin ich nicht für Frauenquoten. Viele Frauen, die bei staatlichen Institutionen arbeiten, sagten mir im persönlichen Gespräch, dass sie nicht Quotenfrauen sein möchten. Ich möchte auch keine Quotenfrau sein.»

Bildungsnotstand

Dass sich viele junge Frauen heute nicht um die Geschichte der Frauenbewegung interessieren, führt Gosteli nicht darauf zurück, dass für diese gleiche Rechte eine Selbstverständlichkeit sind, oder dass es bei den jungen Frauen an Selbstbewusstsein mangelt.

«Wir haben viel mehr einen katastrophalen Bildungsnotstand bei Frauenfragen im staatsbürgerlichen Unterricht. Es ist doch nicht normal, wenn man jungen Menschen nicht aufzeigt, dass es einen Kampf für Gleichberechtigung in der Geschichte gibt. Wie soll man dann erwarten, gerade auch von den Frauen, dass sie sich dafür interessieren?»

«Bildung ist also der Schlüssel.» Deshalb habe die Gosteli-Stiftung dieses Jahr eine Broschüre über die Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung als Themenheft für die Sekundarstufe II in 40 Lerneinheiten herausgegeben.

Keine grossen Projekte mehr

Die Frage, ob sie nach ihrem fast lebenslangen Engagement für Gleichberechtigung nicht kürzertreten wolle, beantwortet die 94-Jährige so: «Ich hätte noch viele Projekte, aber ich glaube, es reicht jetzt einfach zeitlich nicht mehr.»

Marthe Gostelis Wunsch wäre eine Nationalfonds-Studie über die schweizerische Frauenbewegung, die laut der ehemaligen Geschichtsprofessorin Beatrix Mesmer eine der bestorganisierten Europas war, obwohl die Frauen die politischen Rechte vor 1971 nicht hatten.

Die Frauenrechtlerin und Publizistin Marthe Gosteli wurde am 22. Dezember 1917 auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Worblaufen bei Bern geboren.

Während des 2. Weltkriegs arbeitete sie in der Abteilung Presse und Rundfunk des Armeestabs.

Nach dem Krieg leitete sie die Filmabteilung des Informationsdienstes an der US-amerikanischen Botschaft in Bern.

Ihre Erfahrungen mit den Medien stellte sie ab Mitte der 1960er-Jahre ausschliesslich in den Dienst der Frauenbewegung.

In den Jahren von 1964 bis 1968 war sie Präsidentin des bernischen Frauenstimmrechtsvereins. Anschliessend war sie Vizepräsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenvereine BSF (heute «Alliance F»).

1970/1971 präsidierte sie die Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau. Diese Organisation trug mit ihrem Verhandlungsgeschick mit dem Bundesrat wesentlich zur Annahme des Frauenstimmrechts auf eidgenössischer Ebene bei.

Marthe Gosteli gründete 1982 das «Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung» und im selben Jahr die Gosteli-Stiftung.

1995 verlieh ihr die Universität Bern den Ehrendoktor.

Im Archiv in Worblaufen befinden sich 400 Dokumente von Organisationen und Privatpersonen, biografisches Material über Pionierinnen sowie eine umfangreiche Fachbibliothek.

Am 10. Dezember 2011 erhielten die beiden Bernerinnen Marthe Gosteli und Beatrix Mesmer den Preis der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM).

Gosteli hat sich lange für das Frauenstimmrecht in der Schweiz eingesetzt und ihr Archiv zur Geschichte der Frauenbewegung in Worblaufen bei Bern aufgebaut.

Die ehemalige Geschichts-Professorin Beatrix Mesmer war 1989 als erste Frau in der Berner Universitäts-Leitung und forschte über die Frauenbewegung.

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