«Soviele Dinge, die man nie mehr nachholen kann»
In der Schweiz gibt es bis anhin keinen gesetzlichen Vaterschaftsurlaub. Dank einer Volksinitiative wird demnächst der Souverän entscheiden, ob ein Vaterschaftsurlaub eingeführt wird. Doch was bedeutet dies konkret? Davide und Arianna haben bereits Erfahrungen gesammelt – auf eigene Initiative.
«Die Annahme dieser Initiative wäre ein grosser Schritt, der das Sozialsystem verändern könnte», meint Davide Dosi zur eidgenössischen Volksinitiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub – zum Nutzen der ganzen FamilieExterner Link«. swissinfo.ch hat Davide und seine Frau Arianna in ihrer Wohnung in Chiasso, einer kleinen Gemeinde von 8000 Einwohnern an der Grenze zu Italien, getroffen.
Die beiden Akademiker sind überzeugte Anhänger der Volksinitiative, auch wenn eine Annahme für sie keinerlei persönliche Vorteile hätte. Davide Dosi könnte vom bezahlten Vaterschaftsurlaub nicht profitieren, da seine beiden Töchter Anna und Elena schon 11 beziehungsweise 7 Jahre alt sind.
«Das kann mir niemand mehr nehmen»
Initiative für Vaterschaftsurlaub
Im Schweizer Parlament sind rund 30 Vorstösse zur Einführung eines Vaterschafts- oder Elternurlaubs gescheitert. Im Mai 2016 lehnte der Nationalrat eine entsprechende parlamentarische Initiative äusserst knapp ab. Die christlich orientierte Gewerkschaft Travail.SuisseExterner Link entschied daraufhin, eine eidgenössische Volksinitiative unter dem Titel «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub – zum Nutzen der ganzen FamilieExterner Link» zu lancieren.
Laut Initiativtext wird ein Vaterschaftsurlaub von mindestens vier Wochen gefordert. Konkret geht es um 20 Tage bezahlten Vaterschaftsurlaub – flexibel und tageweise innert einem Jahr nach der Geburt zu beziehen.
Die Unterschriften für diese Volksinitiative kamen in kürzester Zeit zusammen. In 12 Monaten wurden 107’000 Unterschriften gesammelt, davon 30’000 über die Online-Plattform WeCollectExterner Link. Am 18. Oktober teilte die Schweizer Regierung mit, dass sie die Initiative dem Parlament zur Ablehnung empfehlen werde.
Die Unterstützung für die Volksinitiative gründet auf eigenen Erfahrungen. Denn Davide Dosi hat seinen Vaterschaftsurlaub aus dem eigenen Sack finanziert. Nach dem Ende des Mutterschaftsurlaubs seiner Frau Arianne hat er zweimal seine Arbeitszeit um 20 Prozent und jeweils für sechs Monate reduziert. Noch heute spricht er voller Begeisterung von dieser Zeit.
«Da ich mehr zu Hause blieb, konnte ich sehen, wie meine Kinder gewachsen sind. Das ist eine bereichernde Erfahrung, die mir niemand mehr nehmen kann», betont Davide. Er habe seine Kinder so besser kennenlernen können. «Wenn du diese Erfahrungen nicht genau in dieser Lebensphase machst, wird es nicht mehr möglich sein. Das kann man später nicht nachholen», fügt Davide an. Wenn er über diese Erfahrung spricht, merkt man, wie ernst es ihm ist. Und der Gesichtsausdruck von Arianna macht klar, dass sie seine Gefühle teilt.
Freude und Schwierigkeiten
Natürlich gibt es nicht nur Glücksmomente im Leben eines jungen Vaters, sondern auch Schwierigkeiten und Probleme. Die Gesamtheit der Erfahrungen führe zu einem Reifeprozess, sagt Davide Dosi. «Du merkst wirklich, was es bedeutet, allein mit den Kindern zu Hause zu sein. Das ist eine prägende Erfahrung.» Und dies trägt zum gegenseitigen Verständnis bei, nicht nur zwischen Vater und Kindern, sondern auch zwischen den Ehepartnern.
Die Rollenteilung könne aber auch zu Spannungen führen, weil zwei Bezugspersonen – und nicht bloss eine – die Regeln gegenüber den Kindern festlegten, meint Davide. Zwischen ihm und seiner Partnerin Arianna hätte es öfter Meinungsverschiedenheiten gegeben. «Daher braucht es eine Bereitschaft zum gemeinsamen Gespräch», hält er fest. «Ich habe festgestellt, dass Davide in bestimmten Situationen vollkommen anders reagiert. Man kann also voneinander lernen», sagt Arianna.
Eine privilegierte Situation
Das Paar hat keine Zweifel: Es würde alles wieder gleich machen, auch wenn dies den Verzicht auf einen Teil des Lohns bedeutet. «Doch wir haben dies nie als Last oder Opfer gesehen. Die Erfahrungen, die ich mit meinem Mann und meinen Kindern teilen konnte, lassen sich nicht mit Geld aufwiegen», sagt Arianna.
Allerdings gibt sie zu bedenken, dass sie sich in einer privilegierten Situation befunden hätten. Beide sind Akademiker. Arianne arbeitet als Verantwortliche für internationale Beziehungen an der Universität der italienischen Schweiz (USI). Davide ist Historiker und Bibliothekar. «Wir konnten auf Grund unserer Gehälter die Arbeitszeit reduzieren, auch weil unsere Arbeitgeber viel Verständnis für den Entscheid aufgebracht haben.»
Rechtsgleichheit für Väter
Sollte die Volksinitiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub» angenommen werden, wäre diese Form der Betreuung im ersten Lebensjahr der Kinder nicht mehr von den Einkommensverhältnissen der Familie und dem Goodwill der Arbeitgeber abhängig. Denn der Vaterschaftsurlaub würde zu einem verbrieften Recht der Väter.
«Das ist für mich das Wichtigste an dieser Initiative: Der Vaterschaftsurlaub wird endlich als ein Recht der Väter anerkannt. Genauso wie jede Mutter hätte auch ein Vater da Recht, sich um die eigenen Kinder zu kümmern. Damit ist es keine individuelle Entscheidung mehr. Und dies ist ein fundamentaler Unterschied. Es wäre eine grosse soziale Veränderung», betont Davide.
Die Zeit für diesen Wandel scheint reif zu sein. Dies zeigt allein schon die Tatsache, wie schnell die nötigen Unterschriften für die Volksinitiative gesammelt wurden. Und Meinungsumfragen bestätigen den Trend: Demnach sind 80 Prozent der Befragten für die Einführung des neuen gesetzlichen Vaterschaftsurlaubs.
Eine demokratische Debatte
Davide Dosi bleibt jedoch mit beiden Füssen am Boden. «Die Dinge verändern sich, wenn auch langsam. Ich glaube, dass bei Männern ein radikaler Mentalitätswandel stattfinden muss», sagt der Familienvater. Arianna Dosi hingegen betont, die Mütter müssten nicht immer davon ausgehen, dass ihre Männer nicht in der Lage seien, die Kinder zu erziehen und kein Interesse daran hätten, Familienaufgaben zu übernehmen. «Man muss sie fragen, und vielleicht übernimmt der Ehemann diese Aufgaben gerne. Es braucht das gemeinsame Gespräch. Denn in diesen Fragen findet keine automatische Gedankenübertragung statt.»
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(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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