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Warum die Erfassung von Femiziden eine globale Herausforderung darstellt

Frauen demonstrieren
Eine Kundgebung zum Gedenken an die Opfer von Femiziden in der Schweiz, in Lausanne im November 2016. © Keystone / Leo Duperrex

Weil zuverlässige Daten fehlen, sind Femizide in den meisten Ländern ein unterschätztes Phänomen. Die UNO haben Anfang März Empfehlungen für die statistische Erfassung von Femiziden verabschiedet. Die Idee dahinter: Man kann nur bekämpfen, was man messen kann.

Der Begriff Femizid galt früher als militant, weil er von der feministischen Bewegung vereinnahmt war. Heute wird das Konzept des Femizids, also die Ermordung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres weiblichen Geschlechts, von der UNO als «extremste und brutalste Form der Gewalt gegen Frauen» anerkannt. Die Vereinten Nationen wollen dieses Phänomen, das «alle Länder betrifft», ausmerzen. Doch es ist gar nicht so einfach, Femizide richtig zu identifizieren und zu messen.

Kritiker:innen sind der Meinung, dass es sich bei Femizid um einen leeren Begriff handelt und dass das Wort «Mord» ausreicht. Die Definition von Femizid überschneidet sich auch mit jener von «tödlicher häuslicher Gewalt». Einige feministische Kollektive wiederum fordern einen sehr weiten Begriff: Auch ungewollte Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts (etwa in Folge einer illegalen Abtreibung) sollen als Femizid angesehen werden.

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Weil man sich nicht auf eine Definition einigen kann, fehlen bisher auch zuverlässige und harmonisierte internationale Statistiken. Alle Organisationen, die sich gegen Gewalt an Frauen einsetzen, betonen jedoch, dass qualitativ hochwertige Daten von entscheidender Bedeutung sind.  

Wenn Geschlechter-Stereotypen zum Töten verleiten

Die Vereinten Nationen hoffen, Ordnung in all das zu bringen. Die UNO-Kommission für Statistik hat nach dreijähriger Arbeit am 4. März den «Statistischen Rahmen zur Messung der geschlechtsspezifischen Tötung von Frauen und MädchenExterner Link» verabschiedet. Bei der Vorstellung des Dokuments fasste die Exekutivdirektorin von UN Women, Sima Bahous, die Herausforderungen wie folgt zusammen: «Fehlende Daten sind ein grosses Hindernis im Kampf [gegen Femizide]. Es ist einfacher, gegen etwas vorzugehen, das wir messen können.»

Der neue Standard hat mehrere Ziele: «Femizide statistisch so umfassend wie möglich zu definieren», «die nationalen Behörden zu ermutigen, diese Daten zu erfassen» und «ihnen Richtlinien dafür zu geben», sagt Enrico Bisogno, Leiter der Abteilung Datenentwicklung und -verbreitung beim Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC), gegenüber SWI swissinfo.ch. Sein Team hat diese Empfehlungen in Zusammenarbeit mit UN Women ausgearbeitet.

Für den Statistiker ist es unerlässlich, über «methodisch korrekte» Daten zu verfügen. Denn sonst könnten Kritiker:innen sich einfach auf fehlende oder mangelhafte Daten berufen, um die Problematik insgesamt in Frage zu stellen.

Erster Schwerpunkt: Femizide einheitlich zu definieren. Nicht jeder Mord an Frauen und Mädchen ist ein Femizid, so die UNO. Ein Femizid muss sowohl vorsätzlich als auch geschlechtsspezifisch sein. Die «geschlechtsspezifische Motivation» bezieht sich nicht nur auf die individuelle Motivation des Täters, sondern auch auf tiefere, gesellschaftlich bedingte Ursachen.

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Das Dokument nennt unter anderem «die Ideologie (…) des Privilegs von Männern gegenüber Frauen, soziale Normen bezüglich Männlichkeit» oder auch «das Bedürfnis (…), Geschlechterrollen durchzusetzen». «Diese Faktoren können Tätergewalt auslösen, wenn das Verhalten einer Frau als nicht konform wahrgenommen wird.»

Marker für Femizid

Zweiter Schwerpunkt: Festlegung von Kriterien, um den Einfluss des Geschlechts zu objektivieren. Dieses entscheidende Merkmal von Femiziden ist auch das am schwersten messbare.

Derzeit sammelt das UNODC von den Ländern Zahlen zu häuslicher GewaltExterner Link, und diese Daten sind die Grundlage für internationale Vergleiche. Mit diesen Daten kann man sich am ehesten einer Darstellung des Phänomens annähern.

Die meisten Morde an Frauen, die im privaten Bereich begangen werden, sind Femizide, da sie auf soziale Geschlechternormen zurückzuführen sind. Tötungsdelikte in einer Paarbeziehung «sind oft mit dem Bedürfnis verbunden, die männliche Kontrolle zu bestätigen», heisst es im UNO-Dokument. Werden Frauen von anderen Familienmitgliedern umgebracht, handelt es sich häufig um so genannte Ehrenmorde oder Tötungen im Zusammenhang mit einer Mitgift, haben also ebenfalls mit gesellschaftlichen und kulturellen Normen zu tun.

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Das UNODC sagt selbst, die von ihnen erhobenen Daten seien mit Vorsicht zu geniessen. Die Länder verwenden unterschiedliche Indikatoren und Variablen, was internationale Vergleiche fast unmöglich macht. Darüber hinaus melden einige Länder lückenhafte Daten und andere gar keine.

Die Zahlen bilden Femizide aber vor allem deshalb ungenügend ab, weil weltweit nur 60 Prozent aller Morde an Frauen im privaten Bereich begangen werden, gibt Statistiker Bisogno zu bedenken. Das führe zu einer Unterschätzung des Phänomens.

Weltweit wurden gemäss Daten des UNODC im Jahr 2020 rund 81’000 Frauen und Mädchen getötet, davon 47’000 (58%) im privaten Bereich.

Feministische Kollektive, Forschungsgruppen und Medien sind der Meinung, dass die Statistiken über häusliche Gewalt das Phänomen des Femizids nicht vollständig erfassen. Deshalb haben sie eigene Erfassungsarten initiiert, darunter Stop FemizidExterner Link in der Schweiz,  Femicide CensusExterner Link in Grossbritannien, die Zeitung LibérationExterner Link in Frankreich, die Organisation Casa delle donne per non subire violenzaExterner Link in Italien, feminicidio.netExterner Link in Spanien, der Blog Stop FemizidExterner Link in Belgien, femicid.netExterner Link in Russland und so weiter.

Jede dieser privaten Initiativen wendet jedoch ihre eigene Methode an. Einige zählen alle von Männern getöteten Frauen, unabhängig von den Umständen, was das UNODC für nicht korrekt hält.

Die neuen UNO-Richtlinien empfehlen, Morde an Frauen im häuslichen Bereich weiterhin standardmässig als Femizide zu betrachten. Zusätzlich empfehlen sie, acht Merkmale zu berücksichtigen, die sich auf den Kontext des Verbrechens oder die Vorgehensweise beziehen und als Marker für die geschlechtsspezifische Dimension eines Verbrechens gelten.

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Die UNO hofft, dass Staaten und Nichtregierungsorganisationen diesen statistischen Standard übernehmen werden. Sie sind dazu angehalten, aber eine Verpflichtung gibt es nicht. «Auf jeden Fall wird es nicht von heute auf morgen geschehen», so Bisogno.

«Wir wissen, dass die Länder Zeit und Ressourcen, auch finanzielle, benötigen werden, da sie die Art und Weise ändern müssen, wie sie Informationen von der Polizei und der gesamten Strafverfolgungskette sammeln», so der Statistikspezialist des UNODC. Die Organisation wird die Länder in dieser Umsetzungsphase unterstützen.

Wie sieht es in der Schweiz aus?

Die Schweiz ist seit 2018 Mitglied der Istanbul-KonventionExterner Link zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Bei häuslicher Gewalt liegt sie im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Mit 0,48 pro 100’000 ist die Rate der Frauen, die in einer Paar- oder Familienbeziehung getötet werden, hier niedriger als in Finnland oder Deutschland, aber höher als in Frankreich oder Italien.

Obwohl Ermordungen in absoluten Zahlen in der Schweiz selten sind, ist der Anteil der Tötungen in Paarbeziehungen mit 40% hoch, sagt Sina Liechti, Kommunikationsbeauftragte des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBGExterner Link). 

Eine kürzlich von der Schweizer Regierung in Auftrag gegebene StudieExterner Link zeigt, dass die überwältigende Mehrheit der Tötungsdelikte in Paarbeziehungen von Männern begangen werden (90%) und Frauen die Opfer sind (96%). Obwohl alle anderen Arten von Tötungsdelikten in den letzten 25 Jahren zurückgegangen sind, ist die Zahl der Tötungen in Beziehungen stabil geblieben.

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2016 analysierte die in Genf ansässige NGO Small Arms Survey gewaltsame Tode auf Genderaspekte hin. Die AnalyseExterner Link stellte fest, dass die Schweiz eines der wenigen entwickelten Länder war, in denen Frauen häufiger getötet werden als Männer. Diese Aussage trifft auch heute noch zu.

Die Schweiz ist eine Musterschülerin, was die Datenerfassung betrifft: Sie stellt polizeiliche StatistikenExterner Link bereit (aus denen auch die obige Grafik stammt), die Tötungen bereits nach Beziehung, Geschlecht und Alter ausweisen. So lässt sich ablesen, ob die Tötung innerhalb oder ausserhalb des häuslichen Bereichs erfolgte, welches Geschlecht Täter und Opfer hatten und in welcher Beziehung sie zueinanderstanden. In dieser Hinsicht entsprechen die Daten bereits den UNODC-Standards.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Pauline Turuban

Was wären wirksame Massnahmen zur Bekämpfung von Femiziden?

Wie kann man verhindern, dass Frauen und Mädchen wegen ihres Geschlechts getötet werden?

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Die Schweiz begrüsst im Allgemeinen den neuen UNO-Rahmen. Es müsse ein gemeinsamer statistischer Ansatz definiert werden, um Vergleiche zu ermöglichen und eine auf Beweisen basierende Entscheidfindung zu unterstützen. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie die Umsetzung in der Praxis gelingt. Eine Angleichung an die UNO-Empfehlungen habe rechtliche und praktische Auswirkungen, die noch analysiert werden müssten, schreiben die verschiedenen betroffenen Abteilungen im Bundesamt für Statistik (BFS) auf Anfrage von SWI swissinfo.ch.

«Sowohl der Bund als auch die kantonalen Polizeibehörden sind sensibilisiert und werden Lösungen finden müssen, um das Phänomen der Femizide in seiner Ganzheit identifizieren und melden zu können», so das BFS. Dies erfordere Mittel und eine Sensibilisierung bereits an den Tatorten. Die Art und Weise, wie die Polizei die einen Femizid konstituierenden Elemente des Kontexts sammle und melde, müsse angepasst werden. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob dies technisch und faktisch möglich sein wird. In diesem Jahr sind Arbeiten zu diesem Thema geplant.

In Europa ist Spanien bei der Anerkennung und Erfassung von Femiziden führend, wie aus einem Artikel der Zeitung Le MondeExterner Link hervorgeht. Es gibt Gerichte, die auf geschlechtsspezifische Gewalt spezialisiert sind. Anfang Jahr hat Spanien zudem eine genauere Methode zur Zählung von Femiziden eingeführt. Diese Delikte werden in fünf Kategorien eingeteilt, die weitgehend den acht Variablen entsprechen, welche die UNO zur Berücksichtigung empfehlen.

Nationale Besonderheiten finden sich auch in den Strafgesetzbüchern. In einigen wenigen Ländern, hauptsächlich in Lateinamerika, verfügt der Femizid über eine eigene rechtliche Qualifizierung. Die Definition unterscheidet sich jedoch von Land zu Land.

Entweder wird der Femizid als spezifisches Verbrechen anerkannt (Chile, Ecuador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama, Dominikanische Republik, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Costa Rica, El Salvador, Mexiko, Peru) oder der Genderaspekt wird als erschwerender Umstand bei einem Delikt gewertet (Argentinien, Venezuela).

In keinem Land der europäischen Union und auch nicht in der Schweiz gibt es eine strafrechtliche Definition von Femizid. Dies wird sich in absehbarer Zeit wohl auch nicht ändern. Zwar sind die statistische Erfassung und die rechtliche Einordnung von Femiziden zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Es wird jedoch vorgebracht, dass sich das Phänomen besser bekämpfen lasse, wenn Femizid strafrechtlich anerkannt würde.

Sibilla Bondolfi

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