Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Visionen statt Illusionen über Jerusalem

Junger Palästinenser vor seinem Haus bei Har Homa. Durch den forcierten jüdischen Wohnungsbau in dem besetzten Stadtteil Ostjerusalems werden viele Palästinenser vertrieben. Keystone

Stockende Friedensgespräche, Siedlungsbau in den besetzten Gebieten, anhaltende israelische Belagerung des Gazastreifens – die Lage im Nahen Osten ist fast hoffnungslos. Dennoch verfolgt das Schweizer Lassalle-Institut sein Jerusalem-Friedensprojekt weiter.

Die Regierung von US-Präsident Barack Obama hat am 8. Dezember eine Kehrtwende in ihrer Nahost-Politik vollzogen. Sie gab im Streit mit Israel um den Bau neuer Siedlungen nach und liess die Forderung nach einem neuen  Moratorium fallen.

Nicht beeindrucken durch die politische Realität lässt sich das Lassalle-Institut in Bad Schönbrunn bei Zug, das sich an Führungskräfte in Wirtschaft, Politik und anderen Bereichen der Gesellschaft mit dem Schwerpunkt Ethik aus ganzheitlichem Bewusstsein richtet. «Jerusalem – Offene Stadt zum Erlernen des Friedens in der Welt» ist das wichtigste Projekt des Instituts.

«Eine Formulierung, die sich auf die ältesten Traditionen und Visionen zu dieser Stadt der drei Religionen bezieht», präzisiert Pia Gyger gegenüber swissinfo.ch. Sie ist Mitglied des Katharina Werks Basel, einer ökumenischen Gemeinschaft interreligiöser Ausrichtung, sowie Mitbegründerin und Mitarbeiterin des Lassalle-Instituts.

«Hoffnung wider alle Hoffnungslosigkeit»

Anfang November hatte die israelische Stadtverwaltung von Jerusalem den Bau von fast 1700 Wohnungen in den auf besetztem Gebiet liegenden Stadtteilen Har Homa, Pisgat Zeev und Ramot bewilligt. Anfang Dezember wurde der Bau von weiteren 625 Wohnungen im Nordosten der besetzten Stadt bewilligt.

Auf die Frage, ob da die Vision von Jerusalem als offener Stadt nicht illusorisch sei, antwortet Pia Gyger: » Wenn ich eine klare Vision, den entsprechenden Durchhaltewillen und eine realpolitische Mission habe, dann ist das nicht illusorisch, sondern Hoffnung wider alle Hoffnungslosigkeit.»

Es sei eine Tatsache, dass in Ostjerusalem Fakten geschaffen würden, sagt Niklaus Brantschen gegenüber swissinfo.ch. Er gründete 1995 zusammen mit Pia Gyger das Lassalle-Institut.

«Tatsache ist aber auch, dass einer unserer wichtigsten Partner beim Jerusalem-Projekt, Rami Nasrallah vom palästinensischen International Peace and Cooperation Center IPCC, in den letzten Jahren die Zerstörung von 4000 von Palästinensern bewohnten Häusern verhindert hat. Man darf nicht nur das sehen, was schief läuft. Man muss auch das sehen, was dagegen getan werden kann.»

Jerusalem-Konferenz

Gyger und Brantschen waren kürzlich in Jerusalem, wo sie zusammen mit ihren Partnern, dem IPCC und dem israelischen Futura-Institut FI, die erste Internationale Konferenz ‹Jerusalem: The Global Challenge› für die Heilige Stadt veranstalteten. Die Konferenz beinhaltete auch stadtplanerische Elemente, die für Jerusalen und sein Hinterland wichtig sind.

    

Die allgemeine Stimmung in der Stadt erlebte Pia Gyger als depressiv, hoffnungslos. Dass diese Konferenz in Jerusalem überhaupt stattfinden konnte, werten sie, das IPCC und das FI indessen als grossen Erfolg.

Viel Versöhnungsarbeit notwendig

Notwendig sei viel Versöhnungsarbeit zwischen Israelis und Palästinensern, sagt Pia Gyger. «Beide Seiten sind traumatisiert und verletzt. Und wir Europäer sind die Auslöser des israelischen Traumas.»

Man höre immer wieder zwei Hauptparolen: in Israel security, Sicherheit, und in Palästina occupation, Besatzung. Auch wenn diese Wörter begründet seien, müssten die Leute wissen, «so kommen wir nicht weiter, es braucht noch etwas ganz anderes: Versöhnung».

Für Niklaus Brantschen ist es von israelischer Seite her unerlässlich, das Wort Ehre zu respektieren: «Ehre ist für Araber, Palästinenser sehr wichtig. Wenn man sich an israelischen Checkpoints zu den Palästinenser Gebieten befindet, scheint es, dass die Ehre des palästinensischen Volkes systematisch zu wenig respektiert wird.»

Umgekehrt sei in Israel das Leben des Einzelnen, das Leben des Volkes ganz zentral. Darum das Bedürfnis nach Sicherheit. «Aber leben möchten auch die anderen. Und Ehre gebührt allen Menschen», so Brantschen.

Jerusalem hat höchste Priorität

Israel versucht stets, die Jerusalem-Frage bei Friedensverhandlungen auszuklammern, weil es die Stadt als ungeteilte jüdische Hauptstadt will. Niklaus Brantschen hält dagegen: «Jerusalem darf nicht vergessen werden. Darum müssen wir die Stadt ganz oben auf die Traktandenliste setzen.»

In diesem Punkt sei man sich mit den Projekt-Partnern einig: Dieses Thema dürfe nicht mehr ausgeklammert werden. «Es ist richtig, nicht nur von den Israelis, sondern auch von den internationalen Gremien zu verlangen, dass die Jerusalem-Frage zuoberst auf der Traktandenliste stehen muss.»

Zu spät für Zweistaaten-Lösung?

Durch den forcierten Siedlungs- und Wohnungsbau und die Zerstückelung des besetzten Westjordanlandes wird eine Zweistaaten-Lösung immer mehr verunmöglicht. Zwei Protagonisten des Jerusalem-Projektes, Rami Nasrallah vom IPCC und Shlomo Hasson vom FI, sprachen sich jüngst in der Sendung «Sternstunde Philosophie» des Schweizer Fernsehens dennoch für diese Lösung als einzige Möglichkeit für einen Frieden aus.

Eine Utopie? Niklaus Brantschen: «Solange unsere beiden wichtigsten Partner die Zweistaaten-Lösung mit einer Hauptstadt zweier Völker und dreier Religionen aufrechterhalten, unterstützen wir sie.»

Natürlich gebe es heute auf beiden Seiten Menschen, die sich einen demokratischen, säkularen Staat wünschten, in dem Muslime, Juden und Christen die gleichen Rechte und Pflichten haben, sagt Pia Gyger. Auf dem Anspruch zu beharren, dass Israel ein exklusiv jüdischer Staat sei, ist für sie «ein Eigentor». Hier müssten auch die Religionen neue Modelle, neue Wege aufzeigen.

Spirituelle Dimension

Mit ihrem Jerusalem-Projekt hoffen Pia Gyger und Niklaus Brantschen gemeinsam mit ihren palästinensischen und israelischen Partnern weiterhin auf eine friedliche Zukunft im Nahen Osten.

«Wir nehmen die Kraft dafür nicht von irgend welchen rationalen Überlegungen – die machen wir uns auch, wir sind nicht blauäugig. Wir schöpfen Kraft aus einer spirituellen Dimension heraus. Diese sagt uns: Jerusalem, wo die drei abrahamitischen Religionen beheimatet sind, ist es wert, dass man sich dafür einsetzt, nicht nur im Interesse der Stadt, sondern im Interesse des Friedens im Nahen Osten und der ganzen Welt», so Brantschen.

Jerusalem wird von Israel als Hauptstadt beansprucht, was von der internationalen Gemeinschaft aber nicht anerkannt wird.

Jerusalem liegt in den Judäischen Bergen zwischen Mittelmeer und Totem Meer und hat rund 800’000 Einwohner. Dort befinden sich der Sitz des israelischen Präsidenten, die Knesset, Einrichtungen der Judikative und Exekutive Israels, die 1918 gegründete Hebräische Universität und die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem.

Jerusalem wurde um 1800 v. Chr. erstmals erwähnt. In der Stadt begegnen sich viele Kulturen der Antike und Moderne. Die Altstadt ist in das jüdische, christliche, armenische und muslimische Viertel gegliedert und von einer Mauer umgeben.

Der politische Status der Stadt ist international umstritten und Teil des Nahost-Konflikts. Ostjerusalem, das bedeutende religiöse Stätten des Judentums, Christentums und des Islam beherbergt, wird von Palästinenser-Organisationen als Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates beansprucht.

Jerusalem wird von Christen, Juden und Muslimen als Heilige Stadt angesehen. Für alle drei dieser Religionen ist Jerusalem als Wirkungsort verschiedener Propheten beziehungsweise Heiliger wie Abraham, Salomon, David, Zacharias und anderen bedeutend.

Die USA haben am 8. Dezember ihre Forderung nach einem neuen israelischen Siedlungsmoratorium aufgegeben. Angesichts des Widerstands der israelischen Regierung sei ein Siedlungsstopp «derzeit nicht die beste Basis für eine Wiederaufnahme der direkten Verhandlungen» zwischen Israel und den Palästinensern, lautete die Begründung in Washington.

Seit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama vor zwei Jahren hatte ein sofortiger Stopp des Baus neuer jüdischer Siedlungen in den palästinensischen Gebieten zu den Kernforderungen der USA an ihren Verbündeten Israel gehört.

Zuletzt hatte Obama noch persönlich an die israelische Regierung appelliert, einen Baustopp zu verlängern, um direkte Gespräche mit den Palästinensern zu ermöglichen. Israels Regierung lehnte dies aber kategorisch ab.

Die jüngste Runde der israelisch-palästinensischen Friedensgespräche war wenige Wochen nach ihrem Beginn im September in Washington vor allem wegen des Streits um die Siedlungen wieder zum Stillstand gekommen.

Meistgelesen
Swiss Abroad

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft