Vatikan: 1000 Jahre Kontinuität in der Veränderung
Als Oberhaupt der Katholischen Kirche steht der Papst auch an der Spitze des Vatikan-Staates (heute ohne Staatsgebiet) sowie eines wichtigen diplomatischen Netzwerks, das im 11. Jahrhundert aufgebaut wurde. Diese Lebensdauer sei aussergewöhnlich, sagt ein Schweizer Experte.
Die Wahl des 266. Papstes der Katholischen Kirche ist geprägt von Affären und Skandalen, welche die Katholische Kirche seit mehreren Jahren heimsucht, wie die pädophilen Priester, die undurchsichtigen Finanzgeschäfte oder Vatileaks.
Aber die Institution habe bis heute den Unwägbarkeiten der Geschichte erfolgreich getrotzt, sagt Agostino Paravicini, Honorarprofessor an der Universität Lausanne.
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swissinfo.ch: Sind der Rücktritt von Papst Benedikt XVI und die Wahl seines Nachfolgers immer noch von den Folgen des Vatikans II und dessen konservativem Rahmen geprägt?
Agostino Paravicini: Das ist tatsächlich die grosse Frage. Der Rücktritt Benedikts XVI hat dieses Problem deutlich gemacht. Die darauf folgenden Reaktionen lassen sich in zwei Lager teilen: Für die einen ist es ein Zeichen der Modernität, weil die Person des Papstes redimensioniert wird. Die andern haben dieser Neuerung gegenüber ihre Verblüffung zum Ausdruck gebracht.
Man kann nicht mit einer Revolution rechnen. Es bräuchte aber mutige Entscheide, die der ehemalige Papst erfolglos zu treffen versucht hatte. Das Pontifikat war übrigens nicht einheitlich. Einige Entscheide waren Rückschritte aus der Sicht der Promotoren des Vatikans II, andere waren Zeichen der Öffnung.
Aber der modernste Entscheid Benedikts XVI war seine Demission und die Wahl, im Vatikan zu leben wie ein Bischof. Diese Verzichtserklärung könnte einen Schneeball-Effekt haben. Aber es ist schwierig vorauszusagen, wie lange es dauert. Das Paradoxe daran ist, dass die Desakralisierung des Statuts des Papstes an jenes erinnert, das während der ersten 1000 Jahre galt: der Erste der Bischöfe, der Primus inter pares.
Wie dem auch sei, keine andere Institution auf der Welt weist eine vergleichbare Kontinuität und Dauer auf. Für Historiker ist es faszinierend zu sehen, wie sich diese Institution verewigt, trotz einer kontinuierlichen Anpassung.
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swissinfo.ch: Wird sich die Priorität der vatikanischen Diplomatie auf gesellschaftliche Fragen auf der internationalen Bühne aufrecht erhalten lassen?
A.P.: Das war eine der grossen Herausforderungen der vatikanischen Diplomatie in den letzten zwanzig Jahren: zu diesen gesellschaftlichen Fragen in diesem globalen Dialog einen Raum zu finden.
Diese Politik wird sich weiter entwickeln, umso schneller, falls ein Nicht-Europäer zum neuen Papst gewählt würde. Die Kirche will bei den Gesellschaftsproblemen ein Wort mitreden. Und der neue Papst wird vor allem die grossen Probleme lösen müssen, welche den Vatikan und die Kirche betreffen.
Die Apostolische Nuntiatur in der Schweiz, die 1597 in Luzern errichtet wurde, ist die älteste ständige Vertretung des Heiligen Stuhls nördlich der Alpen.
Die Ernennung eines päpstlichen Nuntius in der Eidgenossenschaft 1803 setzte dem Prinzip ein Ende, wonach nur katholische Kantone mit Rom offizielle Beziehungen pflegten.
Nach der Gründung des Bundesstaates im Herbst 1848 liess sich der Papst nur noch durch einen Geschäftsträger vertreten, der in Luzern residierte.
Im Juni 1920 bewilligte der Bundesrat die Rückkehr des Nuntius – nach 47-jähriger Absenz. Nach Abschluss der Verträge von Lateran zwischen dem Heiligen Stuhl und Mussolinis Italien 1929 sowie der Gründung des Vatikanstaats blieb die Nuntiatur von Bern die einzige offizielle Kontaktstelle zwischen den beiden Staaten.
In den 1990er-Jahren kam es mit der Ernennung von Wolfgang Haas zum Bischof von Chur zu neuen Spannungen. Eine überwältigende Mehrheit der Schweizer Katholiken war schockiert vom Rückhalt, den Bischof Haas und sein ultrakonservativer Kreis durch die Kurie vorübergehend genoss.
Bern nahm an, dass Rom keine objektiven Informationen über die Schweiz hatte, was die Idee einer diplomatischen Vertretung beim Papst aufkommen liess. 1991 ernannte der Bundesrat einen Vatikan-Sonderbotschafter.
Vor dem zweiten Besuch von Papst Johannes II. in Bern im Juni 2004 ernannte der Bundesrat den Schweizer Botschafter in Prag zum Botschafter beim Heiligen Stuhl. Seit April 2012 residiert der Schweizer Botschafter beim Heiligen Stuhl in Bern. Seit Oktober 2011 hat Paul Widmer dieses Amt inne.
(Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz und EDA)
swissinfo.ch: Seit wann kann man von einer vatikanischen Diplomatie sprechen?
A.P.: Ab dem 11. Jahrhundert hat das Papsttum ein diplomatisches System organisiert. Das moderne Papsttum wurde während dieser Epoche entwickelt, und zwar mit der Bildung päpstlicher Gesandter, die im 16. Jahrhundert zur Gründung des Nuntius als Botschafter führten.
Zu dieser Zeit war der Vatikan der grosse Schiedsrichter, die Supermacht der Welt mit einem ausgedehnten, effizienten diplomatischen Netz. Im Mittelalter war dieses Netz wichtiger als jenes der Könige und Kaiser. Die päpstlichen Kuriere waren sehr leistungsfähig. Sie konnten täglich bis zu 70 km zurücklegen.
Ab dem 15. und 16. Jahrhundert entwickelten die Herren von Italien, die Republik Venedig, die Landesfürsten ihre eigenen diplomatischen Netzwerke. Aber während mehrerer Jahrhunderte hatte keine souveräne Institution ein gleichermassen ausgebreitetes diplomatisches Netz wie der Vatikan. Wer am besten informiert ist, hat seinen Gegnern oder Partnern gegenüber einen wichtigen Machtvorsprung.
swissinfo.ch: Welchen Einfluss hatte das Aufkeimen des Faschismus und des Nazismus auf diese Diplomatie?
A.P.: In dieser Zeit war der Vatikan im Mittelpunkt geheimer diplomatischer Verhandlungen. Während Pius XI. gegenüber dem Nazismus sehr kritisch eingestellt war, hüllte sich sein Nachfolger Pius XII., bekannt als grosser Diplomat in Deutschland, in Schweigen. Das gibt auch heute noch zu Reden.
swissinfo.ch: Hatte die Diplomatie des Vatikans auch während des Kalten Krieges noch einen grossen Stellenwert?
A.P.: Es war einer der grossen Momente der vatikanischen Diplomatie, die extrem ausgeklügelte Strategien erstellte, um angesichts des feindlichen sowjetischen Systems das Wesentliche in Sicherheit zu bringen. Diese Strategie nahm eine neue Wende, als der Pole Johannes Paul II., der in diesen Konflikt stark involviert war, zum Papst gewählt wurde Es heisst auch, dass sich der Chef des CIA in dieser Zeit sehr oft im Vatikan aufhielt.
swissinfo.ch: Die Schweiz und der Vatikan teilten über lange Zeit denselben Status innerhalb der UNO. Führte dies zu besonders günstigen Beziehungen?
A.P.: Die Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vatikan sind seit langem kompliziert. Infolge der Konfrontationen zwischen Staat und Kirche (Kulturkampf) im 19. Jahrhundert und dem Sonderbundskrieg war die Eidgenossenschaft äusserst bedacht darauf, den konfessionellen Frieden zu wahren. Aus diesem Grund wollte sie einem religiösen Staat wie dem Vatikan nicht zu viel Bedeutung beimessen.
Gleichzeitig aber gab es immer ziemlich enge Kontakte, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs.
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein und Peter Siegenthaler)
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