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Wachsende Sorge um Menschenhandel in Sexbranche

Keystone

Wie Vieh wurden Frauen von Bordell zu Bordell verschoben, durch Drohungen und Gewalt unter Kontrolle gehalten: Der Fall Bolenberg, zurzeit vor Gericht, zeigt die düsteren Verbindungen zwischen Prostitution und Frauenhandel auf – ein Thema, das vermehrt Sorge auslöst.

2007 hatte die Polizei gleichzeitig in zwei Bordellen – eines im ländlichen Kanton Schwyz, das andere im malerischen Nidau im Kanton Bern – Razzien durchgeführt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft waren dort mindestens 23 Frauen zur Prostitution gezwungen worden.

Letzten Monat begann der Prozess im Fall Bolenberg. Es geht um einen der grössten Menschenhandels-Skandale in der Schweiz. Neun Männer und eine Frau stehen vor Gericht – wegen Menschenhandel und Förderung der Prostitution. Nach den ersten Verhandlungstagen wurde der Prozess auf den 5. Juni vertagt.

Im letzten Jahr wurden in der Schweiz behördlich 61 Fälle von Menschenhandel registriert. In der Mehrheit der Fälle ging es um sexuelle Ausbeutung.

Die Frage, die Strafverfolgungsbehörden, politische Kreise und Aktivistinnen in der Schweiz am meisten beschäftigt, ist, wie verbreitet Menschenhandel in Form von Zwangsprostitution ist, und wie Frauen und Mädchen, die in diesem Netz gefangen sind, am besten geschützt werden können.

Nach langer Vorlaufzeit begann Anfang April 2014 der Prozess im Fall Bolenberg. Es handelt sich um einen der grössten Fälle von mutmasslichem Menschenhandel in der Schweiz.

Neun Männer und eine Frau müssen sich wegen Menschenhandel und Förderung der Prostitution vor Gericht verantworten. Weitere individuelle Anklagen umfassen unter anderem Vergewaltigung und Veruntreuung.

Seinen Anfang hatte der Fall 2007 mit Polizeirazzien in der Bolenberg Bar im Kanton Schwyz und in einem Bordell in Nidau im Kanton Bern genommen.

Die Ermittler kamen zum Schluss, dass mehr als 20 Frauen, die in Bulgarien, Rumänien und der Tschechischen Republik angeworben worden waren, über acht Monate unter Zwang als Prostituierte gearbeitet hatten. Sie wurden auch an andere Bordelle vermietet und einigen der Frauen war der Pass abgenommen worden.

Das Verfahren wurde auf den 5. Juni vertagt. Zuvor hatte die Verteidigung argumentiert, wegen überlanger Verfahrensdauer sei der Prozess einzustellen, falls nicht, seien die Angeklagten freizusprechen.

Im Mai 2013 war ein ehemaliger Manager des Bordells in Nidau zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden – wegen Menschenhandel und Förderung der Prostitution. Von den Vergehen waren in einem Zeitraum zwischen 2003 und 2007 insgesamt 45 Frauen betroffen.

Freier Wille? 

Ein jüngst veröffentlichter Bericht des Europarats unter dem Titel «Prostitution, Menschenhandel und moderne Sklaverei» machte das Ausmass des Problems deutlich.

Berichterstatter José Mendes Bota sagte gegenüber swissinfo.ch, alle Informationen wiesen auf die Tatsache hin, dass die Mehrheit der Prostituierten heute zu dieser Arbeit gezwungen würden. Die meisten kämen aus armen Verhältnissen.

«Ich betrachte es als Mythos, dass die Mehrheit der Prostitution freiwillig erfolgt. Nur eine sehr kleine Minderheit trifft tatsächlich diese Wahl.»

Allerdings gibt es keine verlässlichen Statistiken über die Verhältnisse der Sexarbeiterinnen in Europa, auch nicht in der Schweiz, wie Mendes Bota herausfand, als er für seine Erkundungsmission das Land besuchte.

«Jeder Kanton oder jede Gemeinde hat eine eigene Sicht, wie mit dem Phänomen Prostitution umzugehen ist, wo Prostitution stattfindet und wie man sie kontrollieren soll. Aber es gibt keine nationale oder kantonale Zusammenstellung von Daten. Um gegen das Phänomen vorzugehen, brauchen wir mehr Aufsicht, mehr Details», erklärte er.

Sexuelle Ausbeutung

Bevor er seinen Bericht schrieb, hatte Mendes Bota Schweden, Deutschland, die Niederlande und die Schweiz besucht. Konnte er sich ein wahres Bild der Sexbranche in der Schweiz machen?

Nicht nach Ansicht der FIZ, der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, einer Nichtregierungs-Organisation aus Zürich, die sich auf den Schutz von Opfern von Frauenhandel spezialisiert hat und Beratungsdienste in zehn Kantonen anbietet. Die FIZ arbeitet eng mit der Polizei zusammen, um Opfer von Frauenhandel zu identifizieren.

Mit ihrem Opferschutzprogramm hilft die FIZ jedes Jahr rund 200 Frauen, die Opfer von Menschenhandel wurden. Etwa die Hälfte sind jeweils neue Fälle, die anderen stammen aus vorausgegangenen Jahren. Einige der Opfer kommen und gehen rasch wieder, andere werden während mehreren Jahren betreut beim Aufbau eines neuen Lebens.

Angesichts der Tatsache, dass die Identifizierung von Opfern schwierig ist, glaubt Susanne Seytter von der FIZ, dass die Gesamtzahl der Sexarbeiterinnen, die Opfer von Frauenhandel wurden, höher ist. In der Schweiz sei aber immer noch eine Minderheit der Sexarbeiterinnen davon betroffen.

«Sexarbeit ist in der Schweiz legal, Menschenhandel hingegen eine ernsthafte Verletzung der Menschenrechte und ein Verbrechen», fügte Seytter hinzu.

Ungeachtet der Proportionen bleibt das gemeinsame Ziel der Schutz der Opfer von Menschenhandel. Angesichts des bedeutenden Überlappens der beiden Aspekte glaube die Parlamentarische Versammlung des Europarats, dass «Gesetzgebung und Strategien zur Prostitution unverzichtbare Werkzeuge im Kampf gegen den Menschenhandel sind», erklärte Mendes Bota.

Mindestalter

Das Thema Prostitution steht auch in der Schweiz auf der politischen Agenda, derzeit mit einer Debatte über die Notwendigkeit, die geltende Gesetzgebung zu revidieren. In einem lange erwarteten Schritt hatte das Schweizer Parlament im September 2013 das legale Mindestalter für Sexarbeiterinnen von 16 auf 18 Jahre erhöht.

In der Schweiz arbeiten schätzungsweise 20’000 Prostituierte, nicht alle legal, in einem Wirtschaftszweig, dessen Wert auf rund 3,2 Mrd. Franken geschätzt wird.

Im letzten Jahr beauftragte Justizministerin Simonetta Sommaruga eine Expertengruppe unter Leitung der ehemaligen Politikerin Kathrin Hilber damit, Schutzmassnahmen für Frauen im Sexgewerbe unter die Lupe zu nehmen. Der Bericht der Expertengruppe, der im März 2014 vorgelegt wurde, empfiehlt die Entwicklung einer nationalen Rahmenpolitik zur Sexarbeit.

«Das Problem ist, dass es kleine Kantone gibt, die praktisch nichts tun, um der illegalen Prostitution einen Riegel zu schieben, weil ihnen die Ressourcen fehlen und sie auch kaum Erfahrung haben», erklärte Kathrin Hilber gegenüber swissinfo.ch.

«Es braucht landesweit geltende Regeln, damit alle Frauen in der Schweiz den gleichen Schutz haben, damit es keine Schlupflöcher für illegale Prostitution und Menschenhandel gibt», erklärte sie weiter.

Viele der 26 detaillierten Empfehlungen in dem Bericht tönen ähnlich wie jene von Mendes Bota: Opferschutz, internationale Zusammenarbeit und die Rechte von Sexarbeiterinnen verstärken. Abgelehnt hat die Schweizer Expertengruppe jedoch die Option der Kriminalisierung von Sex gegen Geld, wie es Schweden mit seinem Prostitutionsverbot tut: Der Freier wird dort im Fall von Widerhandlungen bestraft, nicht aber die Sexarbeiterin.

«Es ist unrealistisch, würde einen falschen Akzent setzen und bedeuten, dass die Ressourcen der Polizei nicht auf Schutz ausgerichtet wären», sagte Hilber.

Petra (Name geändert) ist eine junge Frau aus Osteuropa. Sie wurde von einem Bekannten, den sie in einer Disco kennen gelernt hatte, auf eine Gastronomie-Stelle in der Schweiz hingewiesen.

Petra hat zwei kleine Kinder und ihre Mutter ist schwer krank. Ihr Lohn als Verkäuferin reichte nicht aus, die Lebenskosten zu decken. So meldete sie sich für die Stelle.

Ihr wurden ein guter Lohn, eine Arbeitsbewilligung und die Rückerstattung der Reisekosten versprochen. Das Angebot wirkte interessant und seriös. Auch das Zielland Schweiz, der Demokratie und den Menschenrechten verpflichtet, war vertrauenerweckend.

In der Schweiz angekommen, wurde sie von einem Schweizer am Flughafen abgeholt. Dieser brachte sie direkt in sein Bordell. Dort sagte ihr die Geschäftsführerin, dass sie Freier bedienen müsse, dass sie alle Wünsche zu erfüllen habe.

Es wurde ihr klargemacht, dass sie für organisatorische Kosten 20’000 Franken abzahlen müsse, dann sei sie frei und könne ihren Verdienst behalten. Wenn sie sich wehren würde, werde ihr oder ihrer Familie etwas geschehen. Pass und Flugticket wurden Petra weggenommen.

(Quelle: FIZ)

Normales Geschäft

In der Prostitutions-Debatte in der Schweiz wird davon ausgegangen, dass die Branche sich mehrheitlich korrekt verhält, Prostitution wird als normales Geschäft betrachtet, in dem Frauen unabhängig sein können, in einigen Kantonen müssen sie dafür Businesspläne vorlegen.

Hilber bestätigt dies. «Es ist wahr, es gibt geschäftsmässige, freie Prostitution. Und das muss anerkannt werden. Das moralische Stigma muss wegfallen, so dass dies eine Arbeit wie alle anderen wird, und auch die Rechte der Arbeiterinnen durchgesetzt werden können.»

In Fällen, in denen Sexarbeiterinnen unter Zwang und Kontrolle stehen, sind es nur selten die Opfer selber, die um Hilfe nachsuchen. Etwa die Hälfte der Opfer von Menschenhandel, die von der FIZ betreut werden, werden von der Polizei überwiesen, die anderen durch Dritte, die mit Opfern in Kontakt kommen wie Sozialarbeiterinnen, Kolleginnen, Kunden oder Spitalpersonal.

«Es ist sehr wichtig, dass wir nicht hier sitzen und darauf warten, dass Opfer von Menschenhandel an unsere Tür klopfen, sondern dass wir hinausgehen und die Leute darin schulen, was Menschenhandel bedeutet, wie die Opfer identifiziert werden können, worauf zu achten ist, wie man helfen kann», sagte Seytter.

Menschenhandel sei ein «Kontrolldelikt», erklärte Boris Mesaric, Leiter der Schweizer Koordinationsstelle gegen Menschenschmuggel und Menschenhandel (KSMM). «Je mehr man danach sucht, umso mehr Delikte findet man.»

Im Fall Bolenberg (siehe Infobox) waren einige der Frauen aus Rumänien, Bulgarien und der Tschechischen Republik von der rumänischen Freundin und späteren Ehefrau des Bordellbesitzers rekrutiert worden, die früher selber Opfer von Menschenhandel geworden war.

Menschenhandel ist in Europa weit verbreitet: Die Zahl der Opfer liegt pro Jahr bei schätzungsweise 70’000 bis 140’000. Mehr als vier von fünf Opfern werden sexuell ausgebeutet, vor allem Frauen und Mädchen.

In der Schweiz wurden im letzten Jahr 61 Fälle von Menschenhandel registriert. Bei der grossen Mehrheit ging es um sexuelle Ausbeutung. 2012 waren es 78 Fälle gewesen, die wichtigsten Herkunftsländer waren Rumänien, Ungarn, Bulgarien und Thailand.

Die Tatsache, dass sich das Bundesamt für Polizei 2012 mit 345 nationalen und internationalen Anfragen befasste, ist ein Zeichen dafür, dass diese Verbrechen in grösserem Umfang geschehen.

Komplexes Verbrechen

«Menschenhandel ist ein komplexes Phänomen, ein komplexes Verbrechen – und man muss mit multidisziplinärem Ansatz dagegen vorgehen. Es braucht Präventionsarbeit und Strafverfolgungen, aber wir müssen uns auch um Opferschutz und Zusammenarbeit kümmern», erklärte Mesaric gegenüber swissinfo.ch.

Mesaric betrachtet die Art der lokalen Zusammenarbeit zwischen der FIZ, die sich auf die Betreuung der Opfer konzentriert, und der Zürcher Polizei, die im Rotlicht-Distrikt arbeitet, als sehr wichtig im Kampf gegen den Menschenhandel.

«Es ist eine Arbeitsteilung. Die Polizei führt die Ermittlungen durch, die NGO kümmern sich um die Opfer, die wichtigsten Zeuginnen im Kampf gegen die Täter. Die Opfer sind meist traumatisiert, können in sehr schlechtem Zustand sein. Sie müssen stabilisiert werden, und man muss sie betreuen.»

Laut Seytter brauchen die Frauen, um die sich die FIZ im Rahmen ihres  Schutzprogramms kümmert, Zeit, um zur Ruhe zu kommen und nachzudenken, bevor sie entscheiden können, ob sie als Zeuginnen gegen ihre Peiniger auftreten werden. «Die Frauen haben grosse Angst.»

«Wir sehen auch, dass sich die Frauen nicht ausreichend geschützt fühlen, weil Opfer von Menschenhandel unter geltender Schweizer Gesetzgebung nur [in der Schweiz] bleiben und von Rehabilitationsmassnahmen profitieren können, wenn sie mit den Behörden zusammenarbeiten und gegen Menschenhändler aussagen. Sonst müssen sie die Schweiz oft verlassen, weil sie keine Aufenthaltsbewilligung haben. Das erschwert unsere Arbeit.»

Ermittlungen über Menschenhandel erforderten viele Ressourcen, ähnlich viel wie anspruchsvolle Mordfälle, erklärte Mesaric.

«Die Polizeikräfte in der Schweiz sind relativ klein, und es ist oft eine Frage der Ressourcen. Daher ist es wichtig, dass den Leuten klar wird, dass es auch in der Schweiz Menschenhandel gibt, und dass wir etwas dagegen tun müssen.»

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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