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Warum die Burka-Debatte so polarisiert hat

eine Demonstration in Dänemark mit Mitgliedern der Gruppe Kvinder i Dialog (Frauen im Dialog).
Nicht nur in der Schweiz hat die Debatte über ein Verhüllungsverbot die Gesellschaft polarisiert. Hier eine Demonstration in Dänemark mit Mitgliedern der Gruppe 'Kvinder i Dialog' (Frauen im Dialog). Keystone / Martin Sylvest

Obwohl sie nur einen kleinen Kreis von Menschen im Alltag betrifft, wurde die Initiative zum Verhüllungs-Verbot in der Schweiz heftig diskutiert. Das sei typisch, denn um Burka und Nikab sei es bei der Abstimmung gar nicht gegangen, sagen zwei Forscherinnen.

Sind Burka und Nikab eine Erniedrigung von Frauen und ein Symbol für einen Islam, der sich nicht zur Demokratie und ihren freiheitlichen Werten bekennt? Oder ist im Gegenteil ihr Verbot ein Akt der Intoleranz, ein Eingriff in die Privatsphäre und Religionsfreiheit und eine Symbolpolitik im Dienst politischer Propaganda?

Bei der Abstimmung vom 7. März über das Verhüllungsverbot in der Schweiz standen sich diese beiden Argumentationslinien gegenüber. Die Debatte war heftig und lang, obschon, da waren sich viele Beobachter einig, vom Entscheid nur ein paar Dutzend Personen überhaupt betroffen sind. Das wirft die Frage auf, warum das Thema dermassen polarisiert.

Anna Antonakis, Vertretungsprofessorin für Journalistik an der Freien Universität Berlin, sagt, dass Debatten über den Körper der Frau wie auch über Geschlechter generell viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. «Diese Debatten werden in der breiten Öffentlichkeit selten differenziert geführt, sondern bedienen explizit oder implizit Stereotype: unterdrückt versus frei, westlich versus fremd.» Gesellschaften konstruierten sich über Abgrenzungen. Der Frauenkörper, seine Ver- und Enthüllung, seien starke Differenzierungsmarke und würden deswegen mobilisieren.

Antonakis stellt auch fest, dass Fragen von sozio-ökonomischer Ungleichheit oft über solche eher symbolische Themen behandelt würden. «Die eigentlichen Probleme sozialer Ungleichheit, die ja auch gerade in Zeiten von Corona wieder stark hervortreten, werden in den Hintergrund gedrängt. Der Fokus wird auf ein stark symbolisches Thema gelenkt, das die meisten Menschen in ihrem Alltag gar nicht betrifft.»

Ähnlich sieht das Janine Dahinden, Professorin für transnationale Studien am Laboratoire d’études des processus sociaux (LAPS) an der Universität Neuchâtel: Bei der Burka-Debatte sei es eigentlich um Migration und um den Islam gegangen, beides seit langem politisch aufgeladene Themen. «Die Überfremdung wird in der Schweiz seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder von rechten Parteien ins Gespräch gebracht, wobei die ‘Anderen’, die ja die Gefahr für die Schweiz darstellen sollen, stets wechseln: Einmal waren es die Kommunisten, dann die Juden und nach dem Zweiten Weltkrieg die Italiener oder die Ex-Jugoslawen.» Und heute seien es die Muslime, die nicht-EU-Migranten oder die «People of Colour», so Dahinden.

«Die Überfremdung wird in der Schweiz seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder von rechten Parteien ins Gespräch gebracht» Janine Dahinden, Professorin für transnationale Studien

Die Migrationsthemen seien in eine nationalstaatliche Logik eingebettet, um Zugehörigkeit zu definieren und zu betreiben. «Es geht immer um Abgrenzungen und die Frage: Wer gehört dazu und wer nicht?», sagt Dahinden. Diese Politik sei aber nicht natürlich gegeben, sondern die Grenzen würden immer wieder konstruiert und andere zu Fremden gemacht.

Frauenkörper als Politikum

Die Verpolitisierung des Frauenkörpers und seiner Erscheinung ist historisch nichts Neues. «Geschlecht und Sexualität waren immer zentrale Aspekte des Nationalismus, verknüpft mit dem Fremdheitsdiskurs», sagt Dahinden. Für sie steht hinter diesem Phänomen ein grundlegend sexistisches Konstrukt. «Eine Nation muss sich ja reproduzieren, und genau hier kommen die Frauen ins Spiel: Sie erhalten eine zentrale Rolle zugeschrieben, quasi als Hüterinnen der Nation, weil sie Kinder gebären, und diese neuen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aufziehen.» Und das heisse, dass die «eigenen Frauen» geschützt werden müssten. 

Diese Debatte sei nicht nur in der Schweiz zu beobachten, sondern auch anderswo in Europa, sagt Dahinden. Es sei eine ganz einfache Konstruktion, die überall reproduziert werde: «Da wird die Gleichstellung zu einem europäischen Wert hochstilisiert, gleich wie das Respektieren der Frauenrechte. So wird ein Gegensatz zu Nicht-Europäern oder Muslimen fabriziert, die in dieser Hinsicht als rückständig angesehen werden.» Dahinden bezeichnet dieses Phänomen als Gender-NativismusExterner Link. Dieser habe jedoch nichts mit der Realität zu tun, «weil wir wissen, dass in der Schweiz die Gleichstellung noch ganz weit weg ist». 

Ein universelles Phänomen

Anna Antonakis, die sich in ihrer Forschung mit der Aushandlung von Staat und Geschlecht im post-revolutionären Tunesien beschäftigt hat, verweist auf Parallelen: «Galt der traditionelle Schleier zum Beispiel für den ersten Staatschefs in Tunesien Habib Bourguiba noch als Symbol der Revolution gegen die Kolonialherrschaft und als Symbol tunesischer Identität, so sollte er als miserabler Stoff («misareble chiffon») nach der Gründung des modernen autoritären Staates aus öffentlichen Institutionen verbannt werden. Im Iran wie auch seinem geopolitischen Gegenspieler Saudi-Arabien gelte dagegen das Verschleierungsgebot. 

«Der Begriff ‹hypervisibility› beschreibt den Zustand, wenn Minderheiten in der Öffentlichkeit sehr stark präsent sind, aber selbst wenig zu Wort kommen.» Anna Antonakis

Das Ringen um die Definition der Erscheinung des Frauenkörpers sei daher nicht nur ein Spannungsfeld zwischen verschiedenen Kulturen, sondern ein universelles Phänomen. Dabei gehe es letztlich immer darum, Freiheiten zu beschneiden, und darum, dass die Entscheidung, wie Frauen sich zeigen dürften und welche Religionszugehörigkeit, sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität sie haben, von allen diskutiert und beurteilt werden könne. Das sei in muslimischen und in westlichen Ländern ähnlich, sagt Antonakis.

Das Dilemma des liberalen Rechtsstaats

Die promovierte Politologin erachtet eine Abstimmung über Freiheiten, die so stark polarisieren, als problematisch in einem Rechtsstaat, der die Religionsfreiheit und die freie Ausübung der Religion auch von Minderheiten schützen müsse. Die Perspektive der betroffenen Frauen käme kaum zur Sprache. In der Forschung wurde dafür der Begriff der «hypervisilibity» geprägt. «Als Minderheit kommen sie selbst wenig zu Wort, sind aber in der breiten Öffentlichkeit ganz stark präsent und extrem sichtbar», so Antonakis.

Dahinden fällt auf, dass in dieser Debatte (migrantische) muslimische Frauen nicht nur nicht angehört wurden, sondern grundsätzlich als politische Subjekte des liberalen Staats, mit individuellen Freiheitsrechten, negiert wurden. Das verletze einen fundamentalen Grundsatz der liberalen Demokratie. Sie würde sich einen revidierten, liberalen Blick wünschen, der es erlaubt, migrantische und muslimische Frauen als politische Subjekte und gleiche Bürgerinnen zu behandeln.

Laut der Analyse des Forschungszentrums für Gesellschaft und Öffentlichkeit der Externer LinkUniversität Zürich (Fög) wurde bei fast allen untersuchten Medien festgestellt, dass die Initiative zum Verhüllungsverbot viel mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als das E-IDGesetz und das Freihandelsabkommen mit Indonesien.

Die mediale Diskussion um das Verhüllungsverbot konzentrierte sich fast ausschließlich auf die religiöse Verhüllung in Form von Burka und Niqab «Damit wird deutlich, dass es in der aktuellen Diskussion vor allem um den (politischen) Islam und die Frage der Frauenrechte geht», schliesst die Studie.

Die Analyse des Forschungszentrums bewertet – pro Medium – die Resonanz und die Tonalität der verschiedenen Artikel, die im Vorfeld der Abstimmung über die Burka-Initiative in den Schweizer Medien veröffentlicht wurden.

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