«Die Schweizer Gesellschaft ist solidarisch, davon bin ich überzeugt»
Wie weit ist der Einzelne dafür verantwortlich, dass sich ein Virus nicht weiterverbreitet? Das Coronavirus stellt die Gesellschaft vor schwierige moralische Fragen. Wir haben mit dem emeritierten Ethikprofessor Alberto Bondolfi gesprochen.
swissinfo.ch: Was sind die Fragen, die das Coronavirus an einen Ethiker stellt?
Alberto Bondolfi: Für die Ethik ist eine Epidemie eine klassische Situation, da Ethik sich ja schon lange mit Katastrophensituationen beschäftigt. Schwierig zu vermitteln bleibt aber, dass die Normen, die in einer Katastrophensituation gelten, nicht intuitiv sind. Die Sicht der Epidemiologie ist eine andere als unsere Alltagserfahrung.
swissinfo.ch: Wie meinen Sie das?
A.B.: Ein Beispiel: Die Katastrophenmedizin gibt die Empfehlung, zuerst jene zu behandeln, die weniger schlecht dran sind und nicht die schwierigsten Fälle. Das wirkt auf den ersten Blick ungerecht.
swissinfo.ch: Welche Idee steht dahinter?
A.B.: Es dient schlicht dem menschlichen Leben stärker.
Der epidemiologische Blick hat auch im Auge, wie sich eine Krankheit mit der Zeit weiterverbreitet. Man handelt also heute mit dem Blick auf Morgen. Wohingegen der normale Reflex gebietet, sich in der Gegenwart richtig zu verhalten.
Die Krankheit hat also zwei Gesichter. Die sichtbaren Ausbrüche, und das, was wir als Träger unsichtbar in die Zukunft tragen.
swissinfo.ch: Der Blick führt also weg vom kranken Individuum auf den gesamten Gesellschaftskörper?
A.B.: Ja, genau.
swissinfo.ch: Wenn Sie nun sagen, dass die Ethik mit Katastrophensituationen vertraut ist, denkt man fast unweigerlich an Krieg.
A.B.: Ja, es gibt Ähnlichkeiten, grosse Ähnlichkeiten. Rationierungssysteme sorgen für Gerechtigkeit, Schwarzmärkte durchbrechen die Ordnung. Zivilen Ungehorsam erleben wir auch jetzt: Junge, die nicht auf Discos verzichten wollen. Skigebiete, die nicht schliessen wollten. Solcher Widerstand entsteht in der Bevölkerung, weil nicht alles sofort einleuchtet. Das ist aber in solchen Lagen auch normal.
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swissinfo.ch: Braucht es gegen solche Ordnungsbrüche eher Verbote und Vorschriften oder Information und Überzeugungsarbeit?
A.B.: Im Moment spielt der Bundesrat die Karte der Überzeugungsarbeit. Es kann aber sein, dass er die Geduld verliert. So wie Innenminister Alain Berset die Skiliftbetreiber auf die Möglichkeiten des Strafrechts hingewiesen hat. Das hat gewirkt.
swissinfo.ch: Für wie solidarisch halten Sie die Schweizer Gesellschaft?
A.B.: Sie ist grundsätzlich solidarisch, davon bin ich überzeugt. Bisher hat die Gesellschaft zum Beispiel alle Politiker, die Kapital aus dem Coronavirus schlagen wollten, zum Schweigen gebracht.
swissinfo.ch: Wie aber bringt man die Menschen zum Mitmachen, wenn Ihnen der Blick auf die Zukunft teilweise fehlt?
A.B.: Es braucht gezielte Botschaften für gezielte Anspruchsgruppen. Die Jungen dürfen nicht mehr einfach in die Clubs, aber die Älteren müssen sich auch einschränken, sie dürfen nicht mehr unter die Leute. Die Jungen meinen vielleicht, nicht gefährdet zu sein. De facto sind sie aber gefährdet, oder – Gefährder.
swissinfo.ch: Man könnte sagen: Sterben gehört zum Alter. Warum lässt man die Alten nicht einfach sterben?
A.B.: Ich stamme aus einer Tradition, die klar sagt: Jeder Mensch ist ein Ziel in sich. Wir können darum auch in normalen Zeiten nicht einfach die Rechnung machen und fragen, welche Patienten uns am meisten kosten. Intuitiv und emotional ist das nicht machbar.
swissinfo.ch: Und in aussergewöhnlichen Zeiten?
A.B.: Im Moment stellt sich diese Frage in der Schweiz nicht. In der Lombardei, wo die Intensivstationen überbelegt sind, ist das anders. Wir sind aber noch nicht soweit, und es gibt noch Reserven.
swissinfo.ch: Wie wägt man in einer solchen Situation den Schaden an der Wirtschaft gegenüber dem Schaden an der Gesundheit ab? Anders gefragt: Sind es die geretteten Menschenleben am Ende wert, wenn ganze Volkswirtschaften am Boden liegen? Gibt es da eine Linie, welche die Ethik vorgibt?
A.B.: Meine Antwort wird Sie kaum befriedigen: Ich habe den Eindruck, dass unsere Behörden ein Szenario haben, und dass dieses realistisch ist. Man rechnet mit einer Dauer von zwei bis drei Monaten. Das würde unser System relativ gut überleben.
swissinfo.ch: Viele Gewerbler empfinden die Situation aber jetzt schon als existentiell. Es geht auch ihnen – im übertragenen Sinn – um Leben und Tod.
A.B.: Auf die Probleme mit der Geldliquidität hat der Bund Antworten gefunden, Geld ist da. Diese Massnahmen gehen von der Annahme aus, dass die Sondersituation zu überstehen sein wird. Die absolute Armut droht in dieser Annahme noch nicht. Wenn der Horizont zwei Jahre wäre, und nicht zwei Monate, dann würde es hart. Aber auch dann wäre Geld da. Zu lösen wäre einzig, dass die Parlamente, die solche Operationen legitimieren sollen, wieder handlungsfähig werden.
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