Eine Klinik für die Behandlung von Internet- und Sexsüchtigen
Jede zehnte Person in der Schweiz weist Abhängigkeitssymptome auf. Es kann sich um Internet- oder Spielsucht handeln, Hypersexualität oder Kaufsucht. swissinfo.ch sprach über dieses Phänomen mit Gerhard Wiesbeck, Ärztlicher Zentrumsleiter für Abhängigkeitserkrankungen an den Universitären psychiatrischen Kliniken Basel.
Stundenlanges Surfen im Internet, endloses Suchen nach pornografischen Inhalten, ein übersteigertes Sexualverhalten oder Kaufsucht. Viele Menschen haben Mühe, in der modernen Gesellschaft mit Internet und den ständig verfügbaren Angeboten umzugehen. Und sie leiden unter ihrer Abhängigkeit.
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Um diese neuen Verhaltenssüchte zu behandeln, haben die Universitären Psychiatrischen Kliniken von Basel in diesem Sommer die erste auf solche Pathologien spezialisierte Klinik eröffnet. Suchtkranke Menschen können in der Abteilung Verhaltenssüchte Stationär (VSS) behandelt werden. «Mit diesem Angebot wagen wir uns in ein neues Feld vor», sagt Direktor Gerhard Wiesbeck.
swissinfo.ch: Ist eine Person, die mehrere Stunden Fernsehen schaut und das Handy Dutzende Male am Tag kontrolliert, schon krank?
Gerhard Wiesbeck: Man sollte eine schlechte Angewohnheit oder eine intensive Leidenschaft, etwa fürs Tanzen, nicht mit Abhängigkeit verwechseln. Ein repetitives Verhalten, das mit intensiven Gefühlen verbunden ist, muss nicht notwendigerweise eine Abhängigkeit sein. Und ich möchte ergänzen: Nicht das Handy an sich macht abhängig, sondern der Umgang damit.
swissinfo.ch: Wie lässt sich feststellen, ob ein Verhalten einfach eine schlechte Angewohnheit oder bereits eine Abhängigkeit ist?
G.W.: Abhängigkeit ist eine Krankheit. Dieses Jahr hat die Weltgesundheitsorganisation WHO exzessives Computer- oder Videospielen offiziell als Krankheit anerkannt. Eine abhängige Person ist von einem exzessiven Verhalten besessen, das sie nicht mehr kontrollieren kann. Daraus resultiert ein Leiden. Und das hat negative Folgen für Körper und Geist, genauso wie für das Sozialleben und die finanzielle Situation einer betroffenen Person.
Bevor man von Abhängigkeit im Sinne einer Krankheit spricht, müssen die Folgen des Handelns untersucht werden. Hat etwa die Tatsache, den ganzen Tag Fernsehen zu schauen oder mit dem Handy zu spielen, Probleme am Arbeitsplatz zur Folge? Wurde auf Freundschaften oder Freizeitaktivitäten verzichtet? Hat jemand Schulden gemacht oder sich mit Suizid-Gedanken geplagt? Wenn nur ein Teil dieser Antworten bejahend ausfällt, haben wir es mit einer pathologischen Abhängigkeit zu tun.
swissinfo.ch: Wie viele Personen in der Schweiz sind betroffen?
G.W.: Gemäss vorsichtigen Schätzungen leidet 1 Prozent der Bevölkerung unter Glücksspielsucht, 2 Prozent unter pathologischer Internet- und Computersucht, 3 Prozent unter Sexsucht und 5 Prozent unter Kaufsucht. Allein für den Kanton Basel-Stadt sprechen wir von mindestens 19‘000 Personen.
Neben diesen Zahlen ist die Komorbidität beunruhigend, das heisst die Präsenz mehrerer Pathologien. 80 Prozent der Personen mit Verhaltenssüchten, Depression, Angstzuständen, Hyperaktivität oder Persönlichkeitsstörungen ist auch von Substanzen wie Tabak, Alkohol oder Betäubungsmitteln abhängig.
swissinfo.ch: Lässt sich eine onlinespielsüchtige Person mit einem Rauschgiftsüchtigen vergleichen?
G.W.: Es gibt grosse Ähnlichkeiten für diese beiden Arten von Abhängigkeiten. In beiden Fällen leidet die betroffene Person unter ihrer Sucht und findet alleine keinen Ausweg aus ihrer Situation. Bei Verhaltenssüchten ist es ein nicht-materielles Suchtverhalten. Es gibt also nicht die pharmakologische Wirkung einer Substanz.
swissinfo.ch: Es gibt auch einen anderen Unterschied: Kokain als Droge ist beispielsweise recht teuer und nicht leicht zu finden. Kokain ist illegal – im Gegensatz zum Internet. Sind die Verhaltenssüchte daher gefährlicher?
G.W.: Ich würde nicht sagen, dass sie gefährlicher sind. Aber der Zugang zum Medium Internet ist zweifellos leichter und das Netz verfügbarer als eine Droge, die gekauft werden muss. Das hat Folgen für die Therapie. Die Abstinenz ist für Rauschgiftsüchtige oder Alkoholiker von zentraler Bedeutung in der Behandlung. Bei Internet- oder Kaufsucht ist das nicht möglich. Die Therapie geht daher nicht in Richtung einer totalen Abstinenz vom Internet, sondern einzig von problematischen Inhalten, etwa Pornoseiten oder Online-Spielen.
swissinfo.ch: In Basel existiert bereits seit dem Jahr 2000 eine ambulante Abteilung für Verhaltenssüchtige. Warum wollten Sie darüber hinaus ein stationäres Zentrum eröffnen?
G.W.: Seit 2010 haben wir 102 Personen geholfen, vor allem Menschen mit Spielsucht. Doch wir mussten feststellen, dass die ambulante Behandlung für 10 Prozent der Patienten nicht genügt. Die Sucht war so stark, dass es nötig war, den Patienten oder die Patientin aus ihrem familiären, sozialen und beruflichen Umfeld heraus zu holen. Für diese braucht es eine stationäre Behandlung. Deshalb haben wir unsere Klinik am 1. Juli eröffnet.
swissinfo.ch: Wie wird eine Person mit Internetsucht behandelt?
G.W.: Im Regelfall gelangt eine solche Person nicht wegen der Abhängigkeit an uns, sondern wegen der negativen Folgen: Verschuldung, Probleme am Arbeitsplatz oder in Beziehungen. Die Behandlung sieht Einzeltherapie und/oder Gruppentherapien vor. Im Bedarfsfall werden auch Medikamente verabreicht. Es kann auch vorkommen, dass wir auf Ergotherapie, Physiotherapie oder Heilgymnastik setzen. Ein Sozialarbeiter kann zudem helfen, Verschuldungsprobleme zu lösen und einen Job zu suchen.
«Ich befürchte, dass das Internet und die neuen Medien in Zukunft noch gefährlicher werden.»
swissinfo.ch: Wie lange dauert eine solche Behandlung?
G.W.: Mindestens sechs Wochen, doch für die meisten Patienten braucht es ein Minimum von 10 Wochen. Wir haben 12 Plätze und die Kosten werden von der Grundversicherung der Krankenkasse gedeckt.
swissinfo.ch: Kann es nach einer Behandlung zu einem Rückfall kommen?
G.W.: Bisher ist das bei unseren Patienten nicht geschehen, aber es lässt sich nicht ausschliessen. Ein Rückfall kann Teil des Krankheitsbildes sein.
swissinfo.ch: Verfolgt Ihre Therapie für Verhaltenssüchtige einen besonderen Ansatz?
G.W.: Unsere Klinik hier in Basel ist bisher die einzige Klinik dieser Art im deutschsprachigen Raum. In diesem Sinne leisten wir Pionierarbeit. Andere Länder sind noch nicht so weit. Verhaltenssüchtige Personen erhalten dort keine spezifischen Therapien.
swissinfo.ch: Ein Psychiater hat kürzlich erklärt: «Jede Epoche hat ihre Abhängigkeiten.» Früher waren es harte Drogen, heute gibt es Internet- und Kaufsucht. Was bringt die Zukunft?
G.W.: In jeder Gesellschaft gibt es Abhängige. Dieser Anteil bleibt über die Jahrhunderte mehr oder weniger konstant. Abhängigkeiten äussern sich unterschiedlich. Vor 20 oder 30 Jahren hatten wir das Problem der Heroinabhängigen. Dieses Problem konnte dank der Schweizer Drogenpolitik weitgehend gelöst werden.
Ich befürchte, dass das Internet und die neuen Medien in Zukunft noch gefährlicher werden. Ich denke insbesondere an die Möglichkeiten der Virtuellen Realität, die immer perfekter und attraktiver wird. Sie gibt die Möglichkeit, Persönlichkeiten zu schaffen. Auch gewisse Verhaltensweisen am Arbeitsplatz, bei der Ausübung von Sport oder der Fixierung auf bestimmte Ernährungsweisen können Symptome von Abhängigkeitskrankheiten entwickeln.
swissinfo.ch: Wie lassen sich solche Entwicklungen vermeiden?
G.W.: Wir müssen Kindern schon in der Schule beibringen, mit den neuen Medien umzugehen. Genauso wie die Verkehrserziehung auf der Strasse, ist diese Erziehung nötig. Internet eröffnet viele Möglichkeiten, doch birgt das Netz auch viele Gefahren, die erkannt und vermieden werden müssen.
Digitale Welt: 7 von 100 Jugendlichen verhaltensproblematisch
Gemäss einer im Juli 2018 in der Schweiz realisierten Umfrage sind 48 Prozent aller Jugendlichen, die ein Smartphone besitzen, der Meinung, dass sie zu viel Zeit mit diesem Gerät verbringen. Bei den 18 bis 34-Jährigen steigt der Anteil sogar auf zwei Drittel.
25 Prozent der 1000 befragten Personen gab an, einen ständigen Druck zu spüren, aufs Handy zu schauen. Jede/r 20. erklärte, nachts aufzuwachen, um auf das Smartphone zu blicken.
Das Gerät hat negative Konsequenzen für die Gesundheit und persönliche Beziehungen: 15 Prozent der Befragten gab an, Familie und Freunde zu vernachlässigen; 6 Prozent hatten mindestens einmal Probleme mit den Augen.
Gemäss der Internetseite des Bundesamtes für Gesundheitswesen (BAG) hat die grosse Mehrheit der Heranwachsenden in der Schweiz ein gesundes Verhältnis zu den digitalen Medien. Doch für 7 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren ist das Nutzungsverhalten problematisch. Zu den Symptomen eines problematischen Nutzungsverhaltens gehören Schwierigkeiten, offline zu sein sowie der Verzicht auf Schlaf, das Vernachlässigen von Hausaufgaben sowie des Familienlebens.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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