«Schon als Kind hielt ich Messen im Schlaf»
Er wurde im Alter von fünf Jahren zum Mann. Gérald Chukwudi Ani musste dafür kämpfen, seine Träume zu verwirklichen und seiner Berufung zu folgen. Seine Geistesstärke vermittelt er heute in seiner Pfarrei und in den Schulen des Kantons Tessin.
Sein Teamkollege hatte einen präzisen Pass in den Strafraum geschlagen. Gérald Chukwudi Ani hätte den Ball kontrolliert auf der Brust annehmen und ins Netz kicken können. Er hätte sicherlich weitere Tore geschossen und seine vielversprechende Karriere im Fussball fortgesetzt.
Doch er wollte aus der Drehung heraus schiessen. Der 15-Jährige fiel unglücklich zu Boden und verletzte sich am Rücken. Eine Verletzung, die einen möglichen Fussballgott… in einen Diener Gottes verwandelte.
So könnte die Geschichte von Pater Gérald anfangen, den wir im Haus der Kirche San Cristoforo in GranciaExterner Link treffen, einem kleinen Ort im Kanton Tessin wenige Kilometer südlich von Lugano. Er begrüsst uns mit einem Lächeln, das seine ganze Erzählung begleiten wird. Der 45-Jährige erinnert sich an jedes Detail seiner Kindheit in Nigeria und die Erfahrungen, die er in Europa gemacht hat: Namen, Daten, Orte und sogar die Kleidung, die er zu einem bestimmten Anlass trug.
«Die Opferhaltung tut mir am meisten weh. Ich bin nie herumgesessen und habe auf andere gewartet.»
Hütte mit 24 Katzen und 12 Hunden
Gérald Chukwudi Ani wird am 15. Dezember 1974 in AgbaniExterner Link geboren, im Südosten Nigerias, dort wo zwischen 1967 und 1970 der Staat Biafra lag. Sein Vater ist ein animistischer Priester, seine Mutter arbeitet auf den Feldern und verkauft vor dem Haus Maispudding und Omeletten. «Wir waren viele. Mein Vater war polygam und hatte vier Frauen. Er hatte insgesamt 21 Kinder und etwa hundert Enkelkinder», erzählt er.
Die Familie lebt im Wald. Mit der Mutter und acht Brüdern teilt sich Gérald eine Hütte aus Lehm und Bambus. «Neben uns schliefen auch 24 Katzen und 12 Hunde. Wir hätten die Arche Noah füllen können», sagt er vergnügt.
Jeden Tag stehen sie mit dem zweiten Hahnenschrei auf, um arbeiten zu gehen. Zum Brunnen für das Wasser und zur Mühle, um Mais und Bohnen zu mahlen, jeweils eine Stunde Fussweg von zu Hause weg. Wenn die Jahreszeiten der Aussaat und Ernte kommen, begleitet er seinen Vater in den Wald, mit den Geistern der Natur. Dort wird er Zeuge von animistischen Zeremonien und Tieropfern. «Das Leben war schwierig. Doch wir hatten zumindest etwas zu Essen und lebten mit dem, was wir produzierten, ohne grosse Erwartungen zu haben.»
«Der schlimmste Tag meines Lebens»
29. September 1979. Der fünfjährige Gérald hat die Arbeit satt. Er will seinen Schuleintritt vorziehen, der in der Regel mit sechs Jahren möglich ist. Die ältere Schwester begleitet ihn zur Dorfschule, wo ihn der Direktor zur «Hand-hoch-Prüfung» erwartet. «Man musste den Arm hochstrecken, den Unterarm auf den Kopf legen und sein Ohr mit den Fingern berühren können. Wer das schaffte, war reif für die Schule.»
Der kleine Gérald schafft diese Prüfung nicht. «Ich hatte das Gefühl, der Direktor habe meinen Traum zerstört, zur Schule gehen zu können.» Niedergeschlagen rennt er nach Hause, um Trost bei seinem Vater zu suchen. Doch daheim findet er seine Mutter, in Tränen aufgelöst.
«Dein Vater ist tot», sagt sie ihm. Ihr Mann war bei der Feldarbeit gestürzt. Und weil das nächste Spital zwei Stunden entfernt war, starb er während des Transports. «Im Moment, wo ich ihn am meisten gebraucht hätte, fehlte er mir. Das war der schlimmste Tag meines Lebens», erinnert sich Pater Gérald.
Bei der Mutter bleiben nur die jüngeren Brüder – die Schwestern waren in der Zwischenzeit ausgezogen. Mit fünf Jahren wird Gérald der Mann in der Familie. Im Jahr darauf wird er zur Grundschule zugelassen. Und nach einem schwierigen Start gehört er bald zu den Klassenbesten.
Dann, eines Nachts, im Alter von zehn Jahren, macht er eine Erfahrung, die sein Leben für immer verändern sollte. «In jenem Moment hat alles angefangen», sagt er.
Krankheit? Nein, göttliches Zeichen
«Ich hatte einen komischen Traum: Ich stand da mit ausgestreckten Armen und sang Dinge, die ich nicht verstand. Erst später habe ich realisiert, dass ich die Heilige Messe auf Lateinisch feierte», erzählt er. Dieser Traum kommt jede Nacht wieder. Die Mutter reagiert beängstigt und schlägt ihren Sohn. «Sie dachte, ich sei in den Fängen der bösen Geister, die meinen Vater getötet hatten.»
Die Mutter will Gérald für einen Exorzismus zu einem Schamanen bringen. «Sobald er uns kommen sah, nahm der Schamane Reissaus. Er schrie meine Mutter an, sie solle mich wegbringen. Er sagte, er sehe etwas in mir. Ich aber fühlte mich normal, ich verstand es nicht.»
Einige Zeit später zeigt ihm ein Freund, mit dem er Fussball spielt, den Weg. Der in der Stadt aufgewachsene Junge besucht die Kirche und lädt ihn ein, sonntags einen Gottesdienst zu besuchen. Gérald zieht seine schönste kurze Hose an, «jene mit nur einem Loch», und betritt zum ersten Mal dieses riesige Gebäude, das er immer schon von weitem gesehen hatte. «Die Kirche war übervoll. Ich war total verwirrt.»
Als er die lateinischen Worte des Priesters hört, die gleichen Worte, die er im Schlaf murmelt, platzt ihm der Kopf. Er schreit, zieht damit die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich, und rennt aus der Kirche hinaus. Nur wenige Tage später erklärt ihm der Priester, dass dies keine Krankheit sei, sondern ein göttliches Zeichen. «Er sagte mir, ich sei dazu ausersehen, Priester zu werden.»
Der Sturz – Fluch oder Segen?
Folgsam studiert Gérald weiter und schreibt sich für den Katechismus ein. «Ich machte praktisch jeden Job, um die Schule bezahlen zu können. Ich arbeitete auf Baustellen, hackte Holz, pflückte Früchte.»
In der Freizeit widmet er sich seiner grossen Passion, dem Fussball. Er spielt im Team der Schule, der Gemeinde, des Bundesstaats und wird schliesslich für die Jugend-Nationalmannschaft Nigerias selektioniert. Er spielt bis zu jenem «unglücklichen» Sturz im Alter von 15 Jahren. «Ich war fast sechs Monate lang immobil. Ich hatte die Flexibilität verloren. Deshalb entschied ich, den Fussball aufzugeben und mich auf meine Studien zu konzentrieren.»
«Im Tessin fühlte ich mich noch nie wegen meiner Hautfarbe ausgeschlossen.»
Gérald lässt sich taufen und tritt ins Priesterseminar ein. Er schafft das Diplom in Latein, studiert Spiritualität und Lehre der katholischen Kirche und promoviert in Philosophie. Dank eines Stipendiums zieht er nach Italien, wo er zunächst in Rom, dann in Neapel und Catanzaro Theologie studiert.
Am 16. August 2006 wird er in die Schweiz gerufen: Der damalige Bischof von Lugano, Pier Giacomo Grampa, lädt ihn in seine Diözese ein.
Das beste Land der Welt
«Ich wurde im Tessin sehr gut aufgenommen. Viele Nigerianerinnen und Nigerianer erzählen mir von Rassismus, aber ich habe solchen noch nie erlebt. Ich fühlte mich hier noch nie wegen meiner Hautfarbe ausgeschlossen», sagt Pater Gérald.
Seit 2016 ist er Priester von San Cristoforo di Grancia. Zudem unterrichtet er Religionsgeschichte in den Mittelschulen der Gegend. Zwischen Messen und Schulstunden pflegt er weiterhin seine Leidenschaft für den Fussball. «Ich organisiere oft Fussballturniere. Ich fühle mich hier überhaupt nicht allein. Ich denke, ich werde mein ganzes Leben hier verbringen. Aber wenn der Bischof es mir gewähren würde, könnte ich auch nach Nigeria zurückkehren, das Land, das für mich das beste der Welt bleibt.»
Vorerst begnügt sich der Priester mit einem Besuch pro Jahr. Das letzte Mal im Sommer 2019, wo ihn der Schweizer Fotograf Didier RuefExterner Link begleitete. Pater Gérald freute sich, die Kultur, das Essen, die Musik, die menschliche Wärme und die in seinem Land typischen einfachen Begegnungen wieder zu entdecken. «Mit meinem kleinen Schweizer Lohn versuche ich immer zu helfen, besonders, wenn ich eine Person treffe, die studieren will.»
Ein Aspekt aber ärgert ihn: Wenn er als «Retter des Vaterlands» bezeichnet wird. In seinem Geburtsort wollen alle von ihm Hilfe, einen Rat, Geld. Viele wünschen sich, dass er ihre Kinder mit nach Europa nimmt. «Das ist aber nicht die Lösung!», platzt es aus ihm heraus. «Diese Opferhaltung tut mir am meisten weh. Ich bin nie herumgesessen und habe auf andere gewartet. In Nigeria verlangen alle etwas, aber niemand handelt.»
Und in Nigeria gebe es sogar mehr Möglichkeiten als in der Schweiz. «Man kann etwas auch ohne Geld anfangen, von heute auf morgen.» Der Priester hat Verständnis für die Probleme seines Landes, von der staatlichen Untätigkeit bis hin zur Korruption und den religiösen Konflikten. Das sei aber nicht Grund genug, die Hände einfach in den Schoss zu legen, betont er. «Ich sage meinen Landsleuten immer: Macht etwas für Euch selber! Ich hoffe immer noch, dass sich das eines Tages ändern wird.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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