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Verstümmelungsopfer erhebt Stimme in der Schweiz

Die aus Sudan stammende Amal Bürgin lebt schon seit längerer Zeit in der Schweiz. swissinfo.ch

Sie trägt ein blassrosa Kopftuch und einen langen, blumengemusterten Rock, sie ist gesprächig und zeigt uns auf ihrem goldenen iPhone Fotos ihrer Kinder: Die aus Sudan stammende Amal Bürgin lebt schon seit vielen Jahren in der Schweiz.

Die 42-Jährige hat zusammen mit ihrem Schweizer Mann drei Kinder. Zwei Söhne und eine Tochter im Alter zwischen vier und elf Jahren. Dass sie drei Kinder geboren hat, ist äusserst bemerkenswert, wenn man die brutale Tradition der Genitalbeschneidung kennt, die Amal als Kind erleiden musste.

Als sie fünfjährig war, befand sich Amal zusammen mit ihrer älteren Schwester an einer Genitalbeschneidungs-Zeremonie in ihrer Geburtsstadt Khartum. Neben Süssigkeiten und hennafarbenen Tätowierungen «erhielten» sie auch die so genannte pharaonische Beschneidung. Das heisst: Entfernung der Klitoris und der Schamlippen, Verengung der Vaginalöffnung. Eine kleine Öffnung wird belassen für Urin und Menstruationsblut.

Amal Bürgin leidet immer noch an den Folgen dieser Verstümmelung, wie sie vor vier Jahren gegenüber swissinfo.ch sagte. Inzwischen hat sie sich mit ihrer Mutter schonungslos darüber ausgesprochen und Erfahrungen gesammelt, indem sie öffentlich über ihren Leidensweg spricht.

Eine üble Tradition

Obwohl weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz gesetzlich als Verbrechen gilt, gibt sich Amal Bürgin zurückhaltend: Ein Verbrechen mag sie es nicht nennen. «Es ist eine sehr alte und sehr üble Tradition, aber ich bin dagegen, dies ein Verbrechen zu nennen, denn Menschen wie meine Eltern und deren Eltern folgten dieser Tradition. Das geschah von Generation zu Generation – sie dachten, dass dies das Beste für ihre Töchter sei», so Bürgin. Diese Tradition sei kulturell und religiös verankert. Die Töchter sollen physisch «sauber» bleiben und vor der Ehe keinen Sex haben.

Interessant ist, dass Amals Vater gegen die Beschneidung seiner Töchter war, aber er sei an jenem Tag abwesend gewesen. «Als er wieder nach Hause kam und realisierte, was geschehen war, war er sehr wütend. Ich glaube, dass er, verheiratet mit meiner ebenfalls beschnittenen Mutter, wusste, wie das für uns sein wird. Deshalb wollte er nicht, dass dies mit seinen beiden Töchtern geschieht», so Bürgin. Dennoch erlitten sie und ihre Schwester eine zweifache Genitalverstümmelung.

«Als ich acht oder neun Jahre alt war, wurde ich erneut beschnitten. Meine beiden Tanten in Khartum sagten, die erste Beschneidung sei nicht ‹gut genug› gewesen, es sei immer noch ‹zu offen›. Sie brachten mich und meine Schwester zu einer bekannten Hebamme, die das Ganze nochmals machte.» Zumindest sei die Prozedur hygienisch und unter Anästhesie durchgeführt worden, erklärt Amal.

Jedes Mal, wenn Amal beim Urinieren oder während der Menstruation vor Schmerzen schrie, wurde ihr Vater wütend und sagte seinen weiblichen Verwandten: «Das alles kommt von dem, was ihr meiner Tochter angetan habt!»

Schockierter Ehemann

Amal kam als junge Frau in die Schweiz, wo sie ihren Mann kennenlernte. Als sie ihn mit 28 Jahren heiratete, war sie noch Jungfrau – was er kaum glauben konnte. Obwohl ihr Mann als Erwachsener zum Islam konvertiert war, wusste er überhaupt nicht, dass weibliche Genitalverstümmelung in gewissen muslimischen Gemeinschaften üblich ist.

«Mein Mann war schockiert, als er dies in unserer Hochzeitsnacht entdeckte. Darüber wusste er überhaupt nichts, und tatsächlich konnte er keinen Sex mit mir haben», erzählt Amal Bürgin, die sofort einwilligte, als er vorschlug, einen Arzt aufzusuchen.

«Der Arzt war auch sehr schockiert, und das überraschte mich im negativen Sinn.» Sie habe erwartet, dass zumindest ein Gynäkologe Bescheid über weibliche Genitalverstümmelung wissen sollte, so Amal. «Ich hatte eine Operation, um alles wieder zu öffnen, dabei wurden alle diese schlechten Erinnerungen wieder wach.» Sie lag einen Monat lang im Bett, bis sie sich von dem Eingriff erholt hatte. «Es war sehr schmerzhaft, aber ich bin froh, dass ich es getan habe.»

Jeder liebevolle Ehemann bringe seine Frau eher ins Spital, als dass er sie zum Sex zwinge. Doch sei das noch keine Lösung. «Die Lösung sollte sein, dass die Männer sagen, sie wollten keine Frauen mit Genitalverstümmelung», sagt Amal Bürgin. Das würde mehr Druck gegen diesen Brauch auslösen.

Obwohl einige Männer darauf beharren, dass Genitalverstümmelung eine Frauenangelegenheit sei, gibt es andere Männer, die sich aktiv dagegen engagieren.

«Ich habe kürzlich auf Facebook sogar eine solche Gruppe von Männern gefunden, was mich überraschte und freute», sagt Amal. Inzwischen hat ihr Bruder drei Töchter, und er und seine Frau haben beschlossen, sie nicht beschneiden zu lassen. Auch Amals Schwester ist gegen die Prozedur.

Nach dem Besuch einer Veranstaltung von Unicef Schweiz zu dem Thema 2007 beschloss Amal Bürgin, die Stimme zu erheben, um mitzuhelfen, weibliche Genitalverstümmelung weltweit auszumerzen. Jüngst hielt sie an der Universität Basel einen Vortrag über das Thema. Ihre Augen leuchten, wenn sie vom Applaus erzählt, den sie dabei erhielt.

Als ihre Schwester nach Sudan zurückging, berichtete sie dort über das Engagement Amals gegen weibliche Genitalverstümmelung. «Ich weiss, dass alle meine Freundinnen gebildet und gegen diesen Brauch sind. Natürlich erlitten sie das selbst, aber sie sind dagegen, und ich bin sicher, dass sie ihren Töchtern dies nicht antun», so Amal.

Wie Gott sie erschuf

Amal kann jetzt mit fremden Leuten darüber sprechen, während sie das Thema bei ihrer Mutter während Jahrzehnten nicht ansprechen konnte. «Unglücklicherweise konnte ich früher nicht darüber sprechen, es war tabu, heute ist es salonfähiger geworden.» Sie konnte nie verstehen, warum dort, wo sie aufwuchs, die Beschneidung als «wunderschönes, freudvolles Ereignis» betrachtet wurde.

Erst vor ein paar Jahren, als ihre Mutter sie in Basel besuchte, konnte sie mit ihr endlich über das Thema sprechen. Als Amal die Windeln ihrer Tochter wechselte, fragte die Mutter: «Oh, willst du sie so belassen, oder willst du es für sie tun?» Amal antwortete: «Nein, niemals!» Sie holte tief Atem und fuhr fort: «OK, Mutter, du hast das Thema angesprochen. So frage ich dich: Warum hast du uns das angetan? Erinnerst du dich, wie ich vor Schmerzen geschrien habe?»

Das sei eine Tradition, komme vom Islam, antwortete die Mutter, worauf Amal konterte, der Islam lege nirgends fest, dass Mädchen genital verstümmelt werden müssten. Dann fragte die Mutter nochmals: «Du willst es also nicht tun?» Und Amal sagte: «Nein.» Danach habe die Mutter nichts mehr gesagt.

Die Tochter von Amal ist jetzt vier Jahre alt. «Ich sehe jetzt den Unterschied zwischen meinem Körper und jenem meiner Tochter», sagt sie. «Ich würde nie sagen, mein Körper sei schön oder wunderschön – nein, er sieht schrecklich aus. Aber meine Tochter sieht so aus, wie sie Gott geschaffen hat.»

Die Verstümmelung weiblicher Genitalien umfassen sämtliche Prozeduren, welche die Teil- oder Totalentfernung der äusserlichen weiblichen Genitalien oder andere Verletzungen der weiblichen Genitalorgane aus nicht-medizinischen Gründen betreffen.

Diese Praxis kommt am häufigsten in den westlichen, östlichen und nordöstlichen Regionen Afrikas vor sowie in einigen asiatischen und nahöstlichen Ländern – ebenso bei Migranten aus diesen Regionen. Befürworter der weiblichen Genitalverstümmelung führen kulturelle, religiöse und soziale Gründe an.

Weibliche Genitalverstümmelung wird in vier Haupttypen eingeordnet:

Typ I (auch «Sunna“ oder «Sunnah»): teilweise oder vollständige Entfernung des äusserlich sichtbaren Teils der Klitoris (Klitoridektomie) und/oder der Klitorisvorhaut (Klitorisvorhautreduktion).

Typ II: teilweise oder vollständige Entfernung des äusserlich sichtbaren Teils der Klitoris und der inneren Schamlippen mit oder ohne Beschneidung der äußeren Schamlippen (Exzision).

Typ III (auch Infibulation): Verengung der Vaginalöffnung mit Bildung eines deckenden Verschlusses, indem die inneren und/oder die äusseren Schamlippen aufgeschnitten und zusammengefügt werden, mit oder ohne Entfernung des äusserlich sichtbaren Teils der Klitoris.

Typ IV: In dieser Kategorie werden alle Praktiken erfasst, die sich nicht einer der anderen drei Kategorien zuordnen lassen. Die WHO nennt beispielhaft das Einstechen, Durchbohren, Einschneiden (Introzision), Abschaben sowie die Kauterisation von Genitalgewebe.

(Quelle: Weltgesundheits-Organisation WHO)

(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)

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