Wärme und Gesellschaft in der Notschlafstelle
In vielen grösseren Schweizer Städten gibt es Notschlafstellen. Während der Wintermonate steigt die Nachfrage vielerorts, so auch im "Sleeper" in Bern. In der Weihnachtszeit spüren die Gäste nicht nur die Kälte, sondern auch die Einsamkeit.
«In der kalten Jahreszeit haben wir mehr Gäste als sonst», sagt Brigitte, die heute die Tagesschicht in der Berner Notschlafstelle übernimmt und damit für das Frühstück und das Putzen verantwortlich ist. Zudem achtet sie darauf, dass die Gäste bis spätestens um 10 Uhr draussen sind, denn ein Aufenthalt ist nur zwischen 22 und 10 Uhr gestattet.
20 Betten sind auf drei Zimmer verteilt: Eines ist für Frauen reserviert, eines für Schweizer und eines für Ausländer. «Diese Einteilung hat sich bewährt, denn es gab ab und zu Reibungen zwischen den Schweizern und den Ausländern», erklärt Brigitte, die seit fast zehn Jahren, mit wenigen Unterbrüchen, im Sleeper arbeitet. «Für die Belegung gilt das Prinzip: Wer zuerst kommt, hat ein Bett.»
«Wenn wir schon voll sind, können wir noch zusätzliche Matratzen auf dem Boden anbieten, so wie letzte Nacht», sagt Brigitte. «Wir versuchen, niemanden wegzuschicken.» Sollte es aber doch mal zu wenig Platz haben, dann schicke man die Menschen zu einer anderen Institution, zum Beispiel ins Passantenheim der Heilsarmee.
Der Sleeper ist ein privater Verein. Er finanziert sich über Spenden und soziale Ämter, die eine Kostengutsprache für Menschen aussprechen, die die Einrichtung benützen. Die Einnahmen aus der Bar, die im gleichen Haus ist, kommen ebenfalls in die Kasse.
Ein rund zwanzigköpfiges Team kümmert sich um den Ablauf des Betriebs. Angestellt ist niemand, alle arbeiten freiwillig mit.
Gäste ohne ein Zuhause
Die letzten Gäste der Nacht nehmen das Frühstück zu sich, das im Preis von fünf Franken für die Übernachtung inbegriffen ist. Die meisten Menschen, die in die Notschlafstelle kommen, seien obdachlos, sagt Brigitte: «Sie haben kein Zuhause und keine Wohnung.»
Unterschlupf gewährt die Notschlafstelle jeder Person, unabhängig davon, ob sie aus der Stadt Bern stammt oder nicht. Das Altersspektrum reicht vom 20-jährigen Jugendlichen bis zur Frau im Grossmutteralter.
Manchmal bringe auch die Polizei Menschen zu ihnen, die sie sonst nirgendwo unterbringen könne. Einige bleiben nur für eine einzige Nacht. «Wir haben aber viele Dauergäste, die maximal drei Monate bleiben können», sagt Brigitte und ergänzt: «Danach sollten sie sich etwas Neues suchen. Aber wenn sie nichts finden, dann können sie auch länger bleiben.»
Dass die Gäste überhaupt obdachlos wurden, hat verschiedene Gründe. «Wir haben viele Drogenabhängige, vor allem junge Leute, aber auch ältere, die nicht mehr zurecht kommen in der heutigen Gesellschaft», sagt Brigitte.
«Es sind Menschen, die Mühe haben, sich einzugliedern, eine Wohnung sauber zu halten oder ihre Finanzen im Griff haben», erklärt sie.
Viele seien lange einer geregelten Arbeit nachgegangen und hätten ein normales Leben geführt. «Wegen Arbeitslosigkeit oder Suchtproblemen landeten sie schliesslich auf der Strasse.» Es könne dabei alle Schichten treffen: «Vom Zahnarzt bis zum Arbeiter.»
Einsamkeit und Festessen zu Weihnachten
Der Sleeper ist jede Nacht geöffnet, auch zu Weihnachten. Im gleichen Gebäude, das von aussen baufällig aussieht, drinnen aber warm ist, befindet sich zudem die Gassenküche.
«Zum Teil benutzen die gleichen Gäste die Gassenküche und die Notschlafstelle», sagt Brigitte. «Es gibt aber auch solche, die nicht viel Geld für ein Abendessen haben. Bei uns kostet das Essen fünf Franken.»
Es kämen aber auch viele Menschen in die Gassenküche, weil sie nicht alleine essen wollen. Ohnehin sei die Einsamkeit, gerade auch über die Festtage, ein grosses Thema bei den Gästen: «Viele haben keine Familie oder keinen Kontakt mehr zu ihr. Während den Weihnachten spüren sie das vermehrt», erklärt die Mitarbeiterin. Im Sleeper hätten sie wenigstens Gesellschaft.
Während den Festtagen läuft der Betrieb wie gewohnt. «Die Gäste können, wie sonntags und an Feiertagen üblich, bis um 11 Uhr drinnen bleiben», sagt Brigitte und verrät: «In der Gassenküche wird es an Weihnachten ein Festessen geben: einen Braten.»
Das Nötigste wird angeboten
Das Angebot im Sleeper ist auf das Nötigste beschränkt. Menschen, die hier für kürzere oder längere Zeit eine Übernachtungsmöglichkeit finden, können duschen oder ihre Sachen deponieren. Für zwei Franken wird ihnen die Wäsche gewaschen.
Ein Hilfs- oder Betreuungsangebot im Sinne einer Vermittlung an Stellen oder Ämter, wo den Gästen geholfen wird, gibt es nicht: «Bei uns geht es mehr darum, ein warmes Bett zur Verfügung zu stellen», sagt Brigitte.
Nicht nur die Nacht, sondern auch der Tag stelle viele der Gäste vor Probleme, weiss die Mitarbeiterin: «Vielen bereitet der Tag sorgen, weil sie nicht wissen, wie und wo sie ihn verbringen sollen und wie sie Geld für ein Mittagessen auftreiben können.»
Sandra Grizelj, swissinfo.ch
Als obdachlos gelten Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft über keinen zumutbaren Wohnraum, keine zumutbare Übernachtungsmöglichkeit, keine Mittel dazu und über keine Anschrift verfügen.
Die Stadt Bern unterscheidet 3 Arten von Wohnhilfen:
Niederschwellige Wohnhilfen: «Notschlafstellenähnliche» Einrichtungen mit minimaler Betreuung. Aufenthalt ist tagsüber möglich.
Betreutes Wohnen: Betreuung praktisch rund um die Uhr bis hin zur Medikamentenabgabe und zwei warmen Mahlzeiten pro Tag.
Begleitetes oder selbständiges Wohnen: Wohnungen werden zur Verfügung gestellt. Die Bewohner werden nur sporadisch begleitet.
Diese Angebote stellen insgesamt 200 Plätze zur Verfügung.
Obdachlose, die Drogen oder Alkohol konsumiert haben, sind besonders vom Kältetod bedroht.
Schlafen sie draussen ein, sinkt die Kerntemperatur des Körpers von rund 37 Grad ab.
Bei 35°C spricht man von Untertemperatur (Hypothermie), bei 33°C von Unterkühlung. Ab 27°C liegt die Grenze, die zum Tod führt.
Ebenfalls gefährdet sind Menschen mit psychischen Problemen, wenn ihr Kälteempfinden beeinträchtigt ist.
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