Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Das Recht, Abschied zu nehmen

Prozession zu einem Friedhof in Kolumbien
Prozession zum Friedhof von Medellin del Ariari, Kolumbien. Stefania Summermatter

In den mehr als 50 Jahren des Bürgerkriegs in Kolumbien wurden Zehntausende ermordet oder zum Verschwinden gebracht. Heute verlangen Angehörige dieser so genannten "Desaparecidos" Wahrheit und Gerechtigkeit. Dabei erhalten sie auch Unterstützung von der Schweiz. Eine Reportage.

Die Recherche für diese Reportage wurde finanziell unterstützt durch den Medienfonds «Real21 – die Welt verstehen»Externer Link.

Es war ein heisser Morgen im November 1999. Wie immer stand Jolman Lozano früh auf. Er war 25 Jahre alt und arbeitete als unabhängiger Fahrer in Medellín del AriariExterner Link, einem kleinen Bauerndorf etwa 200 Kilometer südlich der Hauptstadt Bogotà.

An jenem Tag hatte er den Auftrag, zwei Sanitäter zu transportieren. Unterwegs stoppten zwei Männer sein Fahrzeug. Es waren Paramilitärs des Centauros-Blocks. Die beiden Sanitäter wurden laufengelassen. Jolman hingegen wurde als Geisel genommen und brutal ermordet und zum Verschwinden gebracht. Das geht aus dem Bericht der Staatsanwaltschaft hervor.

Seit jenem Donnerstag im November hat seine Schwester Azucena Loiza nie aufgehört, nach ihm zu suchen. «Manchmal sagte mir jemand, man habe ihn irgendwo gesehen, und ich begann wieder zu hoffen. Doch im Grunde wusste ich, dass er nie zurückkommen würde.»

Seine Leiche fand jemand 2011 per Zufall auf einem Landwirtschaftsbetrieb. 2016 konnte Jolmans Körper dank eines DNA-Tests identifiziert werden, zwei Jahre später wurde er seiner Familie übergeben.

«Im Vergleich mit anderen Personen kann ich mich noch glücklich schätzen, denn auch wenn ich 19 Jahre lang warten musste, kann ich mich endlich von meinem Bruder verabschieden», sagt Azucena, während ihr Tränen übers Gesicht laufen.

Während des über 50 Jahre andauernden Bürgerkrieges in Kolumbien gehörte das Verschwindenlassen von Personen zum traurigen Alltag. Das Nationale Zentrum des Historischen GedächtnissesExterner Link schätzt, dass zwischen 1970 und 2015 mindestens 60’600 Personen ermordet und zum Verschwinden gebracht wurden. Von diesen gelten 92% noch als «Desaparecidos» – eine makabre Liste, die kaum je kürzer wird. Die Arbeit des Erinnerungs-Zentrums wird von der Schweiz unterstützt und begleitet.

Mehr

Mehr

«Wir suchten nach ihm unter den Leichen»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Azucena Loaiza hat praktisch ihr halbes Leben damit verbracht, nach ihrem Bruder zu suchen, der von Paramilitärs ermordet wurde.

Mehr «Wir suchten nach ihm unter den Leichen»

Ein Moment der Trauer und Hoffnung

Für das Begräbnis von Jolman hat Azucena sich weiss gekleidet – die Farbe des Friedens. In ihren Armen trägt sie einen kleinen Sarg mit Knochenfragmenten, welche die Zeit und die Witterungseinflüsse überdauert haben.

An diesem Morgen Anfang März ist die Kirche von Medellín del Ariari voller Menschen. Es ist das erste Mal, dass das Dorf eine Rückgabe-Zeremonie der Leiche eines Opfers des Konflikts begeht. Für die lokale Bevölkerung ist es ein Moment der kollektiven Trauer, aber auch der Hoffnung.

Die Region Alto Ariari befindet sich zwischen den Kordilleren der Anden und dem Urwald und galt wegen ihrer strategischen Lage und der massiven Präsenz von Farc-Rebellen als «Rote Zone»Externer Link. Die isolierte und stigmatisierte Bevölkerung geriet seit den 1980er-Jahren in die Opferrolle und musste eine lange Reihe von Übergriffen durch Paramilitärs, die Armee und Rebellen erleiden.

«In diesen Dörfern sind Hunderte gestorben, und viele Familien mussten vor der Gewalt fliehen. In den ersten Jahren nach 2000 waren einzelne Dörfer komplett ausgestorben», erinnert sich Pater Henry Ramírez Soler. Er kümmert sich seit 1996 um die Gemeinden der Region Alto Ariari.

«Heute Morgen bin ich mit einem Schleier der Traurigkeit aufgewacht, denn auch wenn wir heute den Körper von Jolman zurückerhalten, fehlen immer noch zu viele Leute, die verschwunden sind», sagt der Missionar von der römisch-katholischen Kongregation der Claretiner.

«In diesen Dörfern sind Hunderte gestorben.» Henry Ramírez Soler, Missionar

144 Jahre, alle Toten zu identifizieren

Die Suche und Identifizierung der «Desaparecidos» sei eine der grössten Herausforderungen, denen sich Kolumbien in den kommenden Jahrzehnten stellen müsse, sagt die Genferin Joelle Kuhn, die für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Bogotà für das Dossier verantwortlich ist.

Doch die Regierung hat die nötigen finanziellen Mittel noch nicht zurExterner LinkVerfügungExterner Link gestelltExterner Link, um auf dieses humanitäre Bedürfnis zu reagieren. Und die lange erwartete Gruppe zur Suche nach Vermissten, deren Gründung vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) begleitet wurde, ist auch nach mehr als einem Jahr nach Unterzeichnung der Friedensabkommen noch nicht im Einsatz.

Pater Henry Ramírez Soler gehört zu den besten Experten des Landes im Bereich der Suche nach Verschwundenen. Er kommentiert lapidar: «Wir haben ausgerechnet, dass wenn wir in diesem Rhythmus weitermachen, es mindestens 144 Jahre dauern wird, bis alle im kolumbianischen Konflikt Getöteten identifiziert sind. Wie sollen wir unter solchen Bedingungen den Frieden schaffen?»

Mehr
Henry Ramírez Soler

Mehr

«Ohne Gewissheit kann man nicht trauern»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Seit über 20 Jahren kämpft Pater Henry Ramirez Soler mit den Opfern des kolumbianischen Bürgerkriegs um Wahrheit und Gerechtigkeit.

Mehr «Ohne Gewissheit kann man nicht trauern»

Archiv der Erinnerung

Das Friedensabkommen zwischen der Farc und der kolumbianischen Regierung wurde im November 2016 unterzeichnet und ist in der Schweiz hinterlegt. Dadurch hat eine Anzahl von Opfern den Mut gefunden, offen das Verschwinden von Angehörigen anzuklagen.

Eine schwierige Herausforderung, da sich die Täter oft noch auf freiem Fuss befänden, sagt Juristin Yina Avella, die an der Universität Neuenburg Rechtswissenschaften studiert hat. Die Tochter kolumbianischer Flüchtlinge in der Schweiz begleitet seit einem Jahr als Mitarbeiterin der Schweizer Nichtregierungs-Organisation ComundoExterner Link die claretinische  Korporation «Norman Pérez Bello» die Verteidigung der Opfer des Konflikts.

Zusammen mit Ramírez Soler erstellt Avella ein Erinnerungs-Archiv mit noch ungelösten Fällen von «Desaparecidos». «Es gibt zum Beispiel Leute, die eine Beschwerde eingereicht haben, die aber nach 15 bis 20 Jahren immer noch nicht wissen, wo ihre Angehörigen begraben wurden. Oder Menschen, die sich nicht einmal daran erinnern, ob sie eine Beschwerde eingereicht haben, oder bei wem», sagt Avella. «Es ist deshalb wichtig, systematisch Informationen zu sammeln, um eine minimale Chance auf Gerechtigkeit zu haben.»

Eine Gerechtigkeit, die Azucena noch nicht erfahren hat. Die Untersuchungen über den Mord an Jolman sind noch nicht abgeschlossen. Wer hat ihn umgebracht, und weshalb? Azucena braucht Antworten, um dieses Kapitel endlich abschliessen und vielleicht eine Lücke schliessen zu können, die fast zwanzig Jahre lang offen war. Die Herausforderung für einen dauerhaften Frieden in Kolumbien liegt auch in solchen Fällen.

Der kolumbianische Konflikt in Zahlen

In den mehr als 50 Jahren des Bürgerkriegs in Kolumbien wurden über 8,5 Millionen Opfer gezählt, darunter etwa 250’000 Tote (80% Zivilisten) und mehrere zehntausend «Desaparecidos».

Laut dem Bericht «¡Basta ya!»Externer Link des Nationalen Zentrums des Historischen Gedächtnisses wurden von den fast 2000 Fällen von Massakern, die zwischen 1980 und 2012 aufgezeichnet wurden, rund 60% von paramilitärischen Gruppen begangen, 17% von Rebellengruppen, 8% von der regulären Armee und die restlichen 15% von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen.

Kolumbien verzeichnet auch die höchste Zahl von Binnenvertriebenen in der Welt: Laut einem Bericht des UNO-Hochkommissariats für FlüchtlingeExterner Link (UNHCR) sind es über 7 Millionen.

Mehr
Drei junge Männer tragen an einer Demonstration zwei schwarze Särge

Mehr

«Frieden in Kolumbien nicht auf dem Buckel der Opfer»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Gewalt in Kolumbien hält an, aber die Worte der Opfer können nicht mehr überhört werden, sagt die Sondergesandte für den Frieden, Mô Bleeker.

Mehr «Frieden in Kolumbien nicht auf dem Buckel der Opfer»

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

Meistgelesen
Swiss Abroad

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft